Zusammenfassung
Die öffentlichen Finanzen in den Regionen Russlands haben seit 2012 eine wichtige Transformation durchlaufen. Die Struktur der Einnahmen sind zwar 2012–2019 relativ stabil gewesen, doch hat sich die Ausgabenstruktur verändert, zum Teil wegen neuer, nicht gegenfinanzierter Mandate in den Bereichen Bildung und Gesundheit und zum Teil wegen des verstärkten Einsatzes außerbudgetärer Fonds. Die Zentralregierung zeigt sich in ihrer Transferpolitik nun weniger großzügig, wodurch eine Reihe Regionen zu einer erheblichen Erhöhung ihrer Verschuldung oder einer Kürzung der Sozialausgaben gezwungen wird. Die Transparenz des subnationalen Finanzsystems hat sich ebenfalls verringert, weil vermehrt Haushaltskredite und politisch motivierte Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt eingesetzt werden, unter anderem neue Formen frei verfügbarer, nicht zweckgebundener Fördermittel und »anderer Transfers«. In den Regionen, in denen 2020 Gouverneurswahlen stattfanden, scheint es keine umfassende Transferpolitik gegeben zu haben, die speziell auf diese Regionen ausgerichtet gewesen wäre. Dafür nahmen dort intransparente Formen föderaler Unterstützung zu.
Die wichtigsten Finanztrends in den Regionen Russlands (2012–2019)
Grafik 1 unten zeigt die Entwicklung der nominalen Einnahmen und Ausgaben der konsolidierten Regionalhaushalte seit 2012. Ein konsolidierter regionaler Haushalt wird in Russland als Summe des regionalen Haushalts und der entsprechenden kommunalen Haushalte gerechnet, einschließlich der Haushalte der Städte, Stadtbezirke, kommunalen Kreise sowie der städtischen und ländlichen Siedlungen. Ein klarer Trend besteht darin, dass die regionalen Ausgaben nach Präsidentschaftswahlen gewöhnlich ansteigen. Sie sind in den Zeiträumen 2012 – 2014 und 2018 – 2019 beständig gewachsen. Die Krise von 2014/15 hatte die Regionalregierungen daran gehindert, dieses Tempo aufrecht zu erhalten.
Die Ausgaben der konsolidierten Haushalte sind – inflationsbereinigt – in den beiden Krisenjahren in der Tat zurückgegangen. Ein weiterer bemerkenswerter Trend besteht darin, dass sich die Regionalregierungen 2012 – 2015 im Schnitt einem Haushaltsdefizit gegenübersahen. Das legt nahe, dass einige der Verpflichtungen, die den Regionen 2012 durch Präsidialerlasse (die sogenannten Mai-Dekrete) auferlegt wurden, Mandate darstellten, die nicht entsprechend gegenfinanziert waren. Selbst nach dem Erhalt von Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt, mit denen die erhöhten Ausgaben gedeckt werden sollten, mussten einige Regionen eine Defizitfinanzierung und unterschiedliche Schuldeninstrumente einsetzen, um die Kluft zwischen ihren Einnahmekapazitäten und den erforderlichen Ausgaben zu überbrücken. Nach 2015 waren die konsolidierten regionalen Haushalte insgesamt meist ausgeglichen oder wiesen einen geringen Überschuss aus. Dieses Paradoxon lässt sich zum Teil durch den Umstand erklären, dass die reichsten Regionen, unter anderem Moskau, St. Petersburg und die ölfördernden Regionen in dieser letzten Phase einen Überschuss aufwiesen. Zudem begannen nach 2017 Transferzahlungen aus dem föderalen Haushalt eine größere Rolle zu spielen.
Einnahmen
Seit den frühen 2000er Jahren sind die Einkommensteuer und Gewinnsteuern der Unternehmen zwei wichtige Quellen der konsolidierten regionalen Einnahmen gewesen. Gemäß dem Haushaltsgesetzbuch Russlands sind diese Steuern zwar föderal, doch fließen die Einnahmen hieraus dann nahezu gänzlich in die regionalen und lokalen Haushalte (15 % der Einnahmen aus der Gewinnsteuer verbleiben im Zentralhaushalt). Insgesamt machen sie über die Hälfte aller konsolidierten regionalen Einnahmen aus. Die Haushaltstransfers aus dem Zentralhaushalt sind die drittgrößte Einnahmequelle und bewegen sich zwischen 15 und 20 Prozent. Vermögenssteuern sind für die regionalen und lokalen Haushalte in Russland sehr viel weniger wichtig als in den meisten anderen Staaten mit föderalem Aufbau. Insgesamt machen Vermögenssteuern von Unternehmen und Privatpersonen wie auch Grundsteuern nur etwas mehr als 10 Prozent der konsolidierten regionalen Einnahmen aus, während Verbrauchssteuern, vor allem auf Benzin und alkoholische Getränke (außer Branntwein), weitere 5 Prozent zu den regionalen und lokalen Einnahmen beitragen. Insgesamt entfallen auf diese fünf Quellen rund 85–90 Prozent der konsolidierten regionalen Einnahmen. Zu anderen Einnahmearten, die für einige Regionen wichtig sind, gehören die Fördersteuer auf mineralische Rohstoffe – auch wenn der Anteil auf Öl und Gas Mitte der 2000er Jahre fast vollständig "zentralisiert" wurde – sowie verschiedene Gebühren und Abgaben.
Grafik 2 illustriert die Zusammensetzung der konsolidierten öffentlichen regionalen Einnahmen 2012 – 2019, die die Einnahmen sowohl der Regionen wie auch der Kommunen umfassen.
Grafik 2: Struktur der regionalen öffentlichen Einnahmen, 2012–2019 (%)
Grafik 2: Struktur der regionalen öffentlichen Einnahmen, 2012–2019 (%)
Die Struktur der regionalen und lokalen Einnahmen ist zwar relativ stabil gewesen, doch sind zwei Trends bemerkenswert. Zum einen sind die Gewinnsteuern der Unternehmen eine volatilere Einnahmequelle gewesen als die Einkommensteuer. 2013 war der Anteil der Gewinnsteuer von 25 auf fast 20 Prozent zurückgegangen, verharrte dann in den Krisenjahren 2014/15 auf diesem Niveau und erreichte erst 2018 wieder die 25 Prozent. Im Vergleich zur Mitte der 2000er Jahre, als der Anteil bei über 30 Prozent lag, hat es also einen beträchtlichen Rückgang gegeben, der den allgemeinen wirtschaftlichen Abschwung der russischen Wirtschaft in den 2010er Jahren widerspiegelt. Zweitens ist bei den konsolidierten regionalen Einnahmen der Anteil der Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt zurückgegangen und hat (etwas überraschend) von 2014 bis 2016 den stärksten negativen Schock erfahren – in einer Zeit, als die Wirtschaft stagnierte. Michael Alexeev und Andrey Chernyavskiy haben 2018 aufgezeigt, dass die Zentralregierung in der Krise von 2014/15 sehr viel weniger großzügig reagierte als 2009, als Russland die heftigsten Nachbeben der Großen Rezession erlebte: Mitte der 2010er Jahre hatten insbesondere ärmere Regionen darunter zu leiden, dass finanzielle Hilfe aus dem Zentrum ausblieb. Eine andere Erklärung für die zurückgehenden Transferzahlungen wäre, dass Moskau seine föderale Fiskalstrategie geändert hat und jetzt andere, gewöhnlich weniger transparente Instrumente zur Finanzierung der Regionen einsetzt, auch Kredite des Zentralhaushalts (siehe weiter unten den Abschnitt Verschuldung ).
Ausgaben
Nach der Unterzeichnung der Mai-Dekrete von 2012, die die Regionen unter anderem dazu verpflichteten, die Gehälter von Lehrern, Ärzten und anderen öffentlichen Angestellten zu erhöhen, war erwartet worden, dass die regionalen Ausgaben, insbesondere die für Humankapital, erheblich steigen würden. Allerdings stabilisierte sich die Anteile der Aufwendungen für Bildung und Gesundheit – nachdem sie 2012 – 2013 anfänglich angestiegen waren, was bei den Gesundheitsausgaben nur 2012 der Fall war – bei 26 bzw. 14 Prozent der Gesamtausgaben. Bemerkenswert ist, dass dann der Anteil der Gesundheitsausgaben drastisch zurückgegangen ist, nämlich von 13 auf unter 8 Prozent im Jahr 2017 (s. Grafik 3 auf S. 17). Der Grund für diese dramatische Veränderung war, dass die meisten Gesundheitsausgaben jetzt aus außerbudgetären Quellen finanziert wurden (insbesondere aus dem Fonds der medizinischen Pflichtversicherung): 2017 wurden 1,9 der insgesamt 2,9 Billionen Rubel der regionalen Gesundheitsausgaben aus außerbudgetären Fonds finanziert. Das gab der Zentralregierung, die diese Fonds de facto verwaltet, mehr Kontrolle und Entscheidungsfreiheit in Bezug auf den Gesundheitssektor an die Hand. Gleichzeitig stiegen die regionalen Ausgaben für soziale Sicherung von 17 auf 20 Prozent der Gesamtausgaben (von 2,2 auf 2,4 Billionen Rubel). Wiederum könnten die politischen Konjunkturzyklen eine plausible Erklärung hierfür sein: Schließlich war 2017 das Jahr vor den Präsidentschaftswahlen von 2018, und die Regionalregierungen wurden als Dienstleister der Zentralregierung eingespannt, die die dringend benötigte finanzielle Unterstützung an die Menschen verteilen sollten. Andere Ausgabenbereiche sind 2012 – 2019 relativ stabil gewesen. Die Ausgaben für die Wirtschaft (meist Straßen und Fernstraßenbau) und das Wohnungswesen (vor allem kommunale Versorgungsunternehmen) bewegten sich im Bereich von 20 bzw. 10 Prozent.
Transferzahlungen
Grafik 3: Struktur der regionalen Ausgaben, 2012– 2019 (© bpb)
Grafik 3: Struktur der regionalen Ausgaben, 2012– 2019 (© bpb)
Die Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt stellten 2012 – 2019 die instabilste Einnahmequelle der konsolidierten regionalen Haushalte dar. Während sich ihr Gesamtumfang nicht sonderlich veränderte, hat sich die Zusammensetzung der Transferzahlungen ganz beträchtlich gewandelt, wie aus Grafik 4 rechts deutlich wird. Seit den frühen 2000er Jahren hat die Zentralregierung sowohl frei verfügbare wie auch zweckgebundene Haushaltstransfers eingesetzt, um die Regionen zu unterstützen und die Politik des Zentrums auf subnationaler Ebene umzusetzen. Ursprünglich waren frei verfügbare Transfers (dotazii ) als formelbasierte Zuschüsse dazu gedacht, die Haushaltskapazitäten der Regionen auszugleichen, ohne dass irgendwelche Ausgabenbeschränkungen errichtet wurden. Mit der Zeit unterteilte die Zentralregierung die nicht zweckgebundenen Transferzahlungen in formalbasierte Ausgleichstransfers (dotazii na wyrawniwanie bjudshetnoj obespetschennosti ) und frei verfügbare Transfers zur Herstellung ausgeglichener Haushalte (dotazii na obespetschenije sbalansirowannosti bjudshetow ), die monatlich oder vierteljährlich aufgrund von Verfügungen der Zentralregierung zugeteilt wurden. Es liegt auf der Hand, dass der zweite Typ viel weniger transparent und stärker politisch motiviert war. Diese letzteren Transfers sind während der Krise von 2009 umfangreich eingesetzt worden und machten in der Spitze 19 Prozent aller Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt aus (2014). Später allerdings ging ihr Anteil drastisch zurück, nämlich auf nur 2 Prozent im Jahr 2019. Grund hierfür war nicht der erhöhte Einsatz von formelbasierten Ausgleichstransfers (auch wenn deren Anteil von 24 Prozent 2012 auf 36 Prozent 2017 zunahm), sondern die Schaffung einer Reihe neuer Arten nicht zweckgebundener Transfers im Jahr 2017. Einige dieser neuen Transferarten, die bis 2019 über 8 Prozent aller föderalen Transferzahlungen ausmachten, waren regionenspezifisch und naturgemäß politischer Art (etwa spezielle Transferzahlungen nach Tschetschenien oder auf die Krim), andere waren ihrem Charakter nach zweckgebunden (z. B. Transfers, mit denen die Gehälter von öffentlichen Angestellten erhöht werden sollten) und untergruben allein schon die Idee eines nicht an Bedingungen gebundenen Ausgleichs. Insgesamt wuchs der Anteil nicht zweckgebundener Transferzahlungen von 32 Prozent 2012 auf 49 Prozent 2018; ein Jahr später war er wieder auf 38 Prozent gefallen. Berechenbarkeit und Transparenz, zwei höchst wichtige Prinzipien in einem Bundesstaat mit verschiedenen staatlichen Haushalten, sind in Russland Mitte der 2010er Jahre eindeutig verletzt worden. Zuschüsse, der meistverbreitete Typ zweckgebundener Transferzahlungen, die früher eine Ko-Finanzierung regionaler Kapitalausgaben darstellten, indem entsprechende Mittel aus dem Zentralhaushalt bereitgestellt werden, nehmen tendenziell mit der Zeit ab. Nachdem es in den Jahren nach Präsidentschaftswahlen (insbesondere 2012/13) positive Schübe gegeben hatte, pendelten sie sich auf einem anhaltenden Niveau von rund 22–23 Prozent aller föderalen Transfers ein. Eine andere beunruhigende Tendenz, die auf potenzielle politische Einflüsse zurückgeführt werden könnte, ist der rapide Anstieg des Anteils "anderer Transfers". Diese Transfer-Kategorie war vor den 2010er Jahren fast zu vernachlässigen gewesen, umfasste dann aber auch einige frühere Zuschüsse (subsidii ) und Subventionen (subwenzii) , die zweckgebunden die Verpflichtungen der Zentralregierung (ko-)finanzieren sollten, die an die Regionen übertragen worden waren) und wuchs im Laufe der 2010er Jahre an, wobei sie 2019 mit 23 Prozent aller Transfers ihren höchsten Anteil erreichte. Andere Transferzahlungen sind weniger transparent als Zuschüsse und Subventionen, da sie erstens jährlich festgesetzt werden und daher weniger berechenbar sind; zweitens zur Finanzierung kurzfristiger Projekte eingesetzt werden, oft Mittel aus dem Reservefonds des Präsidenten umfassen und anstelle eines langfristigen Regierungsprogramms erfolgen; drittens ihrer Natur nach willkürlich sind und politischen Zwecken dienen können; und viertens die regionale Haushaltsautonomie untergraben, weil sie im Unterschied zu Zuschüssen keine Ko-Finanzierung erfordern. Insgesamt ist die Zusammensetzung der Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt noch intransparenter und empfänglicher für politische Manipulationen geworden, was einen weiteren Schritt in Richtung einer Zentralisierung des Haushaltswesens und einer Reduzierung der regionalen und lokalen Autonomie bedeutet.