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Analyse: Wie wird die Ungleichverteilung der Einkommen in Russland gemessen? Anmerkungen zu den Datenquellen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Wie wird die Ungleichverteilung der Einkommen in Russland gemessen? Anmerkungen zu den Datenquellen

Ilya Matveev

/ 9 Minuten zu lesen

Straßenszene in Krasnojarsk: Russland hat 144,5 Millionen Einwohner. 21 Millionen davon leben unter der Armutsgrenze von umgerechnet 125 Euro pro Monat. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Die Ungleichverteilung der Einkommen in Russland werden zunehmend in der Wissenschaft und der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Unterschiedliche Datenquellen führen allerdings zu unterschiedlichen Bewertungen. Folgt man Haushaltsbefragungen, entsprechen die Einkommensunterschiede in Russland denen in europäischen Ländern.

Die offiziellen Zahlen aus Russland liegen höher und weisen auf ein Ungleichheitsniveau hin, das eher dem in den Vereinigten Staaten nahekommt. Versuche, die Umfragedaten durch Steuererklärungen zu erhärten, ergeben sogar noch höhere Werte, die Russland unter den Staaten mit der größten Ungleichheit rangieren lassen.

Die öffentliche Debatte über Ungleichheit in Russland

Wirtschaftliche Ungleichheit steht seit mehreren Jahren weltweit im Fokus der öffentlichen Debatten. Russland ist da keine Ausnahme.

In den 1990er Jahren wurde Ungleichheit im Kontext der traumatischen Folgen des Übergangs zum Kapitalismus breit diskutiert. Im darauffolgenden Jahrzehnt wurde die Debatte etwas stiller. Der Kreml sprach lieber Fragen der Armut an, als solche der Ungleichheit: Es war leicht, das Thema Ungleichheit dadurch zu umgehen, dass man sich auf bemerkenswerte Erfolge in den 2000er Jahren bei der Armutsbekämpfung konzentrierte. Die Opposition wiederum war überwiegend liberal gesonnen und sprach lieber die Gefahr für Eigentumsrechte an, die von den allmächtigen Silowiki ausging, nicht aber Ungleichheit, ein Thema, das für viele Liberale den Geruch von Populismus trug. Mitte der 2010er Jahre begann sich die Situation allerdings zu ändern. Anders als andere liberale Opponenten des Kreml scheute sich Alexej Nawalnyj bei seinen Antikorruptionskampagnen nicht, eine populistische Sprache zu verwenden. Er kritisierte jetzt auch die Besitzer der größten Unternehmen des Landes, die sogenannten Oligarchen, und nicht nur, wie zuvor, Spitzenbeamte. Die neue populistische Linie kumulierte in dem Slogan, den Nawalnyj 2018 bei den Präsidentschaftswahlen intensiv in seinem Wahlkampf einsetzte: "Ein Wohlstand für alle, und nicht Reichtum für 0,1 %". Durch Nawalnyjs Kampagnen hielt die Rhetorik der Occupy Wall Street -Bewegung auch in Russland Einzug. Wladimir Putin war gezwungen zu reagieren. In seiner jährlichen Pressekonferenz meinte er 2018: "Sprechen wir nun von der Kluft [bei den Einkommen]. Zum einen gibt es sie leider. Zweitens ist das – wiederum leider – ein globaler Trend. Jedenfalls ist es das, was in großen Volkswirtschaften geschieht." Putin kehrte dann allerdings schnell wieder zum Thema Armut zurück: "Natürlich müssen wir das berücksichtigen. Zumindest müssen wir die Anzahl der Armen verringern." Gleichwohl war das Thema Ungleichheit fest auf der Tagesordnung.

Ungleichverteilung der Einkommen in Russland: Ein Vergleich der Datenquellen

Für eine ernsthafte Diskussion des Themas Ungleichheit sind verlässliche Zahlen erforderlich. Im Falle Russlands sind solche Ziffern allerdings nur schwer zu erlangen. Ein übliches Maß für Ungleichverteilung der Einkommen ist der Gini-Koeffizient. Der jüngste Gini-Wert von Rosstat , dem russischen Amt für Statistik, liegt bei 0,411 für das Jahr 2018. Das ist nach internationalen Maßstäben ein recht hoher Wert, vergleichbar mit dem Wert für die USA. In einem 2018 erschienen Artikel nannten Filip Novokmet, Thomas Piketty und Gabriel Zucman eine sehr viel höhere Ziffer, nämlich 0,545 für das Jahr 2015. Das ließe Russland unter Ländern wie Brasilien oder Südafrika rangieren, in denen die Ungleichheit mit am stärksten ist. Wenn wir jedoch den Gini-Koeffizienten direkt aus den Daten der Haushaltsbefragungen ermitteln, und zwar ohne weitere Transformierung (mehr hierzu weiter unten), dann liegt der Wert bei rund 0,31, also niedriger, und nicht höher als die offizielle Berechnung. Das entspräche dem Ungleichheitsniveau in entwickelten Ländern wie Deutschland oder Frankreich mit einem starken Wohlfahrtsstaat.

Unabhängig von einem bestimmten Ungleichheitsniveau zu einem bestimmten Zeitpunkt (was einen internationalen Vergleich ermöglicht) besteht auch die Frage, wie sich Trends beziffern lassen. Ein dynamisches Bild der Ungleichheit ermöglicht es, die zugrunde liegenden ökonomischen, sozialen und politischen Faktoren besser zu verstehen. Im Falle Russlands ergeben sich aus unterschiedlichen Datenquellen hinsichtlich der Trends nicht nur unterschiedliche, sondern geradezu entgegengesetzte Zahlen. So haben beispielsweise Forscher der Weltbank, die sich auf Daten des Russian Longitudinal Monitoring Survey der Higher School of Economics in Moskau (RLMS-HSE) stützten, für die 2000er Jahre einen beträchtlichen Rückgang der Ungleichverteilung festgestellt, der von dem starken Wirtschaftswachstum bewirkt wurde. Thomas Remington hingegen hat "einen beharrlichen Trend steigender Ungleichheit seit den frühen 1990er Jahren festgestellt, der von Rezessionsphasen lediglich unterbrochen wurde". Diese Tendenz wird durch Daten von Rosstat bestätigt. Wer hat nun Recht? Wie groß ist die Ungleichheit in Russland tatsächlich, und wie verändert sie sich mit der Zeit?

Es gibt drei Quellen für empirische Informationen, die eine Berechnung der Ungleichverteilung der Einkommen ermöglichen: Haushaltsbefragungen, Steuerdaten und makroökonomische Daten. Derzeit sind Haushaltsbefragungen der goldene Standard. Allerdings haben sie die wohlbekannte Schwäche, dass Spitzenverdiener dabei unterrepräsentiert sind, weil sie für Befragungen weitgehend unerreichbar sind. Dieser Nachteil kann zum Teil dadurch wettgemacht werden, dass die Daten aus den Befragungen um makroökonomische Daten (die das allgemeine Niveau der wirtschaftlichen Aktivität aufzeigen) erweitert werden – wie auch insbesondere durch Steuerdaten (durch die Spitzenverdiener sehr viel besser als durch Haushaltsbefragungen erfasst werden). Allerdings sind öffentlich zugängige Steuerdaten in ihrem Umfang begrenzt, was die Zuverlässigkeit der letztlich von den Forschern ermittelten Ungleichheit beeinträchtigt. Ich werde im Weiteren die drei Datenquellen zur Ermittlung der Ungleichheit, die in Russland zur Verfügung stehen, erörtern und deren Ergebnisse vergleichen.

Es gibt drei Haushaltsbefragungen in Russland, die Informationen zu den Einkommen erheben. Zwei werden von Rosstat durchgeführt, nämlich die vierteljährlichen "Studien zu den Budgets der Haushalte" (OBDCh; Household Budget Survey – HBS) und die alljährliche "Stichprobenartige Untersuchung der Einkommen der Bevölkerung und der Teilnahme an Sozialprogrammen" (WNDN; engl.: Survey on Incomes and the Participation in Social Programs – SIPSP ). Darüber hinaus führt die Higher School of Economics alljährlich das Russian Longitudinal Monitoring Survey (RLMS) durch. Alle drei Befragungen folgen unterschiedlichen Methodologien. Die HBS und die SIPSP verwenden große Stichproben (50.000 – 60.000). Sie werden in allen Regionen Russlands durchgeführt. Während die SIPSP eine direkte Frage zum Geldeinkommen der Haushalte umfasst, ermittelt die HBS die Einkommen indirekt, indem die Ausgaben, Kredite und Ersparnisse der Haushalte aufaddiert werden. Das RLMS ist eine sehr viel kleinere Befragung mit einer Stichprobe von 4.000 – 5.000 Haushalten. Es unterscheidet sich vom HBS und vom SIPSP dadurch, dass es hier eine Panel-Komponente gibt: Dieselben Haushalte werden mehrfach befragt. Die Mikrodaten für alle drei Umfragen sind online verfügbar. Grafik 1 auf S. 9 zeigt die auf den Mikrodaten basierenden Gini-Werte. Das RLMS wird seit 1994 alljährlich durchgeführt; Ausnahmen sind die Jahre 1997 und 1999. Die HBS wird seit der Sowjetzeit vorgenommen, allerdings sind die Mikrodaten erst ab 2003 verfügbar. Die SIPSP schließlich wird seit 2011 durchgeführt, mit einer Pause im Jahr 2012.

Es ist bemerkenswert, dass ungeachtet der wichtigen methodologischen Unterschiede alle drei Umfragen recht ähnliche Ergebnisse aufweisen, sowohl hinsichtlich der Trends, als auch der tatsächlichen Zahlen. Alle drei Umfragen zeigen ab 2000 eine beträchtliche Abnahme der Ungleichheit. Um die Natur dieses Rückgangs zu ermitteln, habe ich für jedes Zehntel-Segment die Änderung beim Anteil am Gesamteinkommen berechnet, basierend auf der HBS und dem RLMS von 2003 bis 2018 (2003 ist das erste Jahr, für das HBS-Mikrodaten verfügbar sind; die SIPSP wurde nicht berücksichtigt, weil sie erst vor relativ kurzer Zeit gestartet wurde und der Vergleichszeitraum zu kurz ist). Die Berechnungen werden in den Grafiken 2 und 3 auf S. 9 dargestellt.

Wiederum weisen beide Umfragen bemerkenswert ähnliche Ergebnisse auf: Die seit 2003 erfolgten Rückgänge bei der Ungleichverteilung lassen sich weitgehend durch den abnehmenden Einkommensanteil des obersten Zehntels erklären. Dieses Ergebnis ist allerdings noch problematisch, da die Spitzeneinkommen in den Umfragedaten unterrepräsentiert sind. Um die Dimension dieses Problems festzustellen, habe ich für 2018 die Durchschnitts- und Medianeinkommen für die Gesamtbevölkerung wie auch die Durchschnittseinkommen der Gruppe der obersten 10, 1 und 0,1 Prozent berechnet, wobei ich Daten aller drei Umfragen hinzuzog. Die Angaben sind in Rubeln und Euro (Tabelle 1 auf S. 10); es wird das individuelle Monatseinkommen dargestellt (Einkommen des Haushalts geteilt durch die Anzahl der Haushaltsmitglieder).

Diese Werte verdeutlichen, dass in den Umfragen an der Spitze der Einkommensverteilung eher die erfolgreiche Mittelschicht repräsentiert ist als die wirklich Reichen. Insgesamt können die Daten der Umfragen so interpretiert werden, dass sie die geringen bis mittleren Einkommen widerspiegeln, wobei die Spitzenverdiener in keiner Weise berücksichtigt sind. Rosstat erkennt dies an und passt die Daten der HBS mit Hilfe des Durchschnittseinkommens an, welches aus makroökonomischen Statistiken berechnet wird. Der Gini-Koeffizient, der sich hier ergibt, ist höher als jener, der sich auf Umfragedaten gründet, doch stellt sich der langfristige Trend in der Tat so dar, dass – wie Remington behauptet – die Ungleichheit zunimmt, insbesondere in Phasen eines starken Wirtschaftswachstums.

Was sagen Steuerdaten über Einkommensungleichheit aus?

Schließlich haben diverse Forscher versucht, die Daten aus den Umfragen um Steuerdaten zu erweitern. Der bekannteste Versuch wurde von Novokmet, Piketty und Zucman unternommen. Diese Autoren wurden allerdings von Rostislaw Kapeluschnikow kritisiert, einem bekannten russischen Wirtschaftswissenschaftler, weil sie bei der Anpassung durch die verfügbaren Steuerdaten (die in der Tat sehr begrenzt sind) gewissen problematischen Annahmen gefolgt seien. Ein weiterer Versuch von Kristina Butajewa ergab eine Berechnung, die der von Novokmet et al. nahekommt, nämlich einen Gini-Koeffizienten von 0,53 für das Jahr 2014. Und 2006 hatten dann Sergej Gurjew und Andrej Ratschinskij die geleakten Steuerdaten Moskauer Bürger analysiert und gelangten sogar zu noch höheren Werten, nämlich einem Gini-Koeffizienten von 0,63 für das Jahr 2004. In Grafik 4 auf S. 10 sind die Daten aus den Umfragen um diese Berechnungen ergänzt worden.

Grafik 4 verdeutlicht, dass die offiziellen Zahlen von Rosstat und insbesondere die Berechnungen aufgrund der Steuerdaten sehr viel höher liegen als die rein umfragebasierten Berechnungen. Die Richtung des Trends ist allerdings unklar. Während die Daten aus den Umfragen einen allmählichen Rückgang der Ungleichheit zeigen, weisen die Daten von Rosstat einen allmählichen Anstieg aus. Bei den steuerbasierten Berechnungen umfasst nur die Studie von Novokmet et al. Daten über mehrere Jahre hinweg. Allerdings hat der Föderale Steuerdienst erst 2008 begonnen, Statistiken zu Steuererklärungen zu veröffentlichen, die Quellen für die Berechnungen von Novokmet et al. sind also vor diesem Zeitpunkt nicht verlässlich. Der Gini-Koeffizient, den sie für die Zeit nach 2008 ermittelten, zeigt eine abnehmende Ungleichheit. Was allerdings vor 2008 geschah, bleibt in der Tat ein Geheimnis.

Schlussfolgerungen

Auf die verfügbaren Daten gestützt, können wir zwei Schlüsse ziehen: Vor allem liegt, erstens, das Niveau der Ungleichverteilung der Einkommen derzeit höher, als sich aus den Umfragen ergibt, und wohl auch höher als die offiziellen Zahlen von Rosstat. Alle Studien, die sich auf Steuerdaten stützen, weisen darauf hin, dass die Ungleichverteilung in Russland eher der in anderen BRICS-Staaten, beispielsweise Brasilien und Südafrika, nahekommt, denn jener in der entwickelten Welt (die Daten aus China scheinen sogar noch problematischer zu sein als die aus Russland). Die Entwicklung der Ungleichverteilung in der postsowjetischen Zeit bleibt allerdings unklar. Es lässt sich mit Gewissheit sagen, dass es – im Vergleich zur späten Sowjetzeit –Anfang der 1990er Jahre einen dramatischen Anstieg der Ungleichverteilung kam. Ob aber die starke Wirtschaftsleistung der 2000er Jahre mit dazu führte, dass die Ungleichverteilung zurückging, bleibt fraglich. Die umfragebasierten Daten und die Zahlen von Rosstat weisen hier in entgegengesetzte Richtungen. Die Frage ließe sich erst dadurch lösen, dass die Behörden detailliertere Angaben zu den Steuerdaten machen, und zwar über einen längeren Zeitraum.

Jedenfalls deuten alle Anhaltspunkte darauf hin, dass die derzeitige Ungleichverteilung der Einkommen in Russland sehr hoch ist. Studien belegen, dass sich die Bürger in Russland dieses Thema zu Herzen nehmen: Einer Umfrage der Russischen Akademie der Wissenschaften von 2018 zufolge, ist die Ungleichverteilung der Einkommen für 69 Prozent der Bevölkerung ein wichtiges Thema, mehr als bei anderen Formen der Ungleichheit. In stillschweigender Anerkennung dieses Umstandes erklärte Putin im Juni 2020, dass der allgemeine Einkommenssteuersatz von 13 Prozent – ein Markstein der liberalen Politik der frühen 2000er Jahre – durch leicht progressive Sätze ersetzt werde: Ein Jahreseinkommen von über 5 Millionen Rubel (ca. 56.000 Euro) wird mit einem Satz von 15 Prozent besteuert. Sämtliche zusätzlichen Steuereinnahmen sollen für die medizinische Behandlung von Kindern mit seltenen oder schweren Erkrankungen ausgegeben werden. Das Oberflächliche dieser zweiprozentigen Steuererhöhung liegt auf der Hand. In einem Land mit 250.000 Dollar-Millionären und 21 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben (die bei einem monatlichen Einkommen von 11.000 Rubeln – ca. 125 Euro – liegt), wird diese Reform wohl kaum den Durst nach sozialer Gerechtigkeit stillen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Bibliografie

Fussnoten

Ilya Matveev ist Associate Professor an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (RANEPA). Diese Publikation ist im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes »Comparing protest actions in Soviet and post-Soviet spaces – Phase 2: Social Protests« entstanden, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung koordiniert wird.