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Analyse: Die jüngsten Arbeitsproteste im russischen Gesundheitswesen

Petr Bizyukov

/ 11 Minuten zu lesen

Arbeitsproteste und ansteigende Proteste im Gesundheitswesen waren gerade im Jahr 2019 sehr stark zu beobachten. 2019 organisierte medizinisches Personal 108 Aktionen in 35 Regionen des Landes. Gründe für die Protestaktionen sind unteranderem geringe Bezahlung, Entlassungen und Stellenkürzungen.

Tausende Menschen vom medizinischen Personal protestieren in Moskau, Russland gegen das Gesundheitssystem. (© picture alliance / AA | Nikita Shvetsov)

Zusammenfassung

2019 war ein Jahr, das in der jüngeren Geschichte der Arbeitsproteste in Russland heraussticht. Zu beobachten war eine beeindruckende, sehr starke Zunahme von Protesten im Gesundheitswesen und eine massive Zunahme von Aktionen in diesem Sektor. Diese Protestaktionen kamen allerdings nicht überraschend und wurden durch eine ganze Reihe von Gründen ausgelöst. Die ständig zunehmenden Proteste im Gesundheitswesen können bis zu dem extremen Schritt reichen, dass Ärzte kündigen. Die Formen des Protests sind allerdings begrenzt und der Druck auf das Personal ist hoch.

Verteilung der Arbeitsproteste über die Sektoren

Das vergangene Jahr 2019 stellt in dem zwölfjährigen Beobachtungszeitraum des Monitorings der Arbeitsproteste eine einmalige Phase dar. Entscheidend war nicht einmal das gesamte Jahr, sondern vor allem die zweite Jahreshälfte, als es zu einer drastischen Zunahme der Aktionen von Mitarbeitern im Gesundheitswesen kam. Das wichtigste Moment bestand in einer veränderten Verteilung der Proteste über die Sektoren hinweg. Unerwarteterweise wurde das Gesundheitswesen hier zur "führenden Branche" und behielt diesen Spitzenplatz auch 2020 bei (s. Tabelle 1 und Grafik 1 auf S. 9/10). In den traditionell protestfreudigen Branchen – der Industrie und dem Transportwesen – kommt es weiterhin zu vielen Aktionen; an der Spitze lag jedoch das Gesundheitswesen, und zwar wegen der explosionsartigen Zunahme der Aktionen des medizinischen Personals. Dieser Anstieg im Gesundheitswesen war derart groß, dass er sich nicht nur auf die veränderte Verteilung über die Branchen auswirkte (der Sektor liegt dort jetzt an der Spitze), sondern auch auf die Gesamtzahl aller Proteste, die Ende 2019 und Anfang 2020 registriert wurden.

Anzahl und Bewertung der Proteste im Gesundheitswesen

Die Daten zur Anzahl der Arbeitsproteste von 2008 bis 2020 im Gesundheitswesen, einschließlich spontaner Arbeitsniederlegungen, zeigen die veränderten Relationen der Proteste in den verschiedenen Branchen. Den größeren Teil dieses Zeitraumes betrug die Zahl der Proteste nie mehr als 40 Aktionen pro Jahr. Im Jahr 2019 hingegen organisierte medizinisches Personal 108 Aktionen in 35 Regionen des Landes. Das Besondere ist hier, dass es in keiner Sparte des öffentlichen Sektors je eine solche Menge Aktionen gegeben hat, und auch keinen derart starken Anstieg.

Die explosionsartige Zunahme von Protesten im Gesundheitswesen trat erst in der zweiten Jahreshälfte zu Tage. Die Tendenz zunehmender Proteste hatte allerdings sehr viel früher eingesetzt, nämlich bereits im Mai 2017. Diese Entwicklung blieb lange Zeit kaum bemerkbar und die Veränderungen waren nicht groß. Seit Ende 2018 begann die Intensität der Proteste zuzunehmen und erreichte in der zweiten Hälfte 2019 kritische Werte.

Gründe für die Proteste im Gesundheitswesen

Im Rahmen des Monitorings konnten Informationen darüber gewonnen werden, was die Mitarbeiter im Gesundheitswesen zu Protesten nötigt; auch lassen sich die Gründe im Vergleich mit anderen Branchen analysieren (s. Grafik 2 auf S. 10 ). Die Proteste im Gesundheitswesen unterscheiden sich in erster Linie durch die Art der Beweggründe. Ausbleibende Lohnzahlungen, die vor allem bei Mitarbeitern in anderen Branchen für Unmut sorgen, betreffen das medizinische Personal nicht so sehr. Für die Mitarbeiter dort sind es die geringe Bezahlung, die Politik der Leitung im Zusammenhang mit der Umstrukturierung medizinischer Einrichtungen und die dadurch bewirkten Entlassungen und Stellenkürzungen. Von ganz beträchtlichem Gewicht sind hier Gründe wie Veränderung (sprich: Verschlechterung) der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsablaufs. Wenn man ausbleibende Zahlungen unberücksichtigt lässt, sind alle anderen Aspekte der Arbeitsverhältnisse im Gesundheitswesen zu Gründen für Proteste geworden.

Bei der Untersuchung der Kausalstruktur der Proteste wird ein Wert ermittelt, der die Anzahl der bei einer Aktion geäußerten Protestgründe widerspiegelt. Mit diesem lässt sich die Situation wie folgt charakterisieren: Entweder protestieren die Menschen nur aus einem einzigen Grund oder gleich aus einer ganzen Reihe von Gründen. Je mehr Gründe es gibt, desto schwieriger ist die Lage, die sie zum Protest zwingt. Im Gesundheitswesen hat es 2019 – 2020 nur bei 25 Prozent der Aktionen einen einzigen Grund gegeben, der als Anlass vorgebracht wurde. In den anderen Fällen waren es mehr Gründe. In anderen Branchen liegen die Zahlen anders: Dort erfolgt ein großer Teil der Proteste aus nur einem Grund (58 %).

Diese Zahlen zeigen, dass sich die Verhältnisse im Gesundheitswesen von denen in anderen Branchen unterscheiden, und zwar den Gründen nach, wie auch auf Grund der schwierigen Situation, die dazu nötigt, nicht nur einen Grund, sondern gleich mehrere vorzubringen. Es liegt auf der Hand, dass dies eine Folge der vielen wirtschaftlichen und organisatorischen Veränderungen der letzten Jahre ist, die allenthalben in der Branche erfolgen, der Kampagnen zur Schließung und Umstrukturierung von medizinischen Einrichtungen, der Stellenkürzungen und der Ausgabenkürzungen, die zu Gehaltskürzungen und Einschnitten bei den sozialen Sicherungsleistungen für medizinisches Personal führen.

Protestformen im Gesundheitswesen

Das Besondere der Proteste im Gesundheitswesen liegt in dem Umstand, dass es den Mitarbeitern dort verboten ist, Streiks zu organisieren, also die Arbeit niederzulegen. Das wirkt sich auf die Formen aus, in denen sie ihren Unmut und ihre Empörung ausdrücken (s. Grafik 3 auf S. 11).

Wichtigstes Ausdrucksmittel für Protest sind hier Versammlungen oder Konferenzen, auf denen die Forderungen formuliert und vorgelegt werden. Die zweithäufigste Form, die gleichsam als Verstärker der ersten dient, sind Appelle an die Behörden über den Kopf der unmittelbaren Vorgesetzten hinweg. Die Probleme werden hier also über die Grenzen der lokalen Organisation hinaus auf eine höhere Verwaltungsebene getragen. Bei diesen Methoden übertreffen die Mitarbeiter medizinischer Einrichtungen ihre Kollegen in anderen Sektoren beträchtlich. Angestellte im Gesundheitswesen können nicht streiken. Dennoch kommt auch diese Protestform vor und es sind meistens die Rettungswagenfahrer, die recht häufig auf Grund von Outsourcing die Belegschaft medizinischer Einrichtungen verlassen müssen und deshalb zu diesem Mittel greifen. Sie arbeiten dann an gleicher Stelle in den gleichen Rettungswagen weiter. Da sie nun aber formal nicht mehr zum Gesundheitswesen gehören, haben sie zwar die Zuschläge und Sicherungsleistungen aus diesem Sektor verloren, unterliegen aber auch nicht mehr dem Streikverbot und setzen daher dieses Mittel von Zeit zu Zeit ein.

Es gibt eine Protestform, die gleichermaßen von medizinischem Personal und Mitarbeitern anderer Branchen eingesetzt wird. Das sind Versammlungen und Demonstrationen außerhalb der Unternehmen. Dieses Protestmittel steht allen zur Verfügung, und die Mitarbeiter im Gesundheitswesen nutzen es genauso häufig wie andere auch. Allerdings gibt es eine weitere Form, die sich in der Tat als "medizinertypisch" bezeichnen lässt. Gemeint ist die Antwort "etwas anderes", die uns bei der Umfrage gegeben wurde. Hierhin gehörten die vielen Fälle, dass Mitarbeiter im Gesundheitswesen entlassen wurden oder aus Protest ihre Kündigung einreichten. Diese Form hatte es früher nur recht selten gegeben und wurde daher nicht als eigene Form geführt. In letzter Zeit jedoch ist unter den medizinischen Mitarbeitern – die ja in den Mitteln, mit denen sie ihrem Unmut Luft machen können, eingeschränkt sind – diese radikale Form immer häufiger anzutreffen.

Insgesamt mag das Repertoire der Protestformen im Gesundheitswesen nicht radikal erscheinen: Es gibt fast keine Streiks, und noch seltener superradikale Protestformen wie Hungerstreiks und Blockaden der Arbeitsstellen. Das lässt sich nur dadurch erklären, dass es im Gesundheitswesen Beschränkungen gibt und man dort gezwungen ist, akzeptable Methoden zu finden, um seinen Ärger und seine Empörung Kund zu tun. Darüber hinaus sollte das Fehlen radikaler Protestformen nicht so verstanden werden, dass für die Mitarbeiter im Gesundheitswesen alles in Ordnung ist und es keinen Anlass für Proteste gibt.

Der Organisationsgrad der Proteste

Der Organisationsgrad der Proteste hängt davon ab, wie stark Gewerkschaften oder andere Organisationen in die Protestaktionen der Mitarbeiter involviert sind. Ein beträchtlicher Teil der Aktionen erfolgt jedoch ohne Beteiligung von Organisationen oder spontan bzw. unorganisiert, wobei die Mitarbeiter ohne große Vorbereitung vorgehen und ihr Engagement nicht planen. Die Hauptsache ist jedoch, dass diese Proteste auf eine sofortige Lösung der Probleme abzielen, da es kein institutionelles Gremium gibt, das verantwortliche Verhandlungen führen und die Beschlüsse zur Lösung des Problems kontrollieren könnte. Spontane, nichtorganisierte Proteste führen nicht nur selten zur Erfüllung der Forderungen der Mitarbeiter, sie können auch dazu führen, dass sich Konfliktsituationen wiederholen und reproduzieren, und zwar aus den immer gleichen Anlässen.

Insgesamt ist der Anteil an nichtorganisierten Protesten traditionell hoch und schwankt zwischen 35 Prozent 2013 und 63 Prozent 2018, also im Bereich von einem bis zwei Dritteln. Im Gesundheitswesen ist 2019 und 2020 der Anteil der spontanen Aktionen recht hoch (41 und 39 %), auch wenn er in anderen Branchen noch höher war (58 und 61 %). Dort erfolgen spontanen Aktionen deshalb, weil es in vielen Fällen keine Gewerkschaften gibt. Im Gesundheitswesen hingegen gibt es Gewerkschaften, darunter die sehr große Gewerkschaft der Mitarbeiter im Gesundheitswesen (PRS), die eine Mitgliedsorganisation der Föderation der Unabhängigen Gewerkschaften Russlands (FNPR) ist und praktisch in allen öffentlichen medizinischen Einrichtungen vertreten ist. Daher ist die Anzahl der Proteste, die die Mitarbeiter im Gesundheitswesen ohne Beteiligung der Gewerkschaften veranstalten, überaus bemerkenswert.

Das Paradoxe dieser Situation besteht darin, dass neben der PRS, einer Gewerkschaft aus dem FNPR, in diesem Sektor zwei weitere Gewerkschaften recht aktiv sind, nämlich die Gewerkschaft Dejstwije ("Handlung"), die Teil der Konföderation der Arbeit Russlands (KTR) und die Ärzteallianz (AW), die sich als unabhängig positioniert, obgleich sie in der öffentlichen Meinung recht fest mit dem oppositionellen Politiker Alexej Nawalnyj in Verbindung gebracht wird. Diese Gewerkschaften organisieren Proteste des medizinischen Personals im ganzen Land und beteiligen sich aktiv daran. Dabei ist zu beachten, dass es Fälle gab, in denen an den Protesten auch gesellschaftliche und politische Organisationen beteiligt waren, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

2019 ist die Gewerkschaft Dejstwije am aktivsten gewesen. Sie war an 45 Prozent aller nichtspontanen, also organisierten Proteste im Gesundheitswesen beteiligt. Die zweitaktivste war die Ärzteallianz, während die PRS nur minimal aktiv war. Zudem stand letztere nicht immer auf der Seite der Mitarbeiter. Von der Ärzteallianz und Dejstwije sind einige gemeinsame Aktionen bekannt. 2020 ist Dejstwije im gleichen Maße aktiv geblieben, während die Aktivität der Ärzteallianz sich verstärkte.

Betrachtet man insgesamt das Organisationsniveau der Proteste im Gesundheitswesen, ist hervorzuheben, dass die Aktivität bei den Protesten derart hoch ist, dass man den Eindruck bekommt, als reichten drei Gewerkschaften nicht aus, um alle Fälle zu erfassen. Dabei sticht die Passivität der PRS ins Auge, jener Gewerkschaft, die die meisten Mitglieder und die größte Anzahl von Basis- und Regionalorganisationen hat. Selbstverständlich wissen die Mitarbeiter, die die Proteste anstoßen, von der Existenz dieser Gewerkschaft. Sie sehen aber keinen Sinn darin, sich an sie zu wenden, und halten sie für ein nutzloses und mitunter schädliches Gebilde. Diese Einstellung erstreckt sich zum Teil auch auf andere Gewerkschaften, die sich dann gezwungen sehen, negative Haltungen ihnen gegenüber zu überwinden, auch wenn sie nicht gerechtfertigt sind. Darüber hinaus sind diese Gewerkschaften nicht besonders mitgliederstark und verfügen nicht über jene beeindruckende organisatorische Basis, wie die PRS eine hat. Betont werden muss auch, dass manchmal sowohl Dejstwije , wie auch insbesondere die Ärzteallianz unter heftigen Druck nicht nur seitens der Arbeitgeber, sondern auch der Behörden und der Polizei geraten, die sogar gewaltsam gegen Gewerkschaftsführer vorgeht. Das erschwert natürlich deren Tätigkeit, fördert die Verbreitung spontaner Proteste und engt die Möglichkeiten für eine konstruktive Lösung der vielen und drängenden Probleme im Gesundheitswesen ein.

Ergebnisse der Proteste

Die Arbeitsproteste enden nur selten damit, dass die Forderungen der Mitarbeiter erfüllt werden (s. Grafik 4 auf S. 11). Sowohl im Gesundheitswesen, wie auch in anderen Sektoren geschieht es nur äußerst selten, dass die Forderungen vollständig erfüllt werden. Sehr viel häufiger ist eine teilweise Erfüllung das Ergebnis: Auszahlung nur eines Teils der ausstehenden Löhne oder Gehälter; Lohnerhöhungen nicht im vollen geforderten Umfang usw. Noch häufiger allerdings bleiben die Forderungen der Protestierenden ohne jedes Resultat, nämlich bei jedem zweiten Protest. Hier gibt es keine bedeutenden Unterschiede zwischen dem Gesundheitswesen und anderen Sektoren. In zwei Fällen ist allerdings ein erheblicher Unterschied zu beobachten. In erster Linie geht es um das häufigste Ergebnis der Proteste, also um die Fortführung von Verhandlungen. Ein solches Ergebnis erscheint paradox. Schließlich sind gescheiterte Verhandlungen gewöhnlich der Anlass für Proteste, und nicht umgekehrt. Die Praxis in Russland sieht heute anders aus: Protest ist jetzt eine Art Eintrittskarte zu Verhandlungen: Nur dann, wenn sie die Ernsthaftigkeit seiner Absichten bewiesen haben, können die Mitarbeiter damit rechnen, dass man ihren Forderungen Gehör schenkt.

In der Praxis gelingt es im Gesundheitswesen in drei von vier Fällen, durch Proteste solche Verhandlungen zu erreichen und eine Protestsituation in einen Dialog hinüberzuführen. Im Grunde ist der Protest im Gesundheitswesen die erste Phase der Auseinandersetzung, eine Art notwendiges Präludium, um in einen Dialog mit den Arbeitgebern treten zu können. Mitarbeitern in anderen Sektoren gelingt das seltener, nämlich nur bei jedem zweiten Protest. Es gibt eine zweite Besonderheit: Im Gesundheitswesen sehen sich die Mitarbeiter sehr viel häufiger als in anderen Sektoren einem Druck gegen jene ausgesetzt, die es wagen, ihren Unmut offen zu äußern. Das ist ein weiteres Beispiel dafür, wie schwierig die Situation im Gesundheitswesen ist. Schließlich lässt sich Druck auf Mitarbeiter als ein erstes Zeichen von Hilflosigkeit der Verwaltung verstehen.

Schlussfolgerungen

Die Daten über die Arbeitsproteste im Gesundheitswesen zeigen, wie schwer und wie angespannt die Lage dort ist. Die 2019 rapide angestiegene Zahl der Proteste und das anhaltend hohe Niveau der Protestaktivität in diesem Sektor ist ein Beleg dafür, dass sich über lange Zeit Probleme angestaut haben und es eine qualitativ neue Situation gibt, in der Mitarbeiter nicht mehr bereit sind, eine weitere Verschlechterung der Bedingungen hinzunehmen. Vor dem Hintergrund der anderen Sektoren erscheint das Gesundheitswesen als Epizentrum der Protestaktivität und die größte Quelle sozialer Spannungen im Arbeitsbereich. Die Reihe der Protestgründe erscheint dabei recht gewöhnlich, fast schon normal für eine Marktwirtschaft. Die Mitarbeiter wenden sich nicht gegen Verzögerungen bei der Lohnauszahlung, die nicht nur den Prinzipien der Marktwirtschaft widersprechen, sondern unmittelbar gegen das Gesetz verstoßen, sondern fordern völlig normale Dinge: Gehaltserhöhungen; Schutz gegen die endlosen Umstrukturierungen und Optimierungen; bessere Arbeitsbedingungen usw. Dabei sind die Mitarbeiter im Gesundheitswesen darin beschränkt, ihren Unmut auszudrücken. Die Massengewerkschaften sind untätig und die Menschen sind zu Protesten gezwungen, um wenigstens Gehör zu finden. Die Missstände, Probleme und Konflikte in diesem Sektor sind derart verbreitet, dass trotz dreier Gewerkschaften, von denen zwei sehr aktiv sind, ein großer Teil der Proteste aus spontanen Aktionen besteht, die keine systemische, institutionelle Auflösung der entstandenen Widersprüche ermöglichen.

Das alles hat das Gesundheitswesen zu einem gefährlichen Herd sozialer Spannungen gemacht, an dem es eine Vielzahl Probleme gibt, für die kein angemessener Regulierungsmechanismus bereitsteht. Durch die Pandemie, die viele Probleme ans Tageslicht befördert hat – vor allem Fragen der Arbeitsbedingungen und der Versorgung mit Schutzausrüstungen – hat sich die Lage verschärft. Gleichzeitig hat die Pandemie für einige Zeit die bestehenden Probleme in den Arbeitsbeziehungen in den Hintergrund treten lassen. Wir können jedoch mit Bestimmtheit annehmen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass nach Abschluss der akuten Phase der Pandemie die aufgeschobenen Beschwerden wieder aktuell werden und es zu einer neuen Zuspitzung im Verhältnis der Mitarbeiter mit ihren Arbeitgebern kommt, äußerst groß ist.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Petr Bizyukov ist Soziologe und befasst sich seit über dreißig Jahren mit der Erforschung der Arbeitsbeziehungen, der Gewerkschaftsbewegung, Arbeitskonflikten und Streiks. Er war an einer Vielzahl russischer und internationaler Forschungsprojekte beteiligt. 2008 schuf er das Monitoring der Arbeitsproteste (http://www.trudprotest.org), dessen Ergebnisse die Grundlage für diesen Beitrag bilden. Er ist assoziierter Wissenschaftler des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (St. Petersburg).