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dekoder: Das Corona-Virus im Vorlauf | Russland-Analysen | bpb.de

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dekoder: Das Corona-Virus im Vorlauf

Sergej Medwedew Sergej Medwedew (Moskau)

/ 6 Minuten zu lesen

Der russische Politikwissenschaftler Sergej Medwedew kritisiert in einem Beitrag auf seiner privaten facebook-Seite den Umgang der russischen Regierung mit der Coronakrise.

Frau mit Mundschutz in einer Moskauer U-Bahnstation, 09.04.2020 (© picture-alliance, Russian Look)

Der folgende Beitrag des russischen Politikwissenschaftlers Sergej Medwedew erschien ursprünglich am 15.03.2020 auf seiner privaten facebook-Seite und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung

Trotz Corona läuft in Russland immer noch vieles nach dem Prinzip Business as usual: Einzelne Stimmen kritisieren in Sozialen Netzwerken, dass die Regierung zwar über ein Maßnahmenpaket zur Stützung der russischen Wirtschaft nachdenkt, bei durchgreifenden Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit aber zaghaft bleibt. Sie glauben, dass die seit vergangenem Freitag verhängten Einreisesperren für Menschen aus Westeuropa die Pandemie nicht eindämmen werden und fordern drastischere Schritte: unter anderem die Vertagung der Volksabstimmung am 22. April und die Absage öffentlicher Siegesfeiern am 9. Mai.

Währenddessen empfiehlt das russische Bildungsministerium, selbst zu entscheiden, ob man in die Schule oder Uni geht oder zu Hause bleibt. All dies ist für den russischen Politikwissenschaftler Sergej Medwedew Anlass für einen Kommentar auf Facebook, den 2000 Menschen geteilt haben.

Corona: "Die Rettung ist Sache der Ertrinkenden"

Die feige "Empfehlung" von Sobjanin und dem Bildungsministerium, dass Schulen und Hochschulen "freiwillig" besucht werden, statt sie komplett zu schließen, ist ein sehr schlechtes Zeichen. Es bedeutet, dass die Behörden mehr Angst vor Panik haben als vor dem Virus selbst – und dass sie eine feige unentschiedene Strategie gewählt haben, um sich der Verantwortung zu entziehen. "Die Eltern spielen in diesem Fall eine größere Rolle", sagt Sobjanin in seinem Dekret. Also, Stopp mal. Das heißt, nicht die Ärzte, nicht der Epidemie-Stab, sondern die Eltern dürfen entscheiden, ob ihre Kinder potentielle Träger des Virus werden. Das ist nicht nur absurd, das ist kriminell. Man kann nicht ein bisschen schwanger sein, und man kann keine partielle, optionale Quarantäne einführen – entweder Quarantäne oder keine Quarantäne. Schon eine Person, die ausschert, bringt das ganze System zum Einsturz.

Die Behörden scheinen hin und herzuschwanken zwischen der immer dringlicheren Notwendigkeit einer Quarantäne (da die Lawine ausländischer Nachrichten nicht mehr zu verbergen ist) und der Unmöglichkeit, solche Maßnahmen zu ergreifen.

Die Unmöglichkeit ist meines Erachtens rein technischer Natur – wir haben einfach nicht das Niveau an staatlicher und gesellschaftlicher Organisation, an Screenings, Tests, Ausrüstung, Disziplin und strikter Durchsetzung von Gesetzen, wie wir es in China und zum Teil auch in Italien gesehen haben.

Der 9. Mai im postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan?!

Wie stellen Sie sich den Shutdown der Moskauer Metro vor? Das wäre eine Katastrophe, keine städtische, sondern eine nationale. Das Anhalten der 20-Millionen-Metropole käme einem Herzstillstand des Landes gleich. Außerdem ist es aus rein politischen Gründen nicht möglich, vor dem 22. April und dem 9. Mai den Notstand auszurufen – das alles sollte in der herrlichen Atmosphäre eines Nationalfeiertags stattfinden, nicht in einem postapokalyptischen Bühnenbild à la Wuhan, in Schutzanzügen, unter einer Chlorhexidin-Dusche.

Daher wird es keine Quarantäne geben, stattdessen feige, halbherzige Maßnahmen wie den freiwilligen Schulbesuch, die "Empfehlungen", öffentliche Veranstaltungen zu reduzieren (übrigens wenn eine Kundgebung verboten wird, wird das nicht empfohlen, sondern verboten, da gibt es keine Zwischentöne), einen teilweise eingeschränkten Flugverkehr (man nehme nur dieses anekdotische Flugverbot nach Europa, ausgenommen sind die Flüge ins süße Herz der Oligarchen und Abgeordneten nach Großbritannien – da sind doch Kinder, Familien, Häuser!) und so weiter.

Die Mächtigen waschen sich die Hände in Unschuld (entschuldigen Sie den Schenkelklopfer) und sagen der Bevölkerung: Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden – entscheiden Sie selbst, wie Sie sich schützen wollen! Sollte was sein – wir haben Ihnen eine Empfehlung gegeben und damit sind wir raus.

"Die Rettung der Ertrinkenden ist Sache der Ertrinkenden"

Stattdessen kauft die Bevölkerung brav die Mär von "viralen Atemwegserkrankungen" ab, postet Sprüche, dass jedes Jahr mehr Menschen an Mückenstichen sterben als jetzt an Corona, schimpft auf Panikmacher und Hysteriker und lebt weiter in vollem Genuss und Saus und Braus. Das ist die typische, infantile Reaktion einer unfreien, patriarchalischen, geschlossenen Gesellschaft: Bedrohung wird verleugnet, Angst verdrängt und man verhält sich ostentativ nachlässig.

Währenddessen ist das Virus hier schon längst angekommen, und nur wenige glauben den lächerlichen Zahlen von 59 erkrankten Menschen [Stand: 15. März 2020] in einem Land mit 146 Millionen Einwohnern, das in alle Richtungen offen ist: Die Chinesen sind ungehindert über den Amur eingereist, ehe im Fernen Osten die Quarantäne verhängt wurde. Und was den europäischen Teil Russlands angeht: Zehntausende sind im Februar und März in die am stärksten verseuchten Regionen Europas gereist und wieder nach Russland zurückgekehrt.

Und je länger es geht, desto lächerlicher werden die offiziellen Zahlen sein, die realen Zahlen werden aber in der allgemeinen Sterbestatistik alter Menschen verborgen sein, unter den saisonalen viralen Atemwegserkrankungen und ambulant erworbenen Lungenentzündungen. In den Sterbeurkunden wird wie immer "akute Herzinsuffizienz" stehen, wie auch beim Tod durch Folter geschrieben wird. Und das alles bestreite mal einer im Nachhinein – eine Insuffizienz hat ja schlussendlich wirklich eingesetzt, alles saubere Fakten.

Erinnerung an den schrecklichen Sommer 2010

ich erinnere mich an den schrecklichen Sommer 2010, Hitze überall, die Wälder brannten, und Moskau war vom glühenden Smog umhüllt. Damals starben laut inoffiziellen Schätzungen bis zu 40.000 ältere Menschen. Unter ihnen war auch mein 83-jähriger Vater, und als der Polizist schweißgebadet ein Protokoll zur Feststellung der Todesursache verfasste und dann seine Stimme senkte, erzählte er mir, dass allein ihre Abteilung jeden Tag hunderte Todesfälle aufnimmt, in der ganzen Stadt seien es Zehntausende. Dessen ungeachtet gab es jedoch keine Statistik über die hitzebedingte Sterblichkeit, alles löste sich in den üblichen Diagnosen auf, die älteren Menschen gestellt werden.

Wir sind das freieste Land der Welt!

Deshalb befürchte ich, dass wir im Modus des freien Schulbesuchs, der freien Quarantäne und des freien Sterbens verbleiben werden. Dabei wird der Mensch sogar frei sein von einer Diagnose – wir sind das freieste Land der Welt! Die Politik hat sich aus der Verantwortung gestohlen und mächtige Nebelkerzen gezündet, die das wahre Ausmaß der Epidemie verbergen. Hinzu kommt noch die normale Nachlässigkeit der Bevölkerung, und dann ist der Punkt erreicht, an dem unsere Atomisierung, unser geringes Sozialkapital, das Fehlen von Vertrauen, Disziplin und sozialer Solidarität und das Lagerprinzip "Stirb du heute und ich sterbe morgen" zu uns zurückkommen wird wie ein Bumerang.

Amtszeiten, Verfassungen, Leben – alles wird annulliert

Ja, die Epidemie wird bis zum Sommer ihre natürliche Grenze erreichen, und Merkel hat wohl Recht, dass 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sich anstecken werden, von denen viele nicht einmal ahnen, dass sie krank sind. Doch gleichzeitig werden nicht nur die Verfassung und Putins Amtszeiten annulliert, sondern auch viele Leben, die man hätte retten können, wenn das oben Beschriebene nicht wäre. Doch wann und wer hat in dem Land der großen Errungenschaften je Menschenleben gezählt?

Übersetzung aus dem Russischen durch die dekoder-Redaktion

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter Externer Link: https://www.facebook.com/sergei.medvedev3/posts/10222057345250983, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/corona-quarantaene-massnahmen-sobjanin.

Dieser Beitrag wurde übernommen im Rahmen des Projektes "Wissenstransfer2 – Russlandstudien", das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und dekoder.org mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung durchgeführt wird.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder und Sergej Medwedew für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Die Redaktion der Russland-Analysen

Fussnoten

Sergej Medwedew (geb. 1966) ist ein russischer Politikwissenschaftler und Historiker. Er ist Professor an der renommierten Moskauer Higher School of Economics, zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört vor allem die russische Zeitgeschichte. Medwedew schreibt regelmäßig Artikel für unabhängige Medien, in den liberal-demokratischen Kreisen gilt seine Stimme als sehr gewichtig.