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Analyse: Digitalisierung des Gesundheitswesens: Stand und Perspektiven von eHealth und Telemedizin in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Digitalisierung des Gesundheitswesens: Stand und Perspektiven von eHealth und Telemedizin in Russland

Philipp Walther Philipp Walther (Hochschule Fresenius)

/ 8 Minuten zu lesen

Teil der Digitalisierungsstrategie der russischen Regierung ist die Digitalisierung im Gesundheitswesen, z. B. durch Telemedizin. Bislang gibt es nur Pilotprojekte, durch die Corona-Pandemie könnte sich das ändern.

Telemedizin: eine Patientin telefoniert per Videochat mit ihrem Arzt. Russland ist angesichts seiner Größe und vieler abgelegener ruraler Gegenden prädestiniert für eine telemedizinische Versorgung. (© picture-alliance/dpa, Themendienst)

Zusammenfassung

Russland ist angesichts seiner Größe und vieler abgelegener ruraler Gegenden prädestiniert für eine telemedizinische Versorgung. Es gibt mit dem Telemedizin-Gesetz und dem Nationalprojekt "Gesundheitswesen" eine Reihe staatlicher Initiativen, die jedoch auch zum Teil restriktive Regularien mit sich bringen. Im privaten Markt für Telemedizin gab es in letzter Zeit aufgrund geringer Nachfrage und unzureichender Finanzierung eine Bereinigung. Deutliche Veränderungen zeichnen sich jedoch derzeit durch die Corona-Pandemie ab.

Einleitung

Es sind zwei russische Wissenschaftler, die eine Theorie für die aktuell dominierenden Themen Digitalisierung und Gesundheit bereithalten. Aufbauend auf der zyklischen Konjunkturtheorie von Nikolai D. Kondratjew (1892 – 1938) entwickelte Leo A. Nefiodow (geb. 1939) den sogenannten 6. Kondratjew-Zyklus, der diese Entwicklungen vorhersagt und erklärt. Kernthemen dieses auch gern als Megatrend bezeichnete Digitalisierung des Gesundheitswesens sind eHealth und Telemedizin. Dies bedeutet Patientenversorgung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Rehabilitation über räumliche Entfernungen (ortsunabhängig) unter Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien. Hierzu zählen beispielsweise elektronische Patientenakten, Telekonsultationen und -konsile oder auch Medical Apps.

Über den Stand der Digitalisierung in Russland gibt es im Vergleich wenig Publikationen und Statistiken. Gleichwohl ist Russland angesichts seiner Größe prädestiniert für den Einsatz von eHealth und Telemedizin. Daher soll dieser Beitrag einen Einblick in den aktuellen Stand und die Perspektiven der Digitalisierung des Gesundheitswesens ermöglichen.

Staatliche Initiativen und Gesetze

In den letzten Jahren hat die russische Regierung die Digitalisierung in wichtigen wirtschaftlichen und sozioökonomischen Bereichen aktiv gefördert. Im Jahr 2017 hat sie die Strategie für die Entwicklung der Informationsgesellschaft in der Russischen Föderation verabschiedet, die unter anderem das digitale Gesundheitswesen umfasst. Hauptziel im Bereich der Gesundheitsfürsorge besteht darin, ein neues Modell des Gesundheitssystems zu etablieren, das parallel zum bestehenden System funktioniert und dessen Funktionen nach und nach übernehmen soll. Prognose und Planung der gesamten Gesundheitsversorgung soll auf der Basis großer Mengen populationsbezogener Gesundheitsdaten (BigData) digitalisiert werden.

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist auch Teil des Nationalen Projekts "Gesundheitswesen" , das 2018 gestartet wurde. Eines der Hauptsäulen des nationalen Projekts ist die Einrichtung eines digitalen Informationskreislaufs im staatlichen Gesundheitswesen auf der Grundlage des "Einheitlichen staatlichen Gesundheitsinformationssystems" (EGISS). Bis 2024 soll der Patient über ein persönliches Konto im EGISS unter anderem in der Lage sein, einen Arzttermin zu vereinbaren, sich für eine medizinische Untersuchung zu registrieren, eine Krankenversicherung zu beantragen oder Zugang zu seinen medizinischen Dokumenten zu erhalten. Das Projekt zielt darauf ab, die Bildung einer vertikal integrierten Telemedizin – zwischen den führenden nationalen medizinischen Forschungszentren und regionalen medizinischen Organisationen – herzustellen. Bis zum Jahr 2022 sollen 925 territoriale medizinische Einheiten und 701 ländliche medizinische Stellen über telemedizinische Einrichtungen verfügen.

In einigen Regionen wurden bereits erste Pilotprojekte gestartet. Zum Beispiel testen bereits 11 Swerdlowsker Krankenhäuser telemedizinische Technologien vor allem zur Telekonsulation. In der Region Kuban sind bereits 240 medizinische Stellen an das telemedizinische Netz angeschlossen und haben so die Möglichkeit, Telekonsile mit den Ärzten der spezialisierten regionalen medizinischen Organisationen durchzuführen.

Als einen weiteren bedeutenden Schritt ist sicherlich das Telemedizin-Gesetz 2018 zu sehen, auch wenn der Schwerpunkt eher auf Regulierung zu liegen scheint. In dem Telemedizin-Gesetz wird der Einsatz von IT-Technologien im Gesundheitssektor geregelt und legalisierte überhaupt erst den Einsatz telemedizinischer Technologien zur Fernbehandlung. Es werden Regeln und Voraussetzungen für den Einsatz von telemedizinischen Technologien sowohl zwischen "Arzt-Patient" (Telekonsultation) als auch Telekonsile zwischen den Ärzten ("Arzt-Arzt") festgelegt.

Im Modell "Arzt-Patient" kann die Telemedizin nur für die präventive Behandlung, die Erfassung und Analyse von Patientenbeschwerden, die Anpassung der zuvor verordneten Behandlung und auch für die Entscheidung über die Notwendigkeit einer persönlichen Untersuchung eingesetzt werden. Das Gesetz erlaubt es beispielsweise nicht, eine Ferndiagnose zu stellen.

Im "Arzt-Arzt-Modell" erlaubt das Verfahren den Ärzten, sich mit anderen spezialisierten Ärzten zu beraten und weitere Meinungen einzuholen. Die Hauptanforderung ist, dass telemedizinische Unterstützung nur durch EGISS und nur für jene Dienste bereitgestellt werden kann, für die eine bestimmte Klinik eine gültige Lizenz besitzt.

Insgesamt räumt das Gesetz den Ärzten wenig Rechte ein und reglementiert die ärztliche Behandlungsfreiheit. Der Erstkontakt muss immer persönlich erfolgen und diagnostische Leistungen sind erst gar nicht in der Liste der telemedizinischen Dienstleistungen enthalten. Auf diese Weise ist eines der prioritären Ziele der Telemedizin – die Bereitstellung qualifizierter medizinischer Versorgung für die Bewohner abgelegener Gegenden – eher fraglich.

Der private Telemedizin-Markt

Auch in Russland weckten die Möglichkeiten der Telemedizin zeitig das Interesse von Privatunternehmen. Vor allem zog es die Aufmerksamkeit vier größerer russischer Unternehmen auf sich: Megafon, MTS, Sberbank und Yandex. Doch bereits Mitte 2018 überstieg das Angebot die Nachfrage bei weitem. Einige Unternehmen, die auf die Entwicklung eines Telemedizin-Geschäfts hofften, sahen sich gezwungen, den Markt zu verlassen. Im Jahr 2019 endeten die größeren Investitionen in dem Bereich, da auch die Wachstumsrate die optimistischen Prognosen nicht bestätigten. So auch die Investitionen des Telekommunikationsunternehmens Megafon, das 2017 Projekte im Bereich der Telemedizin gestartet hatte. Der "Gesundheitsdienst Megafon" stellte im Februar 2019 seinen Betrieb ein. Ein Vertreter des Unternehmens wies jedoch darauf hin, dass das Unternehmen an einem internationalen Neustart des Projekts arbeite.

Das Internetunternehmen Yandex erklärte 2019 ebenfalls, dass die Telemedizin in Russland kein profitables Geschäft sei und stellte weitere Investitionen in diesem Bereich zurück. Davor war das Unternehmen drei Jahre lang als Investor der medizinischen Online-Plattform Doc+ tätig, die 20 Millionen Dollar an Investitionen aufbringen konnte. Yandex betreibt jedoch immer noch seinen eigenen telemedizinischen Beratungsdienst Yandex.Health, bei dem monatlich mehrere tausend Beratungen durchgeführt werden. Dies jedoch ohne einen Schwerpunkt auf telemedizinische Dienstleistungen.

Aufgrund der geringen privaten Marktnachfrage und den hohen gesetzlichen Anforderungen reduzierte sich die Zahl der privaten Anbieter. Es dauerte fast zwei Jahre, bis die relevanten Akteure auf dem Markt der telemedizinischen Konsultationen eine der Anforderungen der Regulierungsbehörde erfüllt und sich in die EGISS integriert hatten. Eine der ersten, die sich an das System anschlossen, war der telemedizinische Service DocDoc, dessen Hauptaktionär die Sberbank ist. Um sich an die EGISS anzuschließen, musste DocDoc eine medizinische Lizenz erhalten.

Die DocDoc-Plattform wird für die Bereitstellung von telemedizinischen Dienstleistungen im Rahmen einer privaten medizinischen Krankenversicherung (DMS) angeboten. Laut den im Februar 2020 veröffentlichten Statistiken deckte dieses Versicherungsprogramm 5 Millionen Menschen ab. Die Nachfrage nach Telemedizin unter den Versicherten verdreifachte sich 2019 im Vergleich zum Vorjahr. Die Telemedizin wurde am aktivsten von Kunden im Alter von 25 – 40 Jahren genutzt (61 %). An zweiter Stelle stehen 40 – 55 Jahre alte Patienten (27 %), an dritter Stelle Menschen über 55 Jahre (10 %). Am häufigsten benötigten die Klienten eine Beratung durch Hausärzte (70 %) und Kinderärzte (12 %).

Darüber hinaus gibt es eine Reihe weiterer privater telemedizinischer Angebote wie beispielsweise "Kinderarzt 24/7", "Online-Arzt" oder "Ondoc". Erwähnenswert sind weiterhin die privat-öffentlichen Initiativen. Das Nationale Zentrum für Informatisierung (NCI) und das Russische Zentrum für Katastrophenmedizin starten mit "Saschita" (Schutz) ein gemeinsames Projekt, das auf den Aufbau der russischen telemedizinischen Infrastruktur abzielt und Fernkonsultationen mit 21 föderalen hochspezialisierte medizinischen Forschungszentren ermöglichen soll. Ach die Russische Post startet zusammen mit dem Unternehmen Mobile Medical Technologies ein Pilotprojekt zur Installation von telemedizinischen Komplexen in abgelegenen Regionen.

Die nationale Qualitätsüberwachungsbehörde Roskachestvo kündigte an, dass man telemedizinische Anwendungen auf ihre Sicherheit hin überprüfen und eine Bewertung der Dienste vornehmen werde. Die Ergebnisse sollen im Herbst 2020 vorgestellt werden. Zunächst ist geplant, die Informationssicherheit bei der Nutzung von telemedizinischen Anwendungen zu bewerten, einschließlich der Sicherheit der übermittelten personenbezogenen Daten, ebenso wie die Anwenderfreundlichkeit, die Anpassungsfähigkeit für Menschen mit Behinderungen und die Funktionalität.

Perspektiven vor und nach der Corona-Pandemie

Bis Anfang 2020 wurde der Markt für Telemedizin von Experten verhalten optimistisch eingeschätzt. Wachstumsraten für telemedizinischen Dienstleistungen waren mit 3 % noch gering, jedoch sah man mittelfristig deutliches Wachstumspotential. Nach der Prognose von Jekaterina Kolomenseva, Direktorin für die Entwicklung der Krankenversicherung der IC Sberbank Life Insurance, sollten in den nächsten 3 – 5 Jahren etwa 20 % der russischen Bevölkerung durch Telemedizin versorgt werden. Experten prognostizierten bislang, dass das Marktvolumen für eHealth und Telemedizin bis in das Jahr 2023 in der Russischen Föderation 90 Milliarden Rubel erreichen könnte.

Durch die Corona-Pandemie wird man diese Einschätzung vermutlich revidieren müsssen. Wie in vielen anderen Ländern auch, beschleunigt es die digitale Transformation im Gesundheitswesen, da es beispielsweise zu telemedizinischen Fernbehandlungen in vielen Fällen keine Alternativen gibt. Am 25. März 2020 wurde in der russischen Staatsduma ein Gesetz vorgelegt, das es der Regierung während einer Epidemie und in Notfallsituationen im Falle eines Mangels an medizinischem Personal ermöglicht, Änderungen in der medizinischen Versorgung vorzunehmen – einschließlich der Nutzung von Telemedizin. Es wird erwartet, dass der Gesetzentwurf den Ärzten erlaubt, unter anderem auch die (Erst-)Diagnostik per Telekonsultation durchzuführen. Der Gesetzentwurf wurde vom Rat für die Entwicklung der digitalen Wirtschaft unter dem Föderationsrat entwickelt und wird seit Februar 2020 in den zuständigen Ministerien diskutiert. Die aktuelle Situation der Coronavirus-Pandemie beschleunigte seine Vorlage zur Beratung im Parlament.

Experten haben keinen Zweifel daran, dass das Coronavirus zur Entwicklung der Telemedizin beitragen wird. Georgij Lebedew, Direktor des Instituts für digitale Medizin an der Universität Sechenow, sagt, dass dies bereits in Echtzeit geschieht. Die Medizinische Universität Sechenow eröffnete ein Zentrum für den Kampf gegen das Coronavirus und richtete zwei neue vollständig eingerichtete Intensivstationen zur Behandlung von Patienten mit COVID-19 ein. Außerdem wurde ein Beratungszentrum eingerichtet, in dem jeder Arzt eine Arzt-Arzt-Sprechstunde beantragen und sich von medizinischen Spezialisten beraten lassen kann.

Sberbank hat zudem die Regierung aufgefordert, den Bürgern freien Zugang zu medizinischer Beratung im Zusammenhang mit dem Coronavirus zu gewähren. Die Telekonsultationen werden über dessen telemedizinischen Dienst DocDoc durchgeführt, der Teil des Sberbank-Ecosystems ist. Die Initiative wurde bereits am 23. März 2020 gestartet und zielt in erster Linie darauf ab, älteren Menschen und Menschen in Quarantäne zu helfen.

Auch die private Moskauer Poliklinik-Kette Doktor von nebenan hat zusammen mit der staatlichen Entwicklungsgesellschaft VEB.RF ein Projekt zur kostenlosen telemedizinischen Betreuung von Patienten gestartet. Dem Projekt schlossen sich weitere private Anbieter wie Niarmedic und Scandinavian Health Center an. Finanziell gefördert wird die Initiative durch die staatliche VEB.RF .

Diskussion

Die Gründe einer bislang eher zurückhaltenden Umsetzung einer breiten Digitalisierung des Gesundheitswesens sind durchaus mit denen in Deutschland zu vergleichen. Neben einer ausreichenden Finanzierung der Digitalisierungsprojekte ist eine weitere Voraussetzung die notwendige Infrastruktur vor allem in abgelegenen Regionen, die erst den Einsatz telemedizinischer Technologien ermöglicht. Zudem ist eine staatliche Regulierung und Reglementierung der Telemedizin zu sehen, die vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie jedoch neu ausgerichtet wird. Treiber der Digitalisierung sind in vielen Ländern private Unternehmen, die von der derzeitigen Situation, vermutlich auch in Russland, profitieren werden. Mittel- und langfristig sind die Voraussetzungen für eine breite Digitalisierung des Gesundheitswesens jedoch eine ausreichende Finanzierung und die Schaffung der entsprechenden technischen Infrastruktur.

Einer der Erklärungsansätze für die eingangs erwähnten Kondratjew-Zyklen der russischen Wissenschaftler ist ein akuter Bedarf in bestimmten Bereichen, der entsprechende Innovationen auslöst. Folgt man dieser Logik, so könnte man die derzeitige Situation dahingehend interpretieren, dass wir vermutlich derzeit am Anfang des 6. Kondratjew-Zyklus und damit auch der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Russland stehen.

Fussnoten

Prof. Dr. Philipp Walther ist Professor und Studiendekan für Gesundheitsmanagement an der Hochschule Fresenius. Im digitalen Fachbereich onlineplus beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit der digitalen Transformation des Gesundheitswesens.