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Analyse: Lebenszufriedenheit in Russland: Erklärungsfaktoren und Entwicklung | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Lebenszufriedenheit in Russland: Erklärungsfaktoren und Entwicklung

Tatiana Karabchuk Tatiana Karabchuk (UAE University)

/ 8 Minuten zu lesen

In Russland wurden Lebenszufriedenheit und Glück auf individueller und gesellschaftlicher Ebene durch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung erheblich und nachhaltig beeinflusst. Unterschiede gibt es jedoch zwischen den Generationen.

Prozession in Sankt Petersburg 2017. Die Religiosität hat in Russland seit Anfang der 2000er Jahre zugenommen. (© picture-alliance, ZUMA Press)

Zusammenfassung

Der Beitrag stellt die Entwicklung des subjektiven Wohlbefindens der russischen Bevölkerung von den 1990er Jahren bis in die Gegenwart dar. Es zeigt sich ein beispielloser Einbruch bei der Lebenszufriedenheit in der Gesellschaft im Zuge der Krise der 1990er Jahre sowie die langsame Verbesserung mit dem anschließend einsetzenden Wirtschaftswachstum. Der anhaltende Anstieg des nationalen Glücksniveaus nach der Wirtschaftskrise von 2008 lässt sich durch Faktoren wie nationaler Stolz und Religiosität erklären.

Glück und Lebenszufriedenheit messen

Subjektives Wohlbefinden ist ein komplexes Maß, das die Selbsteinschätzung des individuellen Zustands in Bezug auf Glück, Lebenszufriedenheit sowie positive und negative Emotionen wiedergibt. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat hierzu umfangreiche Definitionen und Empfehlungen erarbeitet. Üblicherweise verwenden Forscher Indikatoren wie Lebenszufriedenheit oder Lebensbewertung, Glück und subjektives Wohlbefinden (als Kombination von Lebenszufriedenheit und Glück), die aus nationalen oder länderübergreifenden Befragungen gewonnen werden, um das Niveau von Glück oder subjektivem Wohlbefinden in der Gesellschaft zu bewerten.

Lebenszufriedenheit bezieht sich auf materielle Aspekte des subjektiven Wohlbefindens und spiegelt die Zufriedenheit eines Individuums mit den objektiven Merkmalen seines oder ihres Lebens wider. Bei Umfragen wird Lebenszufriedenheit über die Frage "Wie zufrieden sind Sie insgesamt mit Ihrem Leben? (markieren Sie auf einer 10-Punkte-Skala)" gemessen. Glück hingegen bezieht sich meist auf den emotionalen Zustand einer Person und wird üblicherweise mit der Frage "Wie glücklich sind Sie derzeit?" gemessen. Somit kann Lebenszufriedenheit eher als Ergebnis eines persönlichen Bewertungsprozesses betrachtet werden, der auch materielle und soziale Ziele und Leistungen umfasst. Glück hingegen wird als Ergebnis positiver Erfahrungen einer Person betrachtet, insbesondere in engen persönlichen Beziehungen.

In landesweiten Umfragen in Russland werden ähnliche Ansätze verwendet, um die Lebenszufriedenheit und das Glück der Menschen zu erfassen. Aus früheren länderübergreifenden Studien, die sich auf die "World Value Services" stützen, geht hervor, dass weltweit eine beträchtliche Spannbreite des Glücksniveaus besteht und die wirtschaftliche Entwicklung eng mit dem Glücksniveau des jeweiligen Landes zusammenhängt.

Gemäß der Modernisierungstheorie von Ronald Inglehart durchlaufen alle Gesellschaften auf ihren Entwicklungspfaden im Laufe der Jahrzehnte ähnliche Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene. Diese sind mit individuellem Wertewandel verbunden. Werte oberster Priorität wie wirtschaftliche und physische Sicherheit werden zugunsten von Werten der Selbstentfaltung abgelöst, wobei Partizipation, Meinungsfreiheit und Lebensqualität hervorstechen. Bei Mangel an Konsumgütern konzentrieren sich die Menschen auf überlebenswichtige Bedürfnisse und räumen der wirtschaftlichen und physischen Sicherheit oberste Priorität ein. Wenn den Menschen das Gefühl existentieller Sicherheit gegeben wird, bringt wirtschaftliche Entwicklung sie dazu, die Betonung von überlebenswichtigen Werten in Richtung von Selbstentfaltung und freier Wahl zu verschieben, was einen direkteren Weg zur Maximierung von Glück und Lebenszufriedenheit darstellt. Die Betonung von Freiheit nimmt mit wachsender wirtschaftlicher Sicherheit zu, bis zu dem Punkt, an dem eine freie Wahl ebenso stark geschätzt wird wie wirtschaftliche Sicherheit.

Lebenszufriedenheit und Glück in Russland

Russland stellt ein interessantes Beispiel dar: Hier können wir beobachten, wie in den 1990er Jahren ein drastisches Abfallen des subjektiven Wohlbefindens, eine schwierige Erholung in den 2000er Jahren und eine Stagnation in den 2010er Jahren in exakter Übereinstimmung mit der oben erwähnten Theorie erfolgte; die Wertvorstellungen wechselten aufgrund der ganz erheblichen Schocks durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die massive Wirtschaftskrise zurück zu einem Vorrang wirtschaftlicher Sicherheit. Wir können versuchen zu verstehen, was vor zwei, drei Jahrzehnten mit dem Glück in Russland geschah und wie die Menschen ihre Lebenszufriedenheit heute bewerten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erlebte Russland im Verlauf der 1990er Jahre eine Vielzahl sozialer und wirtschaftlicher Schocks. Das reale Prokopfeinkommen ging um 43 Prozent zurück, die Arbeitslosenquote stieg auf 14 Prozent. Die Durchschnittslöhne lagen umgerechnet unterhalb von 100 Euro im Monat und wurden oft nicht ausgezahlt. Das nötigte viele dazu, mit Hilfe der Gemüse- und Obstproduktion aus dem eigenen Garten zu überleben.
Neben diesem wirtschaftlichen Zusammenbruch erlebte das Russland der 1990er Jahre eine Reihe sozialer Probleme wie die Zunahme von Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und Morden, wie auch eine explosionsartige Zunahme von Scheidungen, sozialer Ungleichheit, Korruption und organisierter Kriminalität. Von einem Höchststand von fast 65 Jahren in der Sowjetzeit war die Lebenserwartung für Männer bis 1995 auf unter 58 Jahre abgesunken. So ist es wenig überraschend, dass diese Umstände von 1982 bis 1999 einen noch nie dagewesenen Rückgang des subjektiven Wohlbefindens bewirkten.

Russland war nach 1989 ein seltenes Beispiel einer Gesellschaft, die eine Umkehrung hin zu überlebenswichtigen Werten erlebt hat: Die existentielle Sicherheit ging zurück und das Leben wurde prekärer. Der außerordentliche Rückgang des wirtschaftlichen Lebensstandards, der physischen Sicherheit und der öffentlichen Gesundheit im Laufe der 1990er Jahre hat die Bürger in Russland konsequent dazu gebracht, sich wieder den privaten materiellen Bedürfnissen und Sorgen zuzuwenden, was mit einem phänomenalen Rückgang des subjektiven Wohlbefindens verbunden war. Diese Dynamik zeigt sich auch eindrücklich in der Zeitreihe zu Selbstmorden, die für den Zeitraum von 1982 bis 2004 eine beträchtliche Krise belegen, der eine allmähliche Erholung folgte (Foa et al 2018).

Das Russische Wirtschafts- und Gesundheitsmonitoring (RLMS-HSE), das seit 1994 jährlich Daten einer langfristige Befragung von Haushalten sammelt, erlaubt uns, die Entwicklung von vier wichtigen Indikatoren nachzuverfolgen:

  1. allgemeine Lebenszufriedenheit;

  2. Zufriedenheit mit der gegenwärtigen persönlichen finanziellen Lage;

  3. Grad der Angst, nicht mehr die grundlegenden Bedürfnisse der Familie absichern zu können; und

  4. Lebensbewertung für die Zukunft.

Grafik 1 vermittelt deutlich die sich wandelnde Entwicklung dieser Indikatoren von 1994 bis 2018. Alle Zahlen sind Durchschnittswerte für die Bevölkerungsgruppe der 15 – 65-Jährigen, und zwar auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 1 das Minimum darstellt (überhaupt nicht zufrieden mit der allgemeinen und finanziellen Lebenssituation, keine Angst, nicht mehr die grundlegenden Bedürfnisse der Familie absichern zu können, sehr schlechtes Leben in der Zukunft) und 5 das Maximum (entsprechend sehr zufrieden, große Angst, sehr gutes Leben).




Der zentrale Indikator der allgemeinen Lebenszufriedenheit, bei dem in den Jahren 1998 und 2000 die niedrigsten Werte verzeichnet worden waren, stieg anschließend kontinuierlich, so dass 2017 ein Höchstwert von 3,75 Punkten erreicht wurde. Zufriedenheit mit der finanziellen Situation, die das subjektive Wohlbefinden gut erklären könnte, wurde erst ab 2000 gemessen, weswegen wir nicht über die Möglichkeit verfügen, die Veränderungen über einen längeren Zeitraum zu verfolgen. Dennoch können wir erkennen, dass sie über die letzten beiden Jahrzehnte angestiegen ist, mit einem Höchststand im Jahr 2012. Der Indikator der Angst, nicht für die Grundbedürfnisse der Familie sorgen zu können, zeigt ein ähnliches Muster, mit den niedrigsten Werten im Jahr 2011. Die Lebensbewertungen für die Zukunft hatten bis 2012 eine positive Entwicklung, danach gingen sie langsam zurück. Das einzigartige Datenmaterial des World Values Survey bietet den längsten Untersuchungszeitraum für Russland, wohingegen die nationalen Daten des RLMS-HSE (vgl. Grafik 1) eine detailliertere Messung des Wohlbefindens erlauben.

Zu erwähnen ist hier, dass es bei den verschiedenen Generationen große Unterschiede hinsichtlich der Entwicklungsbahnen des subjektiven Wohlbefindens gibt. Eine Kohortenanalyse der Stichproben in postkommunistischen Ländern zeigt nicht einfach nur eine Rückkehr zum Mittelwert, sondern auch einen Generationswechsel als Erklärung für eine Zunahme des subjektiven Wohlbefindens seit Mitte der 1990er Jahre (Foa et al.2018). In der Tat sind die Milleniums- und die jüngere Generation in Russland (bekannt als die Generationen Y und Z) beträchtlich glücklicher als ältere Generationen (Kolosnitsyna et al. 2017, Radaev 2019). Allerdings zeigen jüngste intragenerationelle und Kohortenstudien, dass es eine leicht negative Entwicklung bei der Lebenszufriedenheit gibt, und zwar hinsichtlich der Erfüllung ihrer Erwartungen im Leben. Das könnte auf einen weiteren Rückgang des Glücksniveaus in Russland in der Zukunft hindeuten.

Erklärungsfaktoren

Die umfangreiche Literatur zu Glück und Lebenszufriedenheit hat herausgearbeitet, dass in vielen Ländern geringeres Alter, gute Gesundheit, Beschäftigung, Religiosität, Vertrauen und besseres Einkommen mit einem höheren Niveau an subjektivem Wohlbefinden in Verbindung stehen.

Bei den Erklärungsfaktoren für individuelles Glück gibt es nicht allzu viele Unterschiede zwischen europäischen Ländern und Russland. Was die Gruppe der postsowjetischen Länder betrifft, könnte die Schlussfolgerung dahingehen, dass der schnelle Wandel im Wertesystem hin zu individualistischen Werten und Selbstverwirklichung Russland von den Ländern in Zentralasien oder dem Kaukasus abhebt, in denen immer noch traditionelle Familienwerte vorherrschen. Das würde das niedrigere Gesamtniveau der Lebenszufriedenheit und das Paradoxon einer leicht besseren wirtschaftlichen Situation in Russland bei geringeren Durchschnittswerten für Glück erklären. Gleichzeitig sind traditionelle Werte wie das Vorhandensein eines Lebenspartners in Russland immer noch sehr wichtig, insbesondere bei älteren Menschen und abhängig Beschäftigten.

Materielles Wohlbefinden und Einkommensungleichheit sind in Russland unmittelbar mit Glück und Lebenszufriedenheit verbunden. Frühere Studien haben gezeigt, dass der Anstieg beim Glück Anfang der 2000er Jahre durch gestiegene Löhne und Gehälter und das nationale Wirtschaftswachstum erklärt werden konnte, was wiederum auch seinen Einfluss auf sich positiv entwickelnde Zukunftserwartungen hatte. Nach der Wirtschaftskrise von 2008 ergibt sich folgende Frage: Warum stieg das nationale Niveau der Lebenszufriedenheit immer noch an, obwohl die Realeinkommen zurückgingen und die wirtschaftliche Situation nicht mehr so gut war? Warum sehen wir 2008 – 2009 keinen Rückgang beim Glück, sondern eine kontinuierlich steigende Kurve?

Die Antwort auf diese Frage finden wir in der rigorosen Analyse des Einflusses von nationalem Stolz auf das subjektive Wohlbefinden, die Emil Kamalov and Eduard Ponarin in einem Artikel vorgelegt haben. Sie zeigen, dass nationaler Stolz oder nationale Zufriedenheit einen klaren positiven Einfluss auf das soziale Wohlbefinden der Menschen haben. In Russland (wie in China oder Südkorea) lässt nationaler Stolz das Niveau der Lebenszufriedenheit steigen. Ein Punkt nationaler Stolz (auf einer Vier-Punkte-Skala) erhöht die Lebenszufriedenheit um 0,26 Punkte (auf einer Zehn-Punkte-Skala).

Eine andere Erklärung für das trotz verschlechterter wirtschaftlicher Lage gestiegene subjektive Wohlbefinden könnte in Studien gefunden werden, die die Auswirkungen von Religiosität auf Glück in Russland untersuchen. Die Religiosität hat seit Anfang der 2000er Jahre zugenommen; es werden immer mehr Kirchen gebaut. Außerdem existiert seit einiger Zeit eine enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden und der Verwaltung der orthodoxen Kirche. Jüngste Studien, etwa von Elena Melkumyan, zeigen, dass Zugehörigkeit zur Kirche die Bildung von sozialem Kapital fördert, was letztlich positiv mit Glück und Lebenszufriedenheit verbunden ist.

Schlussfolgerungen

Die wichtigste Schlussfolgerung dieses Beitrags lässt sich wie folgt formulieren: In Russland wurden Lebenszufriedenheit und Glück auf individueller und gesellschaftlicher Ebene durch die gesamtgesellschaftliche Entwicklung erheblich und nachhaltig beeinflusst, unter anderem durch das traumatische Ende der Sowjetunion und die anschließende schwierige wirtschaftliche Transformation. Dem Zusammenbruch des Kommunismus folgte ein anhaltender Rückgang des subjektiven Wohlbefindens unter den älteren Bevölkerungsschichten, der nie wieder gänzlich wettgemacht wurde – anders als bei den jüngeren Generationen, die mit anderen Erwartungen und Hoffnungen für ihr Leben aufwuchsen. Allerdings ist gleichzeitig gerade bei dieser jüngeren Generation jüngst eine geringere Lebenszufriedenheit zu verzeichnen, was auf unerfüllte Lebenserwartungen, eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage, erhöhten Arbeitsdruck und eine verstärkte Work-Life-Disbalance sowohl bei Männern, als auch bei Frauen in Russland zurückzuführen ist.

Insgesamt spielt die Fluktuation bei den Realeinkommen in der Zeit von 2008 bis 2012 keine allzu große Rolle für die Lebenszufriedenheit der Bürger in Russland, da sie durch eine stärkere Hinwendung zu Kirche und nationalem Stolz kompensiert werden.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Lesetipps

  • Inglehart, R. (1997). Modernization and postmodernization: Cultural, cconomic and political change in 43 societies. Princeton: Princeton University Press.

  • Kamalov E. A., Ponarin E. D. (2020) National Pride and Subjective Well-Being of Russians. Monitoring of Public Opinion: Economic and Social Changes. No. 1. P. 177–205. Externer Link: https://doi.org/10.14515/monitoring.2020.1.08 (in Russ).

  • Melkumyan E. B. (2020) Religiosity and Life Satisfaction: A Survey of Orthodox Parishes. Monitoring of Public Opinion: Economic and Social Changes. No. 1. P. 177–205. Externer Link: https://doi.org/10.14515/monitoring.2020.1.10. (in Russ).

  • OECD: How’s Life? Measuring Well-Being, 2013.

  • OECD: Guidelines on Measuring Subjective Well-Being, 2013.

Fussnoten

Tatiana Karabchuk ist seit 2016 Associate Professorin für Soziologie am Department of Government and Society des College of Humanities and Social Sciences , Universität der Vereinigten Arabischen Emirate (UAEU). Ihre jüngsten Publikationen konzentrierten sich auf die Beschäftigung junger Erwachsener, Ehe und Fertilität, informelle Beschäftigung, Familienwerte, Arbeitsplatzinstabilität, Glück und subjektives Wohlbefinden von Frauen. Vor ihrer Tätigkeit an der UAEU arbeitete sie 14 Jahre an der Higher School of Economics in Moskau. Sie war Gastwissenschaftlerin am Population Centre der Universität North Carolina und am Institute for Survey Research der Universität Michigan, am Institut für Wirtschaftsforschung der Hitotsubashi-Universität in Japan, sowie am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) in Regensburg und der Universität Bamberg.