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Kommentar: Die Realität der Verfassungsreform in Russland: Ein begrenzter institutioneller Wandel verdeckt eine tiefgreifende Verschiebung in der Wirtschaftspolitik | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Die Realität der Verfassungsreform in Russland: Ein begrenzter institutioneller Wandel verdeckt eine tiefgreifende Verschiebung in der Wirtschaftspolitik

Regina Smyth IN) Bloomington Regina Smyth (indiana universiy

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Was steckt hinter der überraschenden Verfassungsreform in Russland? Die Kommentatorin Regina Smyth vermutet einige wirtschaftspolitische Implikationen: Was bedeutet die Verfassungsreform in Kombination mit dem Regierungswechsel für die wirtschaftliche Entwicklung Russlands?

Präsident Putin trifft sich mit Mitgliedern der Arbeitsgruppe zur Verfassungsreform, um die vorgeschlagenen Änderungen zu diskutieren. Die Reform wird tiefgreifenden Auswirkungen auf das politische System mit sich bringen und auch die wirtschaftliche Lage Russlands beeinflussen. (© picture alliance/Alexei Druzhinin/TASS/dpa)

Die Verfassungsänderungen 2020 in Russland zielen auf zwei ernste Herausforderungen für das Regime ab, nämlich auf das kurzfristige Problem, die landesweiten Wahlen von 2021 und 2024 zu bewerkstelligen, und auf das langfristige, hartnäckige Problem, die Fähigkeit des russischen Staat zur wirtschaftlichen und politischen Modernisierung zu entwickeln. Als Antwort auf diese Herausforderungen hat Präsident Putin zwei breitgefasste Lösungen vorgeschlagen: eine Verfassungsreform und eine Neudefinierung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft, die in einer Ausweitung der Programme für Sozialausgaben wurzelt.

Nachdem er den Aufstieg eines Nachfolgers in Russland hat verhindern können, bleibt Putin die einzige Figur auf der politischen Bühne, die die Kämpfe innerhalb der Elite eindämmen und zuverlässig Wahlen gewinnen kann. Daher ist sein Abgang von der politischen Bühne brisant. Der Nachfolgeprozess könnte den vernichtenden Oligarchenkriegen der 1990er ähneln, als die Eliten darum rangen, ihren Reichtum, ihre Macht und ihr politisches Kapital zu schützen. Dieser Konflikt würde bei den Wahlen in die Politik übergreifen und könnte eine Mobilisierung für die Opposition sowie Verwirrung im System Putin auslösen.

Die Ungewissheit könnte auch für Putin einen hohen persönlichen Preis bedeuten, der in der Gefahr steht, wegen Korruption und Machtmissbrauch angeklagt zu werden. Die angekündigten Reformen geben ihm die Möglichkeit, neue Protegés und potenzielle Nachfolger zu sichten, die ihn vor diesen Gefahren bewahren würden, wenn er sich anschickt, im kommenden Jahrzehnt die politische Bühne zu verlassen.

Wichtig ist, dass eine Verfassungsreform keine Lösung für Putins formale Rolle in dem neuen System bieten würde. Aus den angekündigten Verfassungsänderungen ergibt sich für Putin eine ganze Reihe möglicher Strategien, um nach 2024 in einer einflussreichen Position im Staat bleiben zu können. Die zwei möglichen Optionen, nämlich als Ministerpräsident zurückzukehren oder die Führung eines mit neuer Macht ausgestatteten Staatsrates zu übernehmen, verlangen einen zuverlässig loyalen Nachfolger im Amt. Diese Alternative erhält den Status quo aufrecht. Angesichts der Reform des bestehenden Systems kann Putin das Recht beanspruchen, ins Präsidentenamt zurückzukehren, auf einen Posten, der im neuen System noch weiter gestärkt sein wird. Über den weiteren Weg wird nach den nächsten Parlamentswahlen entschieden, wobei dann im Falle unerwarteter politischer und wirtschaftlicher Schocks Änderungen möglich sind.

Es ist sehr bezeichnend, dass all diese institutionellen Reformen in starkem Maße auf die Fähigkeit des Regimes setzen, den Ausgang von Wahlen zu kontrollieren. Der Kreml scheint sich sicher zu sein, dass ein gut entwickeltes Instrumentarium von Praktiken, mit denen Wahlen zugunsten des Regimes beeinflusst werden (insbesondere neue Systeme zur elektronischen Stimmabgabe und -verarbeitung), weiterhin Wahlsiege erzeugen werden, ohne Massenproteste zu provozieren.

Die längerfristigen Ziele der Reform bestehen darin, die Kapazitäten des Staates zu stärken und Mechanismen zu entwickeln, die Putins Person als Dreh- und Angelpunkt zur Ausbalancierung von Konflikten in der Elite und für gesellschaftlichen Rückhalt ablösen sollen. Mit anderen Worten: Putin muss Probleme lösen, die für das Regime eine Herausforderung darstellen, seit er sein Amt antrat. In dieser Iteration bedeuten ausbleibende Schritte zur Verringerung der Macht des Präsidenten ein Ausweichen gegenüber der Aufgabe, den Staat zu stärken. Auch der Charakter der Auseinandersetzungen in der Elite, die nach dem Motto "The winner takes it all" erfolgen, wird dadurch beibehalten.

Darüber hinaus wird das revidierte System im Einklang mit den derzeit bestehenden informellen Vollmachten des Präsidenten stehen – von der Möglichkeit, Renten zu verteilen, bis hin zu einer Kontrolle über die Medien. Die Verfassungsänderungen bilden keine Leiter für junge Ambitionen oder einen Weg, um eine neue Riege potenzieller Herrscher zu schaffen, weil es die Rolle von Netzwerken und Verbindungen als entscheidendes Kriterium für den Erfolg politischer Karrieren fortschreibt. Sie definieren keine institutionelle Lösung für Konflikte in den Eliten (wie sie in der mexikanischen "Partei der institutionalisierten Revolution" vor 1995 bestanden hatte), auch wenn klare Begrenzungen der Amtszeiten darauf hindeuten, dass ein solcher Mechanismus aus den Statuten von "Einiges Russland" erwachsen könnte.

Ein solcher Mechanismus kann Konflikte in der Elite schichten, bietet aber keine Lösung für die Notwendigkeit, bei Wahlen Mehrheiten zusammenzufälschen, um Ämter und Mandate sicherzustellen. Die Reform ändert zwar nicht unmittelbar die Verfahren bei Wahlen, doch haben Putin und seine Vertreter die Verfassungsreform als Instrument dargestellt, das die Reaktionsfähigkeit der Regierung erhöhen und die Stimme der Bevölkerung stärken soll. Dieser Ansatz schafft ein Potenzial, das den sozialen Rückhalt erhöhen kann, indem es auf zentrale Bedürfnisse der Bürger reagiert, ohne die Agenda des Regimes zu beeinträchtigen oder politische Kontrolle aufzugeben.

Zur Festigung dieses Rückhalts hat der Präsident ein neues nationales Ziel verkündet: Der Lebensstandard soll erhöht werden. Unter den angekündigten Verfassungsänderungen sind auch Reformen, die eine alljährliche Anpassung der Renten an das auf föderaler Ebene geltende Existenzminimum vorsehen. Diese Vorschläge besänftigen zum Teil die anhaltende Wut über die Rentenreform von 2018, die landesweit das Renteneintrittsalter angehoben hat. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Mischustin ergänzte die institutionelle Reform durch neue Sozialausgaben, unter anderem durch erhöhte Beihilfen für Familien mit kleinen Kindern und ein landesweites Bauprogramm für Wohnraum. Solche Programme reagieren auf zentrale soziale Forderungen, ohne die Prioritäten des Staates zu beeinträchtigen.

Mit einem Blick auf Keynes setzt Putin darauf, dass erhöhte Staatsausgaben die Ausgaben der Verbraucher und die Investitionen ansteigen lassen und somit das Wirtschaftswachstum fördern könnten. Dieser wirtschaftspolitische Ansatz bedeutet einen erheblichen Wechsel in dem konservativen Muster, das bei wirtschaftlichen Steuerungsmaßnahmen des Regimes zuvor bestand. Russland hat während des wirtschaftlichen Rückgangs weiter in seinen nationalen "Fond für schlechte Zeiten" investiert und für den Fall einer internationalen Finanzkrise ein beträchtliches Polster angehäuft.

Während die erhöhten Ausgaben nichts als ein kurzfristiges Projekt sein könnten, um der Partei "Einiges Russland" bei den Wahlen 2021 eine Supermehrheit zu sichern, könnten sie auch einen bedeutsamen Wandel im System Putin signalisieren. Die Wiederaufnahme von Sozialprogrammen könnten auf das Entstehen eines dauerhafteren Gesellschaftsvertrags hindeuten, der den Paternalismus der späten Sowjetzeit wiederherstellt. Andernfalls könnten sich die weitgefächerten Ausgaben als eine Form von staatlichem Populismus herausstellen, der den Staat und die ihm loyal gegenüberstehenden Bürger gegen Andersdenkende zusammenschließen, die von äußeren Kräften beeinflusst werden. In beiden Fällen kann sich das Regime auf seine Programme als ein Ansatz von Zuckerbrot und Peitsche stützen, um loyale Wähler mit Transferzahlungen an die Regionen, Leistungen für bestimmte soziale Gruppen und zielgerichtete Ausgaben zu belohnen.

Auf längere Sicht könnte dieser Wandel im Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft potenziell bedeutsamer sein als formale Verfassungsänderungen oder eine Bekräftigung bestehender informeller Praktiken zur Aufrechterhaltung der Oligarchie. Sie stellen aber auch ein Risiko dar. Die Werbung des Regimes mit einem künftig verbesserten Lebensstandard wird die Erwartungen an die Leistung des Staates im Sozialbereich und die Qualität der Dienstleistungen verstärken, und zwar im Kontext eines geriatrisch anmutenden Systems, das seit 20 Jahren an der Macht ist. Wenn die Regierung diese Erwartungen nicht zu erfüllen vermag, ist das kurzfristige Projekt zur Abschirmung des Herrschers und seiner Kumpane anfällig für politische Unruhe. Mittelfristig wird eine Entwicklung des Staates nur komplizierter.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Regina Smyth ist Associate Professor an der Indiana University in Bloomington. Gestützt auf Originaldaten publiziert Professor Smyth über den Zusammenhang zwischen Wahlen, Politik und politischer Partizipation in postkommunistischen Staaten. Ein großer Teil ihrer Forschungsarbeit richtet sich auf Mittlerorganisationen, die eine Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft darstellen, von Parteien und Organisationen sozialer Bewegungen bis hin zu Bürgergruppen und Aktivistennetzwerken. Ihr neues Buch "Elections, Protest and non-Democratic Regime Stability: Russia 2008–2020" erscheint 2020.