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Kommentar: In Erwartung von Veränderungen? | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: In Erwartung von Veränderungen?

Andrei Yakovlev Moskau) Andrei Yakovlev (Higher School of Economics

/ 5 Minuten zu lesen

Andrei Yakovlev von der Higher School of Economics in Moskau beleuchtet die Verfassungsreformen und den Regierungswechsel unter dem Brennglas der Realpolitik. Weniger die Gesetze als vielmehr die Umsetzung der Gesetze gerät in den Blickpunkt: Was bedeutet der Regierungswechsel für die Eliten?

Eine Arbeitsgruppe zur von Präsident Putin vorgeschlagenen Verfassungsreform setzt sich während eines Treffens mit den anvisierten Veränderungen auseinander. (© picture alliance/Iliya Pitalev/Sputnik/dpa)

Wladimir Putins Ankündigung vom 15. Januar, dass an der russischen Verfassung Änderungen vorgenommen werden sollen, hat umgehend die Aufmerksamkeit sehr vieler Experten erregt. Zu den Realien in Russland gehört nun allerdings auch, dass weniger die Gesetze selbst (einschließlich der Verfassung) von Bedeutung sind als vielmehr die Praxis der Rechtsanwendung. Diese Praxis wird von konkreten Menschen im Staatsapparat bestimmt. Vor diesem Hintergrund haben nicht die Änderungen an der Verfassung eine reale Bedeutung für das politische Leben, sondern die Entscheidung über die Ablösung der Regierung.

Für einen Kommentar über diesen Vorgang sollte auf drei Fragen näher eingegangen werden:

  • Welches Signal sendet der Regierungswechsel an die derzeitigen Eliten?

  • Warum wurde diese Entscheidung gerade jetzt getroffen (und nicht etwa im Mai 2018, als die zweite Amtszeit von Wladimir Putin als Präsident Russlands begann)?

  • Was ist von der neuen Regierung zu erwarten?

Die Antwort auf die erste Frage scheint recht eindeutig zu sein: Im Land vollzieht sich ein Generationenwechsel in der Elite der Bürokratie. Dieser Prozess wurde 2017/18 mit einer Erneuerung innerhalb der Gouverneursriege angestoßen, als der Kreml begann, junge Technokraten zu Gouverneuren zu ernennen, die die Schule der "Kaderreserve" des Präsidenten durchlaufen hatten. Jetzt sind die Minister der Zentralregierung an der Reihe. Dabei besteht die allgemeine Tendenz darin, dass von den Neuernannten nicht nur Loyalität gefordert wird (wie noch Mitte der 2000er Jahre), sondern auch die Fähigkeit, Probleme im eigenen Zuständigkeitsbereich selbständig unter Einsatz der vorhandenen begrenzten Ressourcen zu lösen. Meiner Ansicht nach ist das ein recht wichtiges Signal an die derzeitigen Eliten (nach dem Motto: "Ihr müsst schneller laufen, wenn ihr eure Positionen behalten wollt."). Dabei ist allerdings auch zu betonen, dass die personelle Erneuerung nur im sozialen und wirtschaftlichen Block der Regierung stattfand, aber praktisch kaum den Block der Silowiki betraf, deren Vertreter in den vergangenen Jahren bei strategischen Entscheidungen eine Schlüsselrolle gespielt haben.

Bei der Antwort auf die zweite Frage sind Varianten möglich. Einerseits könnte sie ganz offensichtlich lauten: Der Kreml hat die Regierung angesichts des Ausmaßes der Anspannung und der gesteigerten Gereiztheit in der Gesellschaft lediglich als Blitzableiter benutzt, indem er die Verantwortung für die wirtschaftliche Stagnation und die fehlenden Aussichten, hieraus einen Ausweg zu finden, auf Dmitrij Medwedew und dessen Minister abwälzte. Ein zweiter Anlass wäre das Fehlen sichtbarer Fortschritte bei der Umsetzung der "nationalen Projekte", die 2018 von Wladimir Putin verkündet worden waren.

Andererseits könnte man annehmen, dass die alte Regierung bewusst im Amt gelassen worden war, damit ihr dann die negativen Folgen des zuvor geplanten komplexen Umbaus im Sozialbereich – insbesondere die Rentenreform und die "Optimierung" des Gesundheitssystems – zugeschreiben werden können. In dieser Logik bedeutete die Ablösung der Regierung, dass das alte Kabinett gehen kann, weil es seine Aufgabe erfüllt hat. Und die neue Regierung würde neue Aufgaben zu lösen haben.

Welche Aufgaben wären das? Auch hier sind mehrere Varianten möglich. Eine geht dahin, dass sich die Regierung auf die Umsetzung der "nationalen Projekte" konzentrieren soll, damit das Regime bis zu den Wahlen 2021 mit sichtbaren und für die Gesellschaft spürbaren Ergebnissen in bestimmten Bereichen Rechenschaft ablegen kann. Diese Antwort erschein als die einfachste und offensichtlichste, lenkt aber wohl in Wirklichkeit vom eigentlichen Problem ab: jedes Projekt wird letztendlich nicht von Ministern oder Gouverneuren umgesetzt, sondern von konkreten Menschen auf der Ebene der Firmen, staatlichen Organisationen und Kommunalverwaltungen, und zwar unter Berücksichtigung der verfügbaren Ressourcen. Zudem sehen die "nationalen Projekte in ihrer jetzigen Gestalt eine Kofinanzierung durch die Regionen und die Wirtschaft vor. Und wenn all diese Akteure keine Aussicht auf wirtschaftliche Entwicklung erkennen, und auch kein verständliches Zukunftsbild für das Land und ihren Platz in dieser Zukunft, wird es für sie keine Anreize zu Investitionen geben. Das bedeutet, dass die nationalen Projekte (und die damit verbundenen Versprechen von 2018 im Sozialbereich) selbst mit effektiven Managern auf dem Posten des Ministerpräsidenten nicht umgesetzt werden.

Eine andere mögliche Antwort zu den Aufgaben der Regierung ergibt sich aus der oben genannten alternativen Interpretation der Gründe für den Regierungswechsel. Bei einer Beurteilung, wie effizient die Regierung unter Dmitrij Medwedew, der fast 8 Jahre schon im Amt ist, gearbeitet hat, muss man sich richtigerweise vor Augen halten, welche Aufgaben sie in Wirklichkeit angegangen ist. Natürlich wurde von 2012 bis 2014 der Versuch unternommen, die "Maierlasse" von 2012 umzusetzen (allerdings erfolgte das bereits damals hauptsächlich über die Mobilisierung von Ressourcen aus den regionalen Haushalten). Ab 2014 wandte sich die Regierung Medwedew – folgt man nicht den Erklärungen, sondern dem Vorgehen in der Praxis – eher anderen Aufgaben zu, die auf die Bildung von Reserven für "außerordentliche Umstände" abzielten.

Zu diesen "Umständen" konnten die verschiedensten Dinge gehören, die potenziell die nationale Sicherheit gefährden, angefangen bei einer Verschärfung der Sanktionen des Westens und der Beteiligung Russlands an militärischen Konflikten bis zu einem Rückgang der Ölpreise auf den Weltmärkten und sozial motivierten Massenprotesten innerhalb des Landes. Im Kontext dieser Gefahren können nun Maßnahmen wie die ausbleibende Stützung des Rubelkurses (als dieser im Herbst 2014 einbrach), die anschließende beispiellose Anhebung der Leitzinsen, die Reduzierung der Dollarreserven und die drastische Erhöhung des Goldanteils bei den Devisenreserven wie auch die Streichung sozialer Verpflichtungen aus dem föderalen Haushalt im Zuge der Rentenreform und die "Optimierung" des Gesundheitssystems als Bestandteile einer durchaus konsequenten Wirtschaftspolitik betrachtet werden. Wenn die Aufgabe der alten Regierung darin bestanden haben sollte, die aktuelle Stabilität aufrecht zu erhalten und dabei Reserven für einen "schwarzen Tag" anzusammeln, so hat sie diese Aufgaben insgesamt gelöst.

Eine solche Politik birgt allerdings ein grundsätzliches Problem: Die Dominanz von Sicherheitsprioritäten bei strategischen Entscheidungen und auch die Orientierung auf eine Minimierung der Risiken und eine Aufrechterhaltung der sozialen und politischen Stabilität blockieren auf kurze Sicht Entwicklungsmöglichkeiten und erzeugen in der Gesellschaft Spannungen. Dadurch verliert das Regime die Möglichkeit, auch auf lange Sicht Stabilität zu gewährleisten. Das wiederum wäre für die herrschende Elite in absehbarer Zukunft mit ernsten politischen Verwerfungen verknüpft. Wenn man davon ausgeht, dass die Leute im Kreml sich dieses Problems bewusst sind, dann könnte die neue Regierung einen Freischein zur Entwicklung und Umsetzung einer neuen Strategie zur wirtschaftlichen Entwicklung erhalten. Diese müsste dann für die Wirtschaft und die Verwaltungseliten überzeugend sein und auch das Vertrauen der Gesellschaft gewinnen können.

Angesichts der politischen Ereignisse des vergangenen Jahres und der Konflikte innerhalb der Eliten erscheint ein solches Szenario allerdings wenig wahrscheinlich. Ob es in der Praxis umgesetzt werden kann, wird sich schon im Frühling zeigen. Um den gegenwärtigen Trend zur Stagnation in der Wirtschaft zu durchbrechen, müssen sich die Erwartungen ändern. Die Ernennung einer neuen Regierung hat in der Gesellschaft zu einer verhaltenen Verbesserung der Stimmung geführt, und zwar bislang deshalb, weil neue Gesichter erschienen sind. Sollten diese neuen Leute eine verständliche, auf Entwicklung ausgerichtete Agenda vorlegen, könnten sich die aktuellen positiven Erwartungen verfestigen und zu einem Faktor für wirtschaftliche Dynamik werden. Falls aber in den kommenden zwei bis drei Monaten keine neue Agenda geschaffen wird, werden die jetzt entstandenen Erwartungen weggeweht und Russland wird wieder auf jene Bahn zurückgeworfen, auf der es sich die letzten Jahre befunden hat.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Fussnoten

Andrei Yakovlev ist Direktor des Instituts für Industrie- und Marktstudien sowie Direktor des Internationalen Zentrums für Institutions- und Entwicklungsstudien und Professor im Fachbereich für Politik und Staatsführung an der Nationale Forschungsuniversität – Hochschule der Wirtschaftswissenschaft in Moskau.