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Kommentar: Russland. Eine superpräsidentielle Republik. Implikationen eines Gesetzentwurfes zur Verfassungsänderung | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Russland. Eine superpräsidentielle Republik. Implikationen eines Gesetzentwurfes zur Verfassungsänderung

Alexander Dubowy Wien) Alexander Dubowy (Institut für Sicherheitspolitik

/ 5 Minuten zu lesen

Wie sieht der Gesetzesentwurf über die Änderungen der Verfassung Russlands aus, den Präsident Putin am 20. Januar dem Parlament vorlegte? Dieser Kommentar widmet sich den angestoßenen Veränderungen und zeigt die kosmetische Natur der Vorschläge auf.

Wladimir Putin vor einem Kabinettstreffen im Januar 2020. Sein Vorschlag zur Verfassungsänderung sieht vor, die Kompetenzen des Präsidenten auszuweiten. (© picture alliance / AP Photo)

Nach den Ankündigungen Vladimir Putins bei seiner "Botschaft an die Föderalversammlung" vom 15. Januar 2020 konnten die Erwartungen kaum größer sein. Alexej Kudrin, ehemaliger Finanzminister, soll angesichts der Versprechen, das Parlament auf Kosten des Präsidenten zu stärken, sogar von "zarten Schritten in Richtung einer parlamentarischen Republik" gesprochen haben. Tatsächlich legte Wladimir Putin bereits am 20. Januar 2020 der Staatsduma einen Gesetzentwurf über die Änderungen der Verfassung der Russischen Föderation vor, der Gegenstand des folgenden Kommentars ist.

Als vorläufiges Fazit zur Verfassungsreform in Russland kann folgendes festgehalten werden. Alle Änderungen sind weitgehend rein kosmetischer Natur. Selbst die Ausweiterung präsidialer Kompetenzen bestätigt lediglich die bereits gängige Verfassungspraxis. Nach wie vor bleibt Russland de iure ein präsidial-parlamentarisches System; gemäß gelebter Verfassungswirklichkeit aber eine superpräsidentielle Republik. Die Chance, das Verhältnis zwischen den Staatsgewalten auszubalancieren und in das gegenwärtig defekte System von Checks and Balances korrigierend einzugreifen, bleibt ungenutzt. Die Defizite werden gar verstärkt.

Die umstrittenste Änderung ist die Neufassung des Artikel 79 (Beteiligung an internationalen Zusammenschlüssen) der Verfassung der Russischen Föderation (VfRF), die der höherrangigen Norm des Art. 15 Abs. 4 VfRF (Vorrang internationalen Rechts) widerspricht. Werden Entscheidungen durch zwischenstaatliche Vereinigungen (auch solche an denen Russland teilnimmt) getroffen, so bleiben jene Entscheidungen in Russland nicht vollstreckbar, die unter Heranziehung einer der russischen Verfassung widersprechenden Auslegung eines völkerrechtlichen Abkommens erfolgt sind. Russland behält somit die Deutungshoheit über die Umsetzung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser Aufwand wird verständlich, wenn man weiß, dass der zum Kapitel Grundlagen der Verfassungsordnung gehörende Art. 15 Abs. 4 VfRF nicht vom Parlament, sondern nur durch eine Gesamtänderung der Verfassung durch eine Verfassungsversammlung geändert werden kann. Ein Gesetz über die Verfassungsversammlung ist aber seit 1993 nicht verabschiedet worden. Nachdem der ungeliebte Art. 15 Abs. 4 VfRF aber nicht direkt aufgehoben werden kann, wird zu solchen komplexen Umgehungskonstruktionen gegriffen.

Ins Auge sticht sofort, dass die Kompetenzen des Präsidenten durch die Verfassungsreform nicht eingeschränkt, sondern wesentlich erweitert werden. So wird bspw. in den Art. 83 VfRF eine Litera d1 aufgenommen, welche dem Präsidenten das ausdrückliche Recht einräumt, die Leiter von föderalen Behörden (inklusive der Minister) in den Bereichen Verteidigung, Sicherheit, Inneres, Justiz, Äußeres, Katastrophenschutz, Öffentliche Sicherheit zu ernennen, aber auch abzusetzen. Die Voraussetzung hierfür bilden lediglich vorangehende Konsultationen mit dem Föderationsrat. Die übrigen Minister der Russischen Föderation werden vom Ministerpräsidenten der Staatsduma zur Bestätigung vorgeschlagen. Dies stellt lediglich eine unwesentliche formale Stärkung parlamentarischer Zuständigkeiten dar.

Darüber hinaus bekommt der Präsident mit der Neufassung des Art. 83 lit. e VfRF (neu) sowohl das Recht, dem Föderationsrat die Kandidaten für die Posten des Vorsitzenden des Verfassungsgerichts, des stellvertretenden Vorsitzenden sowie der Richter des Verfassungsgerichts vorzuschlagen, als auch das Recht die Vorschläge über die Absetzung der Verfassungsrichter zu unterbreiten. Ganz der Logik russischer Verfassungswirklichkeit folgend kommt in Zukunft dem Präsidenten die Kontrolle über das Verfassungsgericht zu. Und gemäß der Neufassung des Art. 95 Abs. 2 VfRF (neu) gehören dem Föderationsrat in Zukunft auch vom Präsidenten ernannte sogenannte VertreterInnen der Russischen Föderation an; allerdings nicht mehr als 10 % der Gesamtanzahl der Mitglieder des Föderationsrates.

Schließlich erhält der Präsident bei Gesetzesinitiativen gemäß Art. 107 Abs. 3 VfRF (neu) eine weitere Möglichkeit, das parlamentarische Veto durch Anrufung des Verfassungsgerichts mit der Bitte um Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes zu überwinden. Im Grunde wird mit der Neufassung die ursprünglich vorgesehene Möglichkeit eines parlamentarischen Beharrungsbeschlusses wesentlich erschwert.

Der Staatsrat, das 2000 durch ein Präsidialdekret gegründete Beratungsgremium beim Präsidenten, wird in Zukunft nicht, wie von vielen erwartet, im Zusammenwirken zwischen der Exekutive und der Legislative, sondern ausschließlich durch den Präsidenten gemäß Art. 83 lit. g1 VfRF (neu) gebildet. Entgegen der Ankündigung von Wladimir Putin wird der Staatsrat nicht in der Verfassung verankert, sondern nur einmal erwähnt. Der Status des Staatsrates soll durch ein föderales Gesetz festgelegt werden. Nachdem aber die föderalen Gesetze gemäß Art. 15 Abs. 1 VfRF nicht der Verfassung widersprechen dürfen, ist die Beschränkung des Staatsrates auf eine beratende Funktion abzusehen. Bei den Hinweisen auf die Aufgaben des Staatsrates, insbesondere auf die Gewährleistung des "aufeinander abgestimmte Funktionieren[s] und Zusammenwirken[s] der Organe der Staatsgewalt" sowie auf die Richtlinienkompetenz bei der Außen- und Innenpolitik handelt es sich lediglich um eine wortgetreue Wiedergabe präsidialer Kompetenzen gemäß Art. 80 Abs. 2 und Abs. 3 VfRF und somit um einen Hinweis auf die Beratungs- und Unterstützungsfunktion des Staatsrates gegenüber dem Präsidenten.

Für einen starken Staatsrat bedarf es aber nicht nur der Umgestaltung präsidialer Kompetenzen auf dem Wege einer "einfachen" Verfassungsreform, sondern auch einer Neuregelung des Verhältnisses zwischen den Staatsgewalten und somit der Überarbeitung des Art. 11 Abs. 1 VfRF. Dazu muss aber in die Grundlagen der Verfassungsordnung eingegriffen werden. Eine solche Verfassungsänderung kann aber nicht vom Parlament, sondern ausschließlich von einer Verfassungsversammlung durchgeführt werden.

Somit kann und wird der Staatsrat in der gegenwärtigen Form keine einflussreiche Position einnehmen, jedenfalls nicht formal. Aber ähnlich wie im Falle der Präsidialadministration kann die Einflussnahme des Staatsrates auf informellem Wege erfolgen. Wie der Staatsrat wird auch die Präsidialadministration nur einmal in der Verfassung in Art. 83 lit. i VfRF erwähnt. Dennoch ist (und bleibt) die Präsidialadministration die einflussreichste Struktur im Machtsystem Russlands; viele sehen in ihr eine Art persönliches Schattenkabinett des Präsidenten. Die Einflussnahme des Staatsrates wird somit auf informellem Wege erfolgen müssen und nur, wenn der Präsident es möchte, zulässt und fördert. Im letzteren Fall ist der Konflikt zwischen dem Staatsrat und der Präsidialadministration vorprogrammiert.

Als wahrscheinlich drängt sich die folgende Lesart dieser Verfassungsreform auf: Mit der Erweiterung präsidialer Kompetenzen, dem Ausbau des präsidialen Einflusses über den Föderationsrat und der Einführung eines zusätzlichen Vetorechts gegenüber parlamentarischen Gesetzesinitiativen reagiert der Kreml auf die Protestwellen der Jahre 2018/2019, behält die Kontrolle über den Machtübergang 2024 und bereitet sich – vorsorglich – auf eine nicht zu Kooperationen bereite, "präsidentenunfreundliche" Staatsduma vor.

Freilich wäre es denkbar, dass die geplanten Verfassungsänderungen nur der Vorbereitung einer weiteren grundlegenden Verfassungsreform dienen. So vertritt Dmitri Trenin, Leiter des Carnegie Moscow Center, die Ansicht, dass Putin eine grundlegende Reform des gesamten Staats- und Machtsystems plant und dass die gegenwärtigen Verfassungsänderungen letztlich nur einen Zwischenschritt darstellen. Noch kann mit abschließender Sicherheit nichts dazu gesagt werden. So schnell aber, wie sich die Dinge in den vergangenen Tagen entwickeln, werden wir bald mehr erfahren. Der Beginn der Vorbereitungen eines Gesetzes über die Verfassungsversammlung wäre ein eindeutiges Zeichen für eine grundlegende Neukonzeption der Verfassung. Wahrscheinlich ist es nicht, jedenfalls nicht aus heutiger Sicht, und überraschend wäre es allemal. Doch wäre es nicht das erste Mal, dass Wladimir Putin alle überrascht.

Fussnoten

Dr. Alexander Dubowy ist Forscher im Bereich Internationale Beziehungen und Sicherheitspolitik mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum sowie wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik (ISP) in Wien.