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Kommentar: Kontrollierte Verwirrung | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Kontrollierte Verwirrung

Jan Matti Dollbaum Jan Matti Dollbaum (Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen)

/ 5 Minuten zu lesen

Die Verwirrung um die umfangreichen Reformen, die Präsident Wladimir Putin angekündigt hat, ist groß. Eins scheint jedoch klar: Die Verwirrung hat Putin bewusst ausgelöst, um sich im Ringen um die Macht vorteilhaft zu positionieren. Ein Interpretationsversuch und ein Blick auf das Echo der Reformen.

Nach Wladimir Putins Ankündigung einer Verfassungsreform hat der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew seinen Rücktritt angekündigt. (© picture alliance / AP Photo)

Am 15. Januar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin unerwartet umfangreiche Verfassungsänderungen an. Am selben Tag traten Ministerpräsident Dmitri Medwedew und seine Regierung zurück, um "dem Präsidenten die Möglichkeit zu geben, die notwendigen Entscheidungen zu treffen". Innerhalb einer Woche war eine neue Regierung unter der Leitung des vormaligen Chefs des Föderalen Steuerdienstes Michail Mischustin im Amt, und das Parlament nahm die Verfassungsänderungen in erster Lesung an.

Es scheint also, als sei es Putin einmal mehr gelungen: Er überraschte Beobachter und den Großteil der russischen Eliten mit einem Schritt, der Teil eines noch unbekannten, aber möglicherweise zukunftsentscheidenden Plans ist. Folglich wurden die Ereignisse schnell als "Spezialoperation" bezeichnet: ein schnelles Manöver mit möglichst wenig Eingeweihten, ganz nach Putins bevorzugter Arbeitsweise. Das Timing unterstreicht Putins Fähigkeit, die Eliten zu steuern und die Agenda zu kontrollieren. Nicht, dass dies jemals in Frage stand, doch um seine Rolle als letzte Instanz und Personifikation der Macht zu untermauern, sind solche öffentlichen Demonstrationen gelegentlich unerlässlich.

Die in erster Lesung angenommenen Änderungen schaffen die institutionellen Grundlagen für die Verlängerung von Putins De-facto-Herrschaft über das Jahr 2024 hinaus, wenn er als Präsident zurücktreten muss. Zunächst sahen viele Kommentatoren darin eine Stärkung der Gewaltenteilung: Die Zahl der Amtszeiten des Präsidenten wurde auf zwei beschränkt, und das Parlament erhält ein größeres Mitspracherecht bei der Ernennung von Ministern (mit Ausnahme des so genannten "Sicherheitsblocks"). Bei genauerem Hinsehen wurde jedoch deutlich, dass die Maßnahmen, die angeblich das Amt des Präsidenten schwächen, kosmetischer Natur sind, während einige föderale Befugnisse sogar ausgeweitet und einige Kontrollmechanismen aufgehoben wurden: Der Präsident kann nun regionale Staatsanwälte ernennen, die Kommunen unterstehen fortan den föderalen und regionalen Behörden, und der Föderationsrat kann nun auf Antrag des Präsidenten Richter des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichtshofs absetzen.

Gleichzeitig erhält der Staatsrat Verfassungsrang. Dieser Kreis, dem Vertreter der Präsidialverwaltung, der Bundes- und Regionalregierungen, der Regierungspartei sowie die Chefs einiger staatlicher Unternehmen und Banken angehören, stellt eine potenzielle Position für Putin dar, von der aus er den künftigen Präsidenten und Premierminister kontrollieren könnte. Die spezifische Struktur dieses Rates sowie seine zukünftige Rolle bleiben zunächst jedoch im Dunkeln und müssen erst noch gesetzlich festgelegt werden.

Aus der Perspektive von Protest und oppositioneller Mobilisierung scheinen zwei weitere Veränderungen noch bedeutsamer zu sein. Erstens: Die Möglichkeit der Bundesbehörden, jeden von hohen staatlichen Ämtern auszuschließen, der in den letzten 25 Jahren eine zweite Staatsbürgerschaft oder eine befristete Aufenthaltsgenehmigung im Ausland besaß, wirkt sich möglicherweise auf viele zukünftige Kandidaten aus, die im Ausland gearbeitet oder studiert haben. Zweitens bedeutet die Entscheidung, der Verfassung Vorrang vor dem Völkerrecht einzuräumen, dass sich Russland nicht mehr an die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gebunden fühlen wird. Der EGMR war bisher eine zuweilen langsame, aber angesehene und oft genutzte Stütze für Aktivisten, die Opfer staatlicher Repression geworden waren.

Die parlamentarische Opposition hat auf diese Veränderungen bisher kaum reagiert. Walerij Raschkin von der Kommunistischen Partei warnte vor den Gefahren einer Zementierung der Macht Putins und enthielt sich der Stimme, ebenso wie ein weiterer Abgeordneter der KPRF. Die meisten beklagten jedoch lediglich die Praxis der "Paketabstimmung" (die Verschmelzung willkommener Änderungen wie der Amtszeitbegrenzung und der Angleichung des Mindestlohns an das Existenzminimum mit der unerwünschten Stärkung des Präsidentenamtes) – und stimmten in erster Lesung für den Gesetzentwurf. Da für Projekte des Präsidenten einstimmige Unterstützung erwartet wird, erhielt er tatsächlich keine einzige Gegenstimme. Der Vorsitzende der Kommunisten, Gennadij Zjuganow, äußerte unterdessen die Hoffnung, dass in zweiter Lesung die Vorschläge der KPRF – etwa ein in der Verfassung verankerter höherer Mindestlohn – berücksichtigt werden.

Auch die nichtparlamentarische Opposition kritisiert die Initiative zwar routinemäßig, koordiniert aber derzeit aus zwei Gründen keinen Widerstand. Erstens ist das volle Ausmaß der Veränderungen noch unklar. Nawalnyj beispielsweise spekulierte, dass die "schlimmsten Neuerungen" erst in zweiter Lesung eingebracht werden und rief zu Geduld auf, bis alle geplanten Änderungen bekannt sind.

Zweitens: Obgleich etwa 22.000 Menschen eine Petition unterschrieben, in der die Änderungen als "Staatsstreich" bezeichnet werden, sind viele Liberale nicht eben begeistert von der bestehenden superpräsidentiellen Verfassung und daher kaum bereit, sie zu verteidigen. Grigorij Jawlinskij von der Jabloko-Partei schlug vor, stattdessen für liberale Änderungen zu mobilisieren, während Iwan Schdanow, Leiter von Nawalnyjs Anti-Korruptionsstiftung, erklärte, dass die Verfassung selbst den Behörden Mechanismen an die Hand gebe, die es erlaubten, ihre liberal-demokratischen Passagen zu umgehen. Wie üblich fand Nawalnyj die schärfste Formulierung für diese Position: "Die russische Verfassung ist widerlich. (…) Auf Basis dieser Verfassung ist uns alles genommen worden – von den Wahlen bis zu den Renten – und so soll es weitergehen. Es gibt keinen Grund, sie zu verteidigen."

Angesichts der Flut von Kommentaren und Social-Media-Beiträgen scheint der Regierungswechsel für oppositionelle Akteure und Beobachter in Russland deutlich wichtiger zu sein. Nawalnyj, der die Verfassungsänderungen nur zögerlich kommentierte, veröffentlichte nur wenige Tage nach seiner Ernennung eine 20-minütige Untersuchung über das Privatvermögen von Premierminister Mischustin. Der Politologe und liberale Analytiker Kirill Rogow betonte, dass die Veränderungen im Vergleich zur früheren Regierung kleiner seien, als sie zunächst schienen, da die neuen Minister fast ausschließlich im Staatsdienst unter Putin sozialisiert wurden und eine deutliche dirigistische Ausrichtung haben. Andere hingegen äußerten die vorsichtige Hoffnung, dass Mischustin den geordneten, technologieorientierten Ansatz seiner Reformen zur Steuererhebung für eine verbesserte Transparenz der Regierungsausgaben einsetzen und höhere staatliche Investitionen anschieben wird.

Zusammengenommen werfen diese schnell vollzogenen Veränderungen mehr Fragen auf als Antworten, und die Verfassungsänderungen geben bisher keinen klaren Weg für die Politik nach 2024 vor. Eine Absicht dieses Manövers scheint daher zu sein, deutlich zu signalisieren, wer die nächsten wichtigen Schritte unternimmt – und zugleich Unsicherheit zu erzeugen, wie diese Schritte aussehen könnten. Damit hat Putin einen Zustand der koordinierten Verwirrung geschaffen und so seinen First-Mover-Vorteil in der laufenden "Operation Machterhalt" ausgebaut.

Fussnoten

Jan Matti Dollbaum arbeitet ab März 2020 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) an der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Diese Publikation ist im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes "Comparing protest actions in Soviet and post-Soviet spaces" entstanden, das von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen mit finanzieller Unterstützung der Volkswagen-Stiftung koordiniert wird.