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Analyse: Die Russische Orthodoxe Kirche ändert wegen der Krise der "Weltorthodoxie" ihre globale Politik | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Russische Orthodoxe Kirche ändert wegen der Krise der "Weltorthodoxie" ihre globale Politik

Nikolay Mitrokhin

/ 12 Minuten zu lesen

Die Bestrebungen der Russisch Orthodoxen Kirche (ROK), sich auch für nicht-russischsprachige Gläubige zu öffnen und sich in Richtung einer globalen Kirche zu entwickeln, führen zu einer Reihe von Brüchen mit alten Traditionen. Die durchgeführten Veränderungen umfassen unter anderem den Umgang mit Taufnamen und die Errichtung von Exarchaten in verschiedenen Ländern.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche (im Bild eine Kirche auf King George Island in der Antarktis) will sich nun auch für andere Sprachen öffnen. (© picture alliance/Global Warming Images)

Zusammenfassung

Angesichts des heftigen Konflikts in der "Weltorthodoxie" erhielt die Russische Orthodoxe Kirche unerwartet einen erheblichen Impuls zur eigenen Weiterentwicklung und zur Umwandlung in eine wahrhaft globale Kirche, die mit dem System der ihrer ethnischen Zusammensetzung nach "griechischen" Patriarchate weltweit in Konkurrenz tritt. Ausgelöst wurde der Konflikt durch die Verleihung der Autokephalie für die im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfes von Petro Poroschenko neugeschaffene Orthodoxe Kirche der Ukraine durch den in Istanbul residierenden Ökumenischen Patriarchen Bartholomeos I. Die Russische Orthodoxe Kirche hat 2019 einige bedeutende Schritte hierzu unternommen. Gekrönt wurde dies durch eine Reihe wichtiger Erklärungen des Moskauer Patriarchen Ende 2019, die die Absicht erkennen ließen, die Expansion auch 2020 auszuweiten, bei einer faktischen Abkehr vom Konzept der "Russischen Welt" (Russkij mir) und sogar vom griechischen Erbe der russischen Kultur.

Einleitung

Der Konflikt 2018 zwischen dem Ökumenischen Patriarchen und der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) über die "ukrainische Frage" ist ein weiteres und in den vergangenen 100 Jahren längst nicht das erste Beispiel für die Konfrontation der beiden Kirchen in ihrem Kampf um die Führerschaft in der "Weltorthodoxie". Letztere stellt ein System wechselseitiger Anerkennung zwischen den 14 orthodoxen Kirchenorganisationen der Welt, die über einen unabhängigen Status verfügen. Es handelt sich allerdings um eine Konfrontation von erheblichem Ausmaß, die möglicherweise zu einem Bruch des sensiblen Geflechts wechselseitiger Anerkennungen führt, und es hat bereits zu beträchtlichen Veränderungen in der Strategie der ROK geführt. Es haben sich in der Weltorthodoxie unter den 14 nationalen Landeskirchen zwei große Blöcke herausgebildet. Unter der Führung des Ökumenischen Patriarchats sind u. a. die Kirchen von Albanien, Jerusalem und Griechenland vertreten. Unter der Führung der ROK sind überwiegend slawische Kirchen verbunden. Und es ist durchaus möglich, dass dieser Anstoß ausreicht, dass diese beiden Blöcke die Weltorthodoxie in zwei Teile zerbrechen lassen.

Das Ökumenische Patriarchat mit Sitz in der Türkei vereinigt zwar eine geringe Zahl von Gemeinden, ist allerdings in Bezug auf die Gemeinden der Diasporen und durch seine Befähigung, unterschiedlichsten Kirchenorganisationen ganz verschiedener Sprachen und in unterschiedlichen Ländern den Status einer autonomen oder autokephalen Kirche zu verleihen, stark. Deshalb ist es eine globale Kirche.

Vereinigung

Die ROK hatte sich früher hauptsächlich auf russischsprachige und kulturell russische Gläubige konzentriert. Sie hat zwar auch in der ganzen Welt Gemeinden und Bistümer errichtet und beispielsweise die Japanische Orthodoxe Kirche in ihren Bestand aufgenommen. Insgesamt jedoch drängte sie darauf, diese in ein russischsprachiges kulturelles Milieu und in den recht strengen administrativen Rahmen des Moskauer Patriarchats und seiner Amtsträger und Statthalter einzubinden.

In den 2000er Jahren setzten allerdings taktische Änderungen der Strategie ein, die bis 2020 zu strategischen Änderungen ihrer Politik geführt haben. Im Jahr 2006, als die ROK die Russische Orthodoxe Kirche im Ausland in ihren Bestand aufnahm, ließ sie zum ersten Mal ein paralleles System der Verwaltung der Gemeinden auf demselben geografischen Gebiet zu (vor allem in Deutschland). Und sie erlaubte in ihrem Bestand die Existenz von kirchlichen Verwaltungseinheiten mit einer eigenen Satzung.

2019 erfolgte die Aufnahme des Erzbistum der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition in Westeuropa durch die ROK. Das Erzbistum war die zweitgrößte russischsprachige orthodoxe Kirche der Diaspora (mit Sitz in Frankreich), die dem Ökumenischen Patriarchat unterstand. Ungeachtet ihrer russischen Wurzeln unterschied sich die interne Organisation des Erzbistums durch ihren demokratischen Charakter, ihre Sprache und ihre Traditionen erheblich von der ROK. Das Ökumenische Patriarchat hatte das Erzbistum, das 80 Jahre unter seiner Führung gestanden hatte, 2018 aufgelöst. Das Erzbistum wollte sich jedoch nicht auflösen und nicht mit seinen Gemeinden in gewöhnlichen Metropolien (Bistümern) des Ökumenischen Patriarchats aufgehen. Nach langwierigen Diskussionen schloss sich das Oberhaupt des Erzbistums und ein großer Teil der Gemeinden im Herbst 2019 der ROK als autonome Gliederung an.

Somit lässt sich eine Verfestigung der Tendenz konstatieren, dass Kirchenorganisationen, die nach eigener Satzung und eigenen Traditionen leben (indem man etwa Priester und Bischöfe wählt), neu in die ROK aufgenommen werden.

Landgewinn

Eine weitere Veränderung besteht darin, dass die ROK allmählich vom Prinzip der "kanonischen Territorien" Abstand nimmt. In der Weltorthodoxie wurden diese dazu eingerichtet, damit die Landeskirchen nicht zu oft in Konflikte geraten, wenn es zu einem "Eindringen auf das eigene Territorium" kommt. Die ROK hatte in der Vergangenheit diese Grenzen insgesamt respektiert und eine Achtung des eigenen Terrains gefordert. Der Vorstoß des Ökumenischen Patriarchats von 2018 auf das Territorium der "Kiewer Metropolie", die 332 Jahre der Kontrolle der ROK unterstanden hatte, und wo die zur ROK gehörende Ukrainische Orthodoxe Kirche die absolute Mehrheit der Gemeinden und der kirchlichen Infrastruktur stellte, führte dazu, dass die ROK von diesem Prinzip Abstand nahm. Die ROK verkündete umgehend, eigene Gemeinden auf dem Gebiet der Türkei einrichten zu wollen, das ein kanonisches Territorium des Ökumenischen Patriarchats darstellt. Da sich dies nicht sofort umsetzen ließ, beschloss die ROK, ihre Präsenz auf diejenigen Gebiete massiv auszuweiten, die das Ökumenische Patriarchat für sich beanspruchte.

Hierzu schuf die ROK am 28. Dezember 2018 Exarchate, also praktisch halbautonome hochrangige Kirchenorganisationen in Westeuropa und Südostasien. Am 26. Februar 2019 dann bestätigte die ROK deren Satzungen und interne Organisation. Innerhalb der Exarchate wurden einzelne Bistümer für die entsprechenden Länder eingerichtet (allein vier in Südostasien). Am wichtigsten war jedoch, dass nicht nur die Sorge um die gewohnten Zielgruppen betont wurde (so ernannte man für die moldauischsprachigen Gläubigen in Italien einen eigenen Bischof), sondern es wurde auch die missionarische Ausrichtung der Exarchate bestimmt. Das alles stützt sich auf eine Infrastruktur, die die ROK in diesen Regionen zum Teil bereits aufgebaut hatte. In Frankreich, dem Zentrum des westeuropäischen Exarchats, bedeutete das nicht nur eine neue Kathedrale der ROK in Paris, die 2016 eingeweiht wurde, sondern auch eine 2019 geweihte Kirche der Vertretung der ROK bei den europäischen Institutionen in Straßburg. Beide Kirchen sind von Patriarch Kirill persönlich geweiht worden, der anlässlich der Weihe direkte Unterredungen mit dem Generalsekretär des Europarates sowie mit führenden Persönlichkeiten anderer europäischer Institutionen und Frankreichs führte. Das verdeutlicht die Perspektiven der ROK, ihre Interessen in der EU und den Ländern der Region zu verfolgen.

Die ROK, die in den vergangenen 30 Jahren in dem Raum zwischen Antarktis und Färöer Inseln sowie zwischen Kanarischen Inseln und Philippinen mit kräftiger Unterstützung des russischen Staates und der Wirtschaft in Russland nicht weniger als 500 Kirchen eröffnet hat (darunter auch seit 1992 rund 70 neue Gemeinden in Deutschland), verfügt über ein beträchtliches Potenzial, sich neue Territorien allein aufgrund der weltweiten Migration russischsprachiger Menschen zu erschließen. Die ROK ist nicht nur für das Ökumenische Patriarchat eine Bedrohung, sondern auch für die "kanonischen Territorien" anderer Landeskirchen, die die Orthodoxe Kirche der Ukraine anerkannt haben, etwa das Patriarchat von Alexandria, dem orthodoxe Gemeinden in Afrika unterstehen. Am 26. Dezember 2019 wurden die Gemeinden der ROK in Afrika der Jurisdiktion von Alexandria entzogen und die Vertretung der ROK in Kairo wurde in eine Gemeinde umgewandelt.

Ein neuer Zweig

Ende des Jahres wurde deutlich, dass die missionarischen Aufrufe der ROK nicht formaler Natur sind und die Kirche tatsächlich davon Abstand nimmt, sich ausschließlich auf russischsprachige Gläubige zu konzentrieren. Diese Verschiebung erfolgte nicht auf institutioneller, sondern eher auf grundlegender theologischer Ebene. Auf einer Sitzung des Heiligen Synods der ROK am 25. Dezember 2019 wurde ein Dokument verabschiedet, an dem seit 2017 gearbeitet worden war. Das Dokument ändert die Haltung zu und den Umgang mit Taufnamen. Es erlaubt jetzt eine Taufe ohne Übernahme eines griechischen oder russischen Namens, sondern auf einen nationalsprachlichen christlichen Namen. Einerseits scheint man damit den Ball in Richtung der Russische Orthodoxe Kirche im Ausland und jener Erzbistümer zu spielen, in denen sich unter den Gläubigen eine beträchtliche Anzahl Bewohner Deutschlands, der USA, Frankreichs und anderer Lander mit einer europäischen christlichen Bevölkerung befinden, die nicht Russisch sprechen, keine russischen Wurzeln haben, und die nicht verstehen, warum sie bei der Taufe den Namen ändern und ihre Kinder mit einem zusätzlichen griechischen oder russischen Namen getauft werden müssen. Das bedeutet allerdings einen Bruch mit einer der wichtigsten orthodoxen Traditionen, zudem einer Tradition, die die ROK unmittelbar mit der "griechischen Welt" verband. Und es stellt die reale Ankündigung einer wirklich globalen Mission dar, die nicht unmittelbar auf die Russische Welt (Russkij mir) zurückgeht. Darüber hinaus schlägt die ROK eine "andere" Variante der Orthodoxie vor. Eine, bei der die nationalen Gemeinden über ein höheres Maß an Eigenständigkeit verfügen werden, und jene, die zur ROK gehören, über weitgehende Rechte. De facto bedeutet das eine Abkehr von der Konzeption der Russischen Welt oder zumindest eine Reduzierung auf deren instrumentellen Einsatz gegenüber jenen Gemeinden, die eine Nostalgie über Russland und den russischen Charakter der Emigrantengemeinschaften hegen.

Die Ansprache des Patriarchen

Das reicht allerdings nicht für eine wirkliche "globale Konkurrenz". Die ROK erlebt derzeit zu viele interne und innerrussische Probleme, die 2018 und 2019 deutlich zu Tage traten. Folgt man einer so wichtigen Informationsquelle wie der wöchentlichen Ansprache des Patriarchen an die Moskauer Geistlichkeit, so hat Kirill erkannt, dass eine Änderung seiner Politik vonnöten ist. Seine Rede vor einer Moskauer Bischofsversammlung am 20. Dezember 2019 war aus mehreren Gründen höchst interessant.

Erstens hat sich seine Rhetorik zur Ukraine offensichtlich geändert. Erklärungen vom "Brudervolk", die für das von ihm gepredigte Konzept einer Russischen Welt wichtig waren, wie auch die konfrontativen Erklärungen über die ukrainische Regierung gehören nun der Vergangenheit an (Externer Link: http://www.patriarchia.ru/db/text/5550814.html). Er sprach nur von "Glaubensbrüdern". Gleichzeitig tauchten im Wortschatz des Patriarchen das Wort "Diskriminierung" und der Appell auf, religiöse Konflikte über zivilrechtliche Normen zu lösen, was beides früher gefehlt hatte. Die Abkehr von der Rhetorik über Brudervölker und einen Bruderstaat, wenn es um die Ukraine geht, bedeutet praktisch ein Abrücken von der gescheiterten Konzeption der Russischen Welt, in der die "brüderlichen" Beziehungen zwischen der russischen, der ukrainischen und der belarussischen Ethnie grundlegend sind, und wo angesichts dieser "familiären" Beziehungen Staatlichkeit und ethnische Zugehörigkeit keine Bedeutung haben. Und von hier war es nur ein kleiner Schritt zur Erinnerung an den "größeren Bruder" und ein weiterer zur Wiederherstellung des imperialen Erbes.

Zweitens hat der Patriarch nach den heftigen Protesten der Bürger in Jekaterinburg vom Mai 2019 gegen den Bau der Katharinenkirche und dem systematischen Widerstand in Moskau gegen eine Vielzahl geplanter Kirchenbauten, die eine Aufgabe der Baupläne erzwangen, sein Programm der "200 Kirchen" nicht mehr erwähnt. Dieses gigantomanische Bauprogramm für Moskauer Kirchen war von ihm mit Bürgermeister Sobjanin abgesprochen worden und war die erste Stufe eines Bauprogramms für 600 Kirchen, die die Bevölkerungen angeblich benötige. In Wirklichkeit sind in 9 Jahren nur 57 Kirchen gebaut worden, davon zehn im vergangenen Jahr (38 sind im Bau). 112 provisorische Kirchen existieren an Standorten, die Sobjanin zugeteilt hat. Allerdings sind die Aussichten für ihren Umbau – berücksichtigt man deren Nichterwähnung in offiziellen Berichten – verschwindend gering. Insgesamt geht in Moskau das Bautempo bei Kirchen stetig zurück. Interessant ist auch, dass erstmals seit einem Jahr in Moskau kein einziges Kloster eröffnet wurde . Etwas aktiver erfolgt die Weihe von Priestern (30 pro Jahr), was kaum den natürlichen Schwund wird ausgleichen können.

Drittens hat sich die Zunahme der Bistümer und Bischöfe verlangsamt. Die erfolgten Bischofsweihen können gerade einmal den natürlichen Schwund. Praktisch bedeutet das ein Ende der administrativen Reform der Bistümer innerhalb der ROK, die eine persönliche Initiative Kirills war und durch ihre Reichweite und wenig durchdachte Struktur viel Kritik ausgelöst hatte.

Viertens wurde deutlich, dass der Patriarch die langjährige Kritik an seine Adresse erhörte, die aus seiner Hausmacht (und der ganzen ROK) erfolgte, nämlich durch den Klerus und aktive Kirchgänger. Die waren der endlosen Anordnungen von oben müde, wie auch der Anforderung, über immer mehr Punkte Rechenschaft ablegen zu müssen. Kirill sprach erstmals von der zunehmenden Bürokratisierung der kirchlichen Tätigkeit, indem er erklärte, dass es keine weiteren Rechenschaftsauflagen geben werde, dass "uns die alte reicht" und man auf der Ebene der Vikariate den Bogen hier nicht überspannen solle.

Fünftens spricht Kirill zwar auf jeder Versammlung davon, dass die Predigt notwendig sei, doch war dieser Frage jetzt nicht einfach nur ein beträchtlicher Passus der Rede gewidmet, sondern es erklangen neue Töne. Nämlich, dass intensiv an einer Russifizierung einiger Aspekte des Gottesdienstes gearbeitet werde und gleichzeitig die Vereinfachung unverständlicher kirchenslawischer Elemente nicht aufhöre. Dabei wurde den Priestern ganz liberal vorgeschlagen, selbst "im Internet" vereinfachte Varianten der einzelnen Texte zu finden. Zudem sollten die Gläubigen der Gemeinde selbst entscheiden, ob diese Texte dann in den Gottesdienst integriert werden oder alles beim Alten bleibt. Das war die Passage, die anschließend von den weltlichen Nachrichten zitiert wurde. Ihre Bedeutung ist allerdings auch im Kontext der globalisierenden Mission der ROK zu verstehen, einer Mission, die jetzt tätig werden muss – und wobei der kirchliche Gottesdienst in der Muttersprache und in zeitgenössischer Sprache die Norm, und nicht eine Ausnahme ist.

Am Schluss der Rede des Patriarchen folgten zwei typische liberale Narrative. Zum einen äußerte er sich dagegen, dass junge (und auch andere) Kleriker sich für Details des Ehelebens interessieren und hierzu besonders ihre Meinung äußern. Zum anderen, dass die strengen Fastenvorschriften nur wenig mit unserem realen Leben zu tun haben. Der Priester kann und soll seinen Gemeindemitgliedern Milderungen gewähren und festlegen, was das Fasten in jedem konkreten Fall für sie bedeutet. Aus dem Mund des Patriarchen war diese Erklärung zweifellos ein Durchbruch.

Insgesamt zeigen uns diese Erklärungen, dass die vielzähligen Belege für eine ernste Krise der ROK in Russland und der Ukraine, da die ständigen Kirchgänger abwandern (Kirill hat diese Frage kein einziges Mal angesprochen), eine mehr als offensichtliche Grundlage haben. Ausführungen, dass 80 Prozent der Bevölkerung ihren Wurzeln nach orthodox seien, wie auch solche über ein "ukrainisches Brudervolk" haben aufgehört. Im Gegenteil: Jetzt sei es Aufgabe, um jeden verbliebenen Kirchgänger zu kämpfen, seinen Ärger und Stolz zu zügeln, die Menschen anzuhören und sie angemessen zu behandeln.

Fazit

Zusammenfassend wird klar, dass der Konflikt zwischen dem Ökumenischen Patriarchen und der ROK wegen der ukrainischen Frage weitreichende Folgen haben könnte (aber nicht unbedingt haben muss). Die ständige Konkurrenz zwischen der größten und reichsten orthodoxen Kirche und der ältesten und globalsten Kirche der Orthodoxie, der Wettbewerb um Einfluss und die Kontrolle über Territorien könnten möglicherweise in einem Bruch des Vertragsgewebes der Weltorthodoxie enden. Beide Seiten haben "Satellitenkirchen" in ihrem Gravitationsfeld, die bislang noch wechselseitig Beziehungen unterhalten und sich gegenseitig anerkennen, sowie sehr kleine Kirchenorganisationen, die sich früher außerhalb der Weltorthodoxie befunden hatten, nun aber bereit sind, sich unter neuen Bedingungen in ein von einem der beiden Gravitationszentren geschaffenes System einzufügen. Die "griechischen" Patriarchen und Kirchen könnten ihre eigene, stärker zeitgemäße und moderne Auslegung der Orthodoxie entwickeln. Die ROK und ihre konservativen Verbündeten sind einerseits nicht allzu sehr geneigt, auf Herausforderungen der Moderne zu reagieren. Andererseits haben sie nicht nur im Rahmen ihrer regionalen Agenda, sondern auch der globalen Agenda ein Paket von Vorschlägen. Die ROK verfügt über eine Vielzahl ernstzunehmender und weit zurückreichender Beziehungen zu unterschiedlichen orientalen christlichen Kirchen und könnte in diesen Ländern des Nahen Ostens, in denen die "griechischen" Patriarchate stark vertreten sind, ein ernstzunehmender Akteur bleiben – wenn sie sich neue genehmere Partner sucht, die ihre Sorge um die "christlichen Länder des Nahen Ostens", die Druck und Gefahren ausgesetzt sind, zu schätzen wissen. Oder sie könnte die griechischen Patriarchate entlang mehrerer Linien spalten, für Konfrontationen dort sorgen, oder sich innerhalb der Patriarchate Bischöfe wählen, die mit der ROK stärker freundschaftlich verbunden sein wollen als mit der Kirche in der Ukraine oder dem Ökumenischen Patriarchat. Die ROK verfolgt jetzt eine solche Option, indem sie ihre Sanktionen nur gegen jene Erzbischöfe der Kirche in Griechenland und des Patriarchats Alexandria verhängt, die nun die Orthodoxe Kirche der Ukraine erwähnen (also anerkennen).

Dadurch wird die Frage des missionarischen Vorgehens eine zentrale. Die ROK versucht, nachdem sie sich von der Konzeption der Russischen Welt verabschiedet und sich im Zuge des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine als insuffizient gezeigt hat, einen ethnischen Nationalismus der "griechischen" Kirchen aufzuzeigen (und das möglicherweise mit Erfolg). Sie bietet neuen Anhängern nun einen im Vergleich zu früheren Zeiten weiteren Rahmen für eine Integration. Sie stellt ihre missionarische Tätigkeit um, damit sie nicht nur russischsprachige Gläubige, sondern auch andere sprachliche und ethnische Gruppen erreicht. Einerseits ist offensichtlich, dass sie damit nur das wiederholt, was die "griechischen" Patriarchate in den vergangenen Jahrzehnten unternommen haben. Anderseits fallen die Dimensionen einer globalen Infrastruktur, die die ROK entwickeln und finanzieren kann (möglicherweise mit einer teilweisen oder sehr beträchtlichen Unterstützung durch den russischen Staat), ebenfalls ins Gewicht. Also könnte auf dem Markt der "Weltorthodoxie", der nun durch keinerlei Übereinkommen mehr reguliert wird, eine erheblich schärfere Konkurrenz entstehen.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Über den Autor

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes "Ideologische Gruppen innerhalb der Russischen Orthodoxen Kirche in Russland und der Ukraine nach 2012: Eine vergleichende Studie zu ihrem Einfluss auf die Institutionen der Kirchenführung und ihrer Beziehung zum Staat", das von Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Fussnoten

Nikolay Mitrokhin wurde 1972 in Moskau geboren. Er war 2008 – 2014 und ist seit November 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Osteuropa (FSO) der Universität Bremen. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen (z. B. in den Zeitschriften "Osteuropa" und "Nowoje literaturnoje obosrenije", NLO) sowie mehrerer Bücher, u. a.: Mitrokhin, N.: Die russische Partei: Die Bewegung der russischen Nationalisten [Soviet and Post-Soviet Politics and Society, Bd. 120], Hannover: Ibidem Verlag 2014.