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Analyse: Russlands langfristige Wirtschaftspläne | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russlands langfristige Wirtschaftspläne

Roland Götz Berlin Roland Götz

/ 11 Minuten zu lesen

Mit der Ausarbeitung eines umfangreichen Programms soll das wirtschaftliche Wachstum Russlands gefördert werden. Dabei handelt es sich jedoch vielmehr um einen Wunschzustand als um tatsächliche Prognosen. Das politische System und die staatlichen Strukturen erschweren eine spürbare Veränderung.

Der russische Präsident Wladimir Putin und Energieminister Alexander Nowak bei einem Treffen am Rande der russischen Energiewoche in Moskau. (© picture alliance/Iliya Pitalev/Sputnik/dpa)

Zusammenfassung

Zwischen 2000 und 2018 gab Russlands Staatsspitze acht Pläne in Auftrag, die Orientierung für die langfristige Wirtschafts- und Sozialpolitik geben sollten. Umgesetzt wurden sie entweder gar nicht oder nur zum Teil. Dass der 2018 beschlossene Plan, genannt "Prognose der sozialökonomischen Entwicklung der Russischen Föderation bis 2036", realisiert werden kann, ist ebenfalls unwahrscheinlich. Voraussetzung für sein Gelingen wäre eine deutliche Verbesserung des Investitionsklimas, wofür vor allem das Vertrauen der Unternehmer in die staatlichen Strukturen gestärkt werden müsste. Dies setzt eine Reform des politischen Systems voraus, woran die herrschenden Kreise jedoch kein Interesse haben, weil sie dann um ihre Privilegien fürchten müssten.

Pläne für die Marktwirtschaft

Nach Überwindung der Transformationsrezession in der ersten Hälfte der 1990er Jahre sowie der Finanzkrise 1998 hielt Russlands Staatsspitze die Ausarbeitung langfristiger Wirtschaftsprogramme für erforderlich. Diese als "Strategie", "Konzept" oder "Prognose" bezeichneten Planungen setzen unter anderem Ziele für Produktion, Investitionen, Außenhandel und die demographische Entwicklung auf nationaler und regionaler Ebene. Während Experten unterschiedlicher Richtungen Entwürfe erarbeiten, folgen die Endfassungen den genauen Vorgaben von Präsident und Regierung (siehe dazu den Beitrag von Vera Rogova in der Bibliografie). Die geforderten Maßnahmen entstammen dem Instrumentarium der Wirtschaftsförderung und Innovationspolitik in der Marktwirtschaft und nicht dem einer planwirtschaftlichen Geld-, Fiskal- und Währungspolitik, wie sie Sergej Glasjew und andere fordern (siehe dazu den Beitrag von Roland Götz in der Bibliografie).

"Strategie 2010"

Der im August 1999 von Präsident Boris Jelzin als Premierminister eingesetzte Wladimir Putin hatte Ende 1999 die Gründung des Moskauer "Zentrums für strategische Studien" (Center for Strategic Research, CSR) angeordnet. Es verfasste in seinem Auftrag im Jahr 2000 ein bis 2010 konzipiertes Wirtschaftsprogramm mit dem Titel "Grundrichtungen der langfristigen Sozial- und Wirtschaftspolitik der Regierung – Strategie 2010". Leitende Mitarbeiter des CSR wie German Gref, Alexej Kudrin, Arkadij Dworkowitsch, Alexej Uljukajew und Elwira Nabiullina erhielten Regierungsposten und konnten so Teile dieses Programms verwirklichen, wozu eine Steuer- und Budgetreform sowie die Einrichtung eines Devisen-Reservefonds gehörten. Durch den starken Anstieg des Erdölpreises und die dadurch motivierte Wiederinbetriebnahme stillgelegter Ölfelder kam in Russland ab dem Jahr 2000 ein Ölexportboom in Gang, der dazu führte, dass die im Programm geplanten hohen Wachstumsraten der Produktion und der Einkommen sogar noch übertroffen wurden und die staatlichen Auslandsschulden fast vollständig abgebaut werden konnten. Andere Programmpunkte wie die Reform der Verwaltung und des Justizsystems oder die Diversifizierung der Wirtschaft wurden jedoch nur in geringem Umfang in die Tat umgesetzt. Die "Strategie 2010" blieb in Vergleich zu allen späteren Wirtschaftsprogrammen am längsten in Kraft (siehe Tabelle 1, S.10).

"Konzept 2020"

Unter dem Eindruck der vom Ölexportboom angetriebenen Wirtschaftsentwicklung hatte Präsident Putin im Juni 2006 das Wirtschaftsministerium mit der Erstellung eines noch ehrgeizigeren Wirtschaftsprogramms beauftragt, welches Russland den Status einer führenden Weltmacht des 21. Jahrhunderts verleihen sollte. Dieses sogenannte "Konzept für die sozialökonomische Entwicklung bis 2020" wurde von der Regierung im November 2008 per Verordnung in Kraft gesetzt. Jedoch machte die im zweiten Halbjahr 2008 auf Russland übergreifende Weltwirtschaftskrise seine Ausführung unmöglich.

"Strategie 2020"

Um das obsolete "Konzept 2020" zu ersetzen, beauftragte Premierminister Putin im Januar 2011 die Moskauer "Hochschule für Ökonomie" sowie die Russische Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst mit der Abfassung eines bis 2020 laufenden Wirtschaftsprogramms. Beide Institutionen legten im März 2012 ein zweibändiges Werk mit dem Titel "Strategie 2020 – Ein neues Wachstumsmodell und eine neue Sozialpolitik" vor, das umfangreiche Reformvorschläge für die Gesetzgebung auf den Gebieten der Sozial- und Wirtschaftspolitik enthielt. Es wurde von der Regierung zwar nicht formell bestätigt, doch flossen einige seiner Vorschläge in die im Mai 2012 erlassenen Dekrete Putins ein, in denen er Anweisungen für die Wirtschafts- und Sozialpolitik während seiner Präsidentschaft gab.

"Prognose 2030"

Auf der Grundlage von Putins "Mai-Dekreten" von 2012 verfasste das Wirtschaftsministerium eine "Prognose der langfristigen sozialökonomischen Entwicklung der Russischen Föderation bis 2030", die im März 2013 von der Regierung bestätigt wurde. Da viele ihrer Ausgangsannahmen durch die Wirtschaftskrise 2014/15 sowie die Auswirkungen der auf die Krim-Annexion folgenden westlichen Sanktionen überholt waren, wurde sie nicht umgesetzt.

"Strategie 2030"

Als Ersatz für die nicht realisierte "Prognose 2030" und nach Maßgabe eines 2014 beschlossenen Gesetzes über die "strategische Planung" (Externer Link: static.kremlin.ru/media/acts/files/0001201406300016.pdf) beauftragte Ministerpräsident Dmitrij Medwedew Mitte 2015 seinen Expertenrat sowie seinen damaligen Minister Michail Abysow (der im März 2019 wegen Unterschlagung verhaftet wurde) mit der Erstellung einer sogenannten "Strategie der sozialökonomischen Entwicklung Russlands bis 2030 – Strategie 2030". Sie sollte 2017 vorliegen, wurde jedoch nicht fertiggestellt.

"Strategie 2024"

Im Frühjahr 2016 wies Präsident Putin seinen Wirtschaftsrat sowie das damals von Alexej Kudrin geleitete CSR zur Ausarbeitung einer "Strategie 2018–2024 mit Perspektive bis 2035" an (siehe dazu den Beitrag von Vera Rogova, S. 7–8, in der Bibliografie). Im Jahr 2017 wurden unter dem Titel "Strategie der Entwicklung des Landes 2018–2024" aber nur eine knappe Beschreibung dieses Projekts veröffentlicht, das damit offenbar eingestellt wurde.

"Prognose 2036" und "Budgetprognose 2036"

Präsident Putin verkündete Anfang März 2018 in seiner Botschaft an die Föderalversammlung (Externer Link: http://en.kremlin.ru/events/president/transcripts/statements/56957) sowie im Mai 2018 in mehreren Dekreten (Externer Link: http://en.kremlin.ru/events/president/news/57425) Richtlinien für ein neues Wirtschaftsprogramm. Demnach soll Russland bis 2024, gemessen am Bruttoinlandsprodukt zu Kaufkraftparitäten, in den Kreis der fünf größten Volkswirtschaften aufsteigen, wobei das Wirtschaftswachstum mit rund 3 Prozent pro Jahr das der Weltwirtschaft übertreffen und die Inflation höchstens 4 Prozent pro Jahr betragen soll. (Zum "Fünferklub" der größten Volkswirtschaften zählen heute China, die USA, Indien, Japan und Deutschland). Nach Angaben der Weltbank hatte Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) das Deutschlands allerdings bereits zwischen 2008 und 2015 übertroffen und unterschreitet es 2018/19 nur geringfügig, weswegen diese propagandistisch wichtige Aufgabe möglicherweise erneut erfüllt werden könnte (Grafik 1, S. 11). Ein Putins Vorgaben entsprechendes Wirtschaftsprogramm wurde vom Wirtschaftsministerium am 28. November 2018 mit der Bezeichnung "Prognose der sozialökonomischen Entwicklung der Russischen Föderation bis 2036" publiziert. Darauf baut auch die am 29. März 2019 veröffentlichte, ebenfalls bis 2036 reichende "Budgetprognose" auf.

Beide sogenannten Prognosen dekretieren (wie schon alle vorausgegangenen Langfristprogramme) die aus den Vorgaben der Staatsspitze folgende Entwicklung einer Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Eckdaten für den Gesamtstaat und legen gleichzeitig damit den Rahmen für darauf aufbauende Planungen der Gebiete und Kommunen fest; sie sind daher keine Prognosen, sondern Planungen (siehe Tabelle 2, S. 11, Grafik 2, S. 12, und Tabelle 3 auf S. 12). Die bis 2036 reichende Planung unterscheidet zwei Varianten (Szenarien): Im "Basisszenario" wird ein höheres Wachstum der Weltwirtschaft vorausgesetzt als im "konservativen" Szenario. Dabei wird das Basisszenario als dasjenige betrachtet, auf das die Wirtschaftspolitik ausgerichtet werden soll. Freilich unterscheiden sich die Annahmen und daher auch die Ergebnisse der Planberechnungen in beiden Fällen nur bis 2024 merklich, während sie gegen Ende des langfristigen Planungszeitraums praktisch identisch sind.

Wie von Putin gefordert worden war, soll Russlands BIP in den 18 Jahren des Planungszeitraums 2019 bis 2036 im Jahresdurchschnitt real (inflationsbereinigt) um 3 Prozent pro Jahr wachsen. Die real verfügbaren Einkommen der Bevölkerung (Löhne, Gewinneinkommen und Sozialleistungen abzüglich Steuern und Abgaben) können gemäß Planung allerdings durchschnittlich nur um 2,4 Prozent pro Jahr zunehmen. Die Zahl der Beschäftigten soll von 72 Millionen Personen im Jahr 2018 bis 2036 auf 76 Millionen ansteigen. Dafür wäre freilich eine Zunahme des Arbeitskräftepotentials erforderlich, was selbst die "hohe" Prognose der amtlichen Statistik weit übertrifft (Rosstat, Demographische Prognose bis 2035 – Bevölkerung nach Altersgruppen, Externer Link: https://www.gks.ru/folder/12781).

Das geplante, im Vergleich zu den Vorjahren hohe Wirtschaftswachstum erfordert in beiden Szenarien die Steigerung der Investitionsquote von 21 Prozent (2018) auf 27 Prozent (2036). Zu diesem Zweck hat die Regierung Mitte 2018 die Überarbeitung von Richtlinien zur Wirtschaftsförderung beschlossen (Externer Link: http://static.government.ru/media/files/VxiY5sMI1efyU0dBdVFSrau5TFkgYG3K.pdf). Um der übermäßigen Kontrollsucht der Behörden Einhalt zu gebieten, soll außerdem nach dem Vorbild Mexikos, Südkoreas und anderer Länder in Russland die "regulatorische Guillotine" eingeführt werden. Das bedeutet, dass sämtliche Vorschriften, welche die Unternehmertätigkeit einschränken, Ende 2020 außer Kraft gesetzt sind, wenn sie nicht geändert oder ausdrücklich bestätigt wurden. Auch die meisten der "nationalen Projekte", welche im Wege der Projektplanung die schon bestehenden "Staatlichen Programme" auf prioritäre Ziele ausrichten und für die zwischen 2019 und 2024 Ausgaben in Höhe von insgesamt 25,7 Billionen Rubel (395 Milliarden US-Dollar) geplant sind, sollen die Voraussetzungen für die Investitionstätigkeit verbessern (siehe Tabelle 4, S. 13, sowie den Beitrag von Ben Aris in der Bibliografie).

Während die Planung bis 2036 eine Zunahme der Förderung von Erdgas und Kohle vorsieht, soll die Erdölförderung im gleichen Zeitraum auf dem 2018 erreichten Niveau stabilisiert werden, indem der sonst unvermeidliche Rückgang der Ölförderung in den westsibirischen Ölfeldern durch die Erschließung weiterer mittel- und ostsibirischer Lagerstätten aufgehalten wird. Die hierfür erforderlichen neuen Technologien, darunter hydraulisches Fracking, können wegen der westlichen Sanktionen nicht importiert werden und müssen in Russland erst entwickelt werden (siehe den Beitrag von Tatjana Mitrova in der Bibliografie). Trotz hoher Investitionen wird der Energie- und Rohstoffsektor, weil dessen Exportvolumen wegen tendenziell sinkender Weltmarktpreise voraussichtlich bei rund 250 Milliarden US-Dollar stagnieren wird, kein Wirtschaftswachstum auslösen. Wachstumsimpulse verspricht man sich von der Expansion der sonstigen Wirtschaftszweige, deren Exporte von rund 190 Milliarden US-Dollar (2018) bis 2036 auf rund 700 Milliarden US-Dollar steigen sollen.

Eine Energiewende sieht die Planung nicht vor: An der Stromerzeugung soll der Anteil der Kraftwerke, die mit Erdgas und Kohle betrieben werden, bis 2036 mit 64 Prozent stabil bleiben, der Anteil der Kernenergie im selben Zeitraum – um ein Prozent auf 19 Prozent steigen und der Anteil der großen Wasserkraftwerke um ein Prozent auf 16 Prozent sinken. Der Anteil der sonstigen erneuerbaren Energien wird somit bei einem Prozent der Stromerzeugung verharren. Russland wird, selbst wenn es die Wachstumsziele der "Prognose 2036" erreicht, seine wenig ambitionierte Verpflichtung zur Begrenzung der Treibhausgasemissionen auf 70–75 Prozent des Niveaus von 1990 dennoch erfüllen können, wenn sein Primärenergieverbrauch wie geplant zu zwei Dritteln auf dem Einsatz von Erdgas, Kernenergie sowie Wasserkraft beruhen wird (Externer Link: https://climateactiontracker.org/countries/russian-federation/; siehe auch den Beitrag von Alexey Kokorin und Anna Korppoo in der Bibliografie). Eine aktivere Klimaschutzpolitik scheitert am Widerstand der Industrielobby, welche selbst mit der abgeschwächten Fassung des Gesetzes zur Regulierung der Treibhausgasemissionen, das nach zweijähriger Diskussion 2019 von der Duma verabschiedet werden soll, nicht einverstanden ist. Deswegen musste auch die Ratifizierung des Pariser Klimaabkommens durch Russland im September 2019 ohne Zustimmung des Parlaments durch Regierungsverordnung erfolgen (Externer Link: https://www.telegraph.co.uk/news/2019/09/23/russia-ratifies-paris-climate-accord-targets-critically-insufficient/).

Politische Grenzen des Wachstums

Das aktuelle Wirtschaftsprogramm ist (wie auch seine Vorgänger) keine Prognose, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen könnte, sondern ein Wunschkatalog: Russlands Volkswirtschaft soll unter Wahrung makroökonomischer Stabilität (geringe Inflation und Arbeitslosigkeit, geringes Budgetdefizit) 18 Jahre lang im Tempo der Weltwirtschaft wachsen und dabei Deutschland als Wirtschaftsmacht überrunden. Die dafür erforderlichen hohen Investitionen sollen durch die "nationalen Projekte" (Tabelle 4, S. 13) ermöglicht und angeregt werden, indem sie den Rückstand des Landes bei Infrastruktur und Lebensstandard beseitigen. Letzteres wird aber kaum gelingen, solange das Vertrauen der Geschäftswelt in die staatlichen Strukturen äußerst schwach ist, wofür es gute Gründe gibt: Unternehmer können sich kaum dagegen wehren, dass Staatsfunktionäre sie wegen geringfügigen oder auch nur konstruierten Verletzungen von Vorschriften erpressen, Schmiergeld verlangen oder Gewinnerzielung als Betrug klassifizieren, weil die Gerichte fast immer der Auffassung der Anklagebehörden folgen (siehe den Text von Ella Paneyakh und Dina Rosenberg in der Bibliografie). Diese "Unternehmensplünderung" (russ.: reiderstwo) geht nicht mehr wie in den 1990er Jahren von Kriminellen aus, sondern wird heute von regionalen Netzwerken der "Silowiki" organisiert (siehe die Beiträge von Veronika Horrer, Michael Rochlitz et al. und Ilja Viktorov in der Bibliografie).

Selbst die Kritik Putins an derartigen Praktiken, die er in seinen Botschaften an die Föderalversammlung wiederholt vorgetragen hatte, zeigte keine Wirkung. Resigniert musste die Zentralbankpräsidentin Elwira Nabiullina am 4. Juli 2019 auf dem 28. Internationalen Finanzkongress in Sankt Petersburg feststellen:

"Eine Verbesserung des Investitionsklimas kann sich nicht auf den Abbau administrativer Hindernisse beschränken. Erforderlich sind der Schutz des Privateigentums, unabhängige Gerichte und insbesondere die gerichtliche Beilegung von Unternehmenskonflikten, die beste Qualität der Unternehmensführung sowie die Entwicklung des menschlichen Potenzials. Diese Worte sprechen wir seit vielen Jahren fast unverändert aus. Zuerst schienen sie nur richtig zu sein, dann ein Gemeinplatz, dann leere Worte von Beamten und jetzt manchmal wie ein Schrei der Verzweiflung" (Externer Link: https://www.cbr.ru/press/st/2019-07-04/).

Nach wie vor gilt der Befund des Direktors des "Lewada-Zentrums", des führenden Meinungsforschungsinstituts Russlands, Lew Gudkows: "Die entstehende Mittelklasse Russlands hat erkannt, dass das Fehlen unabhängiger Gerichte das zentrale Hindernis für die Modernisierung des Landes ist" (siehe den Text von Lev Gudkov, S. 292 sowie außerdem die Beiträge von Eberhard Schneider und Alexandra Vasileva sowie von Fabian Burkhardt und Janis Kluge in der Bibliografie). Dieses Modernisierungshemmnis wird bestehen bleiben, solange das politische System Russlands für seinen Fortbestand die Kontrolle der Medien, die Nutzung der Armee als Sozialisationsinstanz und den Rechtsrelativismus der Justiz benötigt (siehe Gudkov in der Bibliografie, S. 288–293). Russland steckt damit in der Sackgasse der "autoritären Modernisierung" fest (Vladimir Gel’man in der Bibliografie).

Ausblick

Die politischen, bürokratischen und ökonomischen Eliten Russlands sind am Erhalt des autoritären politischen Systems mit seiner gefügigen Justiz interessiert, weil es ihnen ihre Positionen und Privilegien sichert. Ein Aufschwung der Unternehmen außerhalb des Rohstoffsektors, wovon das Gelingen der aktuellen Wirtschaftsplanung abhängt, wird dadurch sehr erschwert. Daher sind das geplante Wirtschaftswachstum und eine spürbare Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung kaum zu erwarten.

Bibliografie:

Fussnoten

Dr. Roland Götz hat sich am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und in der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin mit der Sowjetwirtschaft und den Volkswirtschaften der GUS beschäftigt.