Zusammenfassung
Russland leistet schon heute als weltweit größter Weizenexporteur einen beachtlichen Beitrag zur globalen Ernährungssicherheit. Zudem birgt Russland großes bislang ungenutztes Potenzial, um die Getreideproduktion weiter zu steigern. Um jedoch das Produktionspotenzial zu mobilisieren, muss zugleich das Exportpotenzial für Weizen erhöht werden. Unter den heutigen Marktbedingungen – mit zum Teil regional entkoppelter Preisentwicklung und hohen Transportkosten – kann das Produktionspotenzial insbesondere Westsibiriens und der Uralregion kaum genutzt werden. Die Mobilisierung des Getreideexportpotenzials erfordert insofern eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit des russischen Getreidemarkts. Es sind nicht nur umfassende Investitionen in die Transportinfrastruktur notwendig, sondern auch die Entwicklung von Warenterminmärkten zur Reduzierung des Preisrisikos und der Ausbau von Marktinformationssystemen zur Verbesserung der Markttransparenz.
Einleitung
Russlands kometenhafter Aufstieg vom Getreideimporteur zum weltweit größten Weizenexporteur vollzog sich seit der Jahrtausendwende innerhalb von 15 Jahren und hat sich damit viel schneller realisiert, als gemeinhin erwartet wurde. Für die aktuellen Saison (2019/2020) wird davon ausgegangen, dass Russland ca. 37,5 Millionen Tonnen Weizen auf die Weltmärkte exportieren wird (siehe Grafik 1). Es ist jedoch zu erwarten, dass die Getreideproduktion künftig noch weiter zunehmen wird, denn Russland verfügt über riesige bislang nicht genutzte Agrarpotenziale: Hier ist die Steigerung der Produktion durch die Verbesserung der Anbautechnologien, wie beispielsweise die stärkere Nutzung von Düngemitteln, ausschlaggebend. Zudem verfügt Russland über große derzeit brachliegende Flächen, welche zu Sowjetzeiten landwirtschaftlich genutzt, mit der Transformation aber aus der Produktion genommen wurden. Die Mobilisierung dieses Produktionspotenzials könnte erheblich zur zukünftigen globalen Ernährungssicherheit beitragen, insofern es gleichzeitig gelingt, auch das Exportpotenzial zu steigern. Dies setzt jedoch eine effiziente Marktinfrastruktur voraus, die ein wettbewerbsfähiges Getreideangebot an den bis zu 5000 Kilometer entfernten Häfen am Schwarzen Meer ermöglicht und die den russischen Getreidemarkt an die Preisentwicklung auf den Weltmärkten anbindet.
Dieser Artikel geht zunächst auf die Charakteristika des russischen Getreidemarkts ein und berichtet aus Forschungsarbeiten am IAMO zur Einschätzung des bisher ungenutzten Getreidepotenzials Russlands und der Funktionsfähigkeit des russischen Getreidemarkts. Abschließend diskutiert der Artikel die Herausforderung, das Weizenproduktionspotenzial Russlands zu mobilisieren.
Charakteristika des russischen Getreidemarkts
Das russische Getreideanbaugebiet erstreckt sich im Wesentlichen über sechs große Regionen (siehe Grafik 2). Der Nordkaukasus ist mit seinem besonders günstigen Klima und den fruchtbaren Schwarzerdeböden das wichtigste Anbaugebiet: 40 Prozent des russischen Weizens werden hier produziert. Aufgrund des direkten Zugangs zu den internationalen Häfen wird hier fast ausschließlich für den Export produziert. Der Export aus dem Nordkaukasus macht ca. 75 Prozent der gesamten russischen Getreideexporte auf die Weltmärkte aus. Westsibirien und die benachbarte Uralregion sind weitere große Produktionsregionen, die jedoch im Unterschied zum Nordkaukasus peripher gelegen sind (4000 bis 5000 Kilometer entfernt vom Schwarzen Meer, 2000 bis 3000 Kilometer entfernt von Moskau) und daher fast nur am innerrussischen Getreidehandel beteiligt sind. Weitere Produktionsregionen sind die Zentralregion, die auch viel Getreide aus anderen Anbauregionen bezieht – angesichts von Moskau als dem größten Konsumzentrum und der ausgeprägten Viehwirtschaft in der Zentralregion –, sowie die Schwarzerderegion und der Wolgaraum.
Der Getreidetransport erfolgt in Russland bei Entfernungen von weniger als 1000 Kilometern ausschließlich mit dem Lastwagen und bei größeren Entfernungen mit dem Zug – anders als in den USA, wo Getreide relativ günstig vor allem mit dem Schiff über den Mississippi zu den internationalen Häfen transportiert wird. Es ist allgemein bekannt, dass die Getreidetransportinfrastruktur Russlands in einigen Regionen veraltet ist und Waggons nicht in ausreichendem Maße verfügbar sind. Die teilweise staatlich subventionierten Transporttarife sind zwar relativ niedrig, jedoch sind das Transportrisiko und damit die Transportkosten aufgrund der oben genannten Defizite insgesamt relativ hoch. Hinzu kommen ein hohes Geschäftsrisiko mangels der Durchsetzbarkeit von Verträgen und die Gefahr von unerwarteten politischen Markteingriffen. Beispielsweise hatte die russische Regierung in der Saison 2010/11 ein Weizenexportverbot erlassen, infolgedessen russische Getreideproduzenten und -exporteure nicht von den hohen Weltmarktpreisen in jener Zeit profitieren konnten und starke Einkommensverluste erlitten.
Darüber hinaus zeichnen sich die russischen Getreidemärkte – ebenfalls anders als in den USA – durch nur schwach entwickelte Warenterminmärkte aus, welche entscheidend zur Preisfindung beziehungsweise zur Reduzierung des Preisrisikos beitragen könnten. Hinzu kommt eine geringe Markttransparenz, denn Informationen über Preisentwicklungen auf dem russischen Getreidemarkt sind im Vergleich zu den USA nur in geringerem Umfang für die Marktteilnehmer zugänglich.
Zusätzliches Weizenproduktionspotenzial und Klimawandel
Trotz des beachtlichen Anstiegs der Produktions- und Exportmenge von Weizen in den letzten Jahren verfügt Russland noch immer über eines der weltweit größten nicht ausgeschöpften Potenziale zur Erhöhung der Weizenproduktion. Wir haben erforscht, welche zusätzlichen Weizenmengen in Russland produziert werden können, wenn Ertragssteigerungen realisiert und heute brachliegende Flächen wieder bewirtschaftet werden.
Der Weizenertrag beträgt in Russland heute durchschnittlich 2,4 Tonnen pro Hektar (2010–2018) und liegt damit deutlich unter dem Durchschnittsertrag in Frankreich von 5,85 Tonnen pro Hektar und dem weltweiten Durchschnittswert von 3,3 Tonnen pro Hektar. Mehrere Studien haben gezeigt, dass eine Optimierung des Dünge- und Pflanzenschutzmitteleinsatzes in Russland durchschnittlich die Verdopplung der Weizenerträge ermöglichen würde. Es ist jedoch davon auszugehen, dass unter Berücksichtigung der Kosten dieser hohe Faktoreinsatz in der Praxis wenig profitabel ist. Das zeigt sich beispielsweise in Westsibirien, wo die Differenz zwischen dem heute erzielten und dem maximal erreichbaren Weizenertrag besonders groß ist. Denn hier verzichten ca. zwei Drittel der kommerziellen Agrarbetriebe bislang vollständig auf den Einsatz von Mineraldünger.
Vor diesem Hintergrund ist die Erhöhung der durchschnittlichen Weizenerträge von aktuell etwa 50 Prozent auf 80 Prozent des Ertragspotenzials ein realistischeres Szenario. Bei einer solchen Steigerung würde sich die Weizenproduktion von aktuell 79 auf 127 Millionen Tonnen erhöhen. Bei einer Realisierung von 60 Prozent des Ertragspotenzials würde die jährliche Weizenproduktion immerhin noch auf 91 Millionen Tonnen steigen. Die künstliche Bewässerung der Ackerflächen würde die Weizenproduktion noch zusätzlich deutlich erhöhen und die klimabedingten jährlichen Produktionsschwankungen verringern. Allerdings ist eine deutliche Ausweitung der Bewässerungsinfrastruktur aufgrund der damit verbundenen hohen Kosten unrealistisch.
Unabhängig von der möglichen Erhöhung des Ertragspotenzials könnte die Weizenproduktion in Russland auch durch die Wiederbewirtschaftung von Brachflächen gesteigert werden. Von 1990 bis heute schrumpfte die Ackerfläche Russlands von knapp 120 auf etwa 80 Millionen Hektar (siehe Grafik 3). Damit befinden sich dort mit knapp 40 Millionen Hektar wahrscheinlich die weltweit größten brachliegenden Ackerflächen. Allerdings ist nur ein relativ kleiner Teil davon für die Weizenproduktion nutzbar, denn viele der Brachflächen liegen im Nordwesten Russlands, wo es häufig (noch) zu kalt für den Weizenanbau ist. Zudem sind infolge von Bewaldung und Strauchbewuchs die Kosten einer Rekultivierung der Brachflächen sehr hoch. Unsere Berechnungen zeigen, dass von den knapp 40 Millionen Hektar landwirtschaftlicher Brachfläche nur ca. fünf Millionen Hektar nachhaltig und kostengünstig in Ackerfläche umgewandelt werden können. Denn die Rodung von bewaldeten Flächen wäre nicht nur teuer, sondern würde auch eine starke negative Klimawirkung haben. Auch die regionale Infrastruktur und das Arbeitskräfteangebot reichen in peripheren ländlichen Regionen nicht aus, um langfristig eine landwirtschaftliche Produktion zu gewährleisten. Da ein Großteil der ca. fünf Millionen Hektar Brachfläche, die in Ackerland umgewandelt werden können, in den südlichen, ertragsschwachen Regionen liegt, könnte mit einer Rekultivierung die Weizenproduktion lediglich um knapp neun Millionen Tonnen gesteigert werden.
Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass Russland über ein großes Potenzial für die Steigerung der Weizenproduktion verfügt. Wir schätzen, dass sich die Weizenanbaumenge nachhaltig um bis zu 57 Millionen Tonnen erhöhen ließe, wobei davon ca. 48 Millionen Tonnen durch Intensivierungsmaßnahmen, wie verbessertes Düngemanagement, und nur ca. neun Millionen Tonnen durch die Rekultivierung von Brachflächen erzielt würden.
Der Klimawandel wird voraussichtlich die Anbaubedingungen für Weizen im nördlichen Russland verbessern und das Produktionspotenzial erhöhen. Die Weizenerträge werden dort tendenziell ansteigen und ungenutzte Brachflächen für die Weizenproduktion nutzbar werden. Andererseits werden die bedeutenden Anbaugebiete für Weizen im südlichen Russland vom Klimawandel negativ beeinflusst; dort wird das Ertragspotenzial gesenkt, wie einige Studien zeigen. Unseren ersten Berechnungen zufolge gleichen die Produktionseffekte der zukünftig verbesserten Anbaubedingungen im Norden die verschlechterten Anbaubedingungen im Süden mehr als aus. Allerdings ist hier weitere Forschung notwendig, auch um effektive Anpassungsstrategien an den Klimawandel zu entwickeln.
Funktionsfähigkeit des russischen Weizenmarktes
Um einzuschätzen, wie gut der russische Getreidemarkt entwickelt ist, wurde am IAMO eine zeitreihenökonometrische Studie der Preisentwicklung auf den Getreidemärkten Russlands im Vergleich zur Preisentwicklung in den USA durchgeführt. Der ökonomischen Theorie der räumlichen Preisbildung zufolge werden auf gut funktionierenden Märkten Preisänderungen zwischen den regionalen Märkten schnell und umfassend übertragen, sodass sehr ähnliche Preismuster und geringe Preisunterschiede zu beobachten sind. Kommt es beispielsweise in einer Region infolge eines starken Ernteausfalls zu großen Preissteigerungen, werden dadurch Handelsströme ausgelöst, sodass sich das Angebot in dieser Region erhöht und der Preis wieder sinkt.
Es überrascht kaum, dass auf dem russischen Markt Preisänderungen zwischen den weit entfernt liegenden Produktionsregionen nur in einem geringen Umfang und relativ langsam übertragen werden, im Vergleich zu den USA nur etwa zur Hälfte und nur halb so schnell. Zudem zeigte sich, dass die Exportregion Nordkaukasus mit ihren Häfen am Schwarzen Meer relativ schlecht mit den Getreidemärkten in den anderen Produktionsregionen verbunden ist. Somit werden Preisentwicklungen im Nordkaukasus, die stark von den internationalen Getreidepreisen beeinflusst werden, nur in geringem Umfang auf andere russische Produktionsregionen übertragen. Ganz anders in den USA, wo über die hochentwickelten, effizienten Getreideexportmärkte die Weltmarktpreise bis in die entfernten Produktionsregionen weitergegeben werden.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass insbesondere die weit entfernten Produktionsregionen Ural und Westsibirien kaum an die Preisentwicklung auf dem Exportmarkt im Nordkaukasus und auch auf den Weltmärkten angebunden sind. Hinzu kommt, dass die Transportkosten zu den Häfen am Schwarzen Meer besonders hoch sind.
Vor dem Hintergrund des Handelskonflikts zwischen den USA und China haben Russland und China die Bemühungen verstärkt, ihre Handelsbeziehungen auszubauen. Dies schließt gemeinsame Investitionen zum Ausbau der Eisenbahnverbindung von Westsibirien zu den Häfen am Pazifik (zum Beispiel Wladiwostok) mit ein. Allerdings spielt für die Häfen am Pazifik die Funktionsfähigkeit des Markts und des Transports noch eine größere Rolle, da die Entfernung zwischen Anbaugebiet und Hafen nicht bis zu 5000 Kilometer, sondern über 6000 Kilometer beträgt. Jedoch bietet der Hafen in Wladiwostok (im Vergleich zu Häfen in der EU) einen vorteilhaften Zugang zum Weltmarkt. Von Wladiwostok aus kann über geringe Entfernungen sehr wettbewerbsfähig Getreide nach Asien, insbesondere China, Süd- und Nordkorea, geliefert werden.
Mobilisierung des Weizenproduktionspotenzials
Die russische Getreidewirtschaft hat sich sehr dynamisch entwickelt. Es ist zu erwarten, dass Russlands Getreideexporte und damit Russlands Bedeutung für die globale Ernährungssicherheit weiter steigen werden. Russland als flächenmäßig größtes Land der Erde verfügt über großes zusätzliches Produktionspotenzial, das unseren Berechnungen zufolge bis zu 57 Millionen Tonnen Weizen entspricht. Die Steigerung der Weizenproduktion kann primär durch die Intensivierung des Anbaus bzw. die Erhöhung des Einsatzes von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln erreicht werden (um 48 Millionen Tonnen Weizen). Der Produktionsanstieg durch die Rekultivierung von Brachflächen wäre mit neun Millionen Tonnen relativ gering, da mit der Rekultivierung hohe Kosten, die Rodung von Wäldern und starke negative Klimawirkungen verbunden wären. Jedoch stellt sich die Frage, inwieweit der russische Getreidemarkt die Voraussetzungen erfüllt, um das zusätzliche Produktionspotenzial für Getreide in den unterschiedlichen Regionen zu mobilisieren und eine Steigerung des Exportangebots an den Häfen am Schwarzen Meer zu erreichen. Wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass insbesondere das große zusätzliche Produktionspotenzial Russlands im Ural und Westsibirien, das ca. 25 bis 35 Prozent des gesamten ungenutzten Getreidepotenzials ausmacht, unter den gegenwärtigen Marktbedingungen nicht mobilisiert werden können. Daher beträgt unseren Schätzungen zufolge das zusätzliche Exportpotenzial für Weizen mit 37 Millionen Tonnen nur gut zwei Drittel des ungenutzten Produktionspotenzials von bis zu 57 Millionen Tonnen.
Zur Mobilisierung des Getreideproduktionspotenzials Russlands ist es erforderlich, die Effizienz des Getreidemarkts zu erhöhen, und zwar nicht nur durch umfassende Investitionen in die Transportinfrastruktur, sondern auch durch die weitere Entwicklung von Warenterminmärkten zur Reduzierung des Preisrisikos und durch den Aufbau von Marktinformationssystemen zur Erhöhung der Markttransparenz.
Alternativ könnte es zu einer regionalen Umstrukturierung im russischen Agrarsektor kommen: Das Getreide Westsibiriens könnte in der stark wachsenden Viehwirtschaft zur Fütterung genutzt werden. So würde nicht Weizen in großer Menge transportiert und auch exportiert, sondern eine viel kleinere Menge an Fleisch. Das würde jedoch den gekühlten Transport voraussetzen und damit höhere Ansprüche an die Transportinfrastruktur stellen.
Lesetipps:
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