Doch wie tief sind die russisch-chinesischen Beziehungen nach der Annexion der Krim tatsächlich?
Die ersten bilateralen Beziehungen zwischen dem russischen Zarenreich und China wurden wohl im 17. Jahrhundert angebahnt. 1689 unterzeichneten beide den Vertrag von Nertschinsk, der zum ersten (aber bei weitem nicht zum letzten) Mal die Grenze zwischen beiden Reichen definierte. Während Russland sich nach den Reformen von Alexander II. sehr dynamisch entwickelte, war das chinesische Imperium am Schwächeln – sowohl geopolitisch als auch wirtschaftlich. Diese Schwäche ermöglichte Russland damals, große Stücke Land von China zu pachten – die das russische Imperium im Zuge des Russisch-Japanischen Kriegs 1904–1905 allerdings wieder verlor.
Engste Freunde – beste Feinde?
Nach Gründung der Volksrepublik 1949 entwickelten die zwei sozialistischen Länder eine enge Beziehung. Die Sowjetunion half der Volksrepublik China (VRC) beim Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg und der japanischen Besatzung: Es gab eine enge militärische Kooperation, sowjetische Ingenieure halfen beim Bau von Kernkraftwerken und Atomwaffen.
Doch nach dem Tod Stalins 1953 war es vorbei mit der sowjetisch-chinesischen Freundschaft: Mao verstand sich als Nachfolger Stalins, während sich Chruschtschow ab dem XX. Parteitag der KPdSU gegen den Personenkult um den Diktator wandte. In den 1960er Jahren kam es sogar zu militärischen Zusammenstößen an der sowjetisch-chinesischen Grenze. Ende der 1970er Jahre sanken die Beziehungen auf einen neuerlichen Tiefpunkt: Nachdem der sowjetische Verbündete Vietnam zur Beendigung des Terrorregimes der Roten Khmer 1978 in Kambodscha einfiel, wandte sich China gegen Vietnam und erklärte dessen Verbündeten, die Sowjetunion, zum "Feind Nummer 1".
Diese Feindschaft währte jedoch nicht lange: Seit der Mitte der 1980er Jahre verbesserten sich die Beziehungen wieder allmählich. 1991 besuchte Generalsekretär und Präsident Jiang Zemin die UdSSR und unterzeichnete mit Michail Gorbatschow einen Vertrag, der die Grenze zwar weitgehend festlegte, einige Stücke jedoch weiterhin als strittig festhielt. Endgültig wurde die Grenzfrage von Wladimir Putin und Hu Jintao in einem Vertrag von 2005 geklärt. Dabei übergab Russland an China einige Inseln im Grenzfluss Amur, insgesamt rund 337 Quadratkilometer Land.
Der Zerfall der Sowjetunion war für die chinesischen Eliten ein Schock. Russland wandte sich ab vom Sozialismus und hin zum Westen, dabei vernachlässigte es den östlichen Nachbarn. Erst als Jewgeni Primakow 1996 Außenminister wurde, brachte er die östliche Dimension der russischen Außenpolitik zurück auf die Agenda.
2001 gründeten China, Russland, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Gleichzeitig wurde die Annäherung zwischen China und Russland 2001 in dem Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit festgehalten. Der Schwerpunkt russischer Außenpolitik lag dabei allerdings immer noch auf der Zusammenarbeit mit dem Westen.
"Schwenk nach Asien"
Jäh gestoppt wurde diese Zusammenarbeit nach der Krim-Annexion: Russland intensivierte den 2012 proklamierten "Schwenk nach Asien" und suchte damit, die wirtschaftlichen Einbußen durch die westlichen Sanktionen auszugleichen.
Bereits 2013 hatte Xi Jinping seine Seidenstraßen-Initiative präsentiert: ein großes Infrastrukturprojekt, das vor allem schnellere und sicherere Handelsrouten zwischen China und Europa zum Ziel hat. Die neue Seidenstraße soll – wie schon die alte – durch Zentralasien führen: Eine Region, die der Kreml dezidiert als eigene geopolitische Interessensphäre begreift. Doch obwohl die Initiative unter anderem auch größeren Einfluss Chinas in Zentralasien vorsieht, macht man sich darüber im Kreml demonstrativ keine Sorgen. Laut Beobachtern soll der Kreml dabei keine bittere Pille geschluckt, sondern folgendermaßen kalkuliert haben: China konzentriert sich auf wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Region, während Russland Garantiemacht bleibt und seinen politischen Einfluss behält.
Außerdem versprach man sich in Russland von der Seidenstraße vor allem chinesische Investitionen. So unterzeichneten Gazprom und der chinesische Energiekonzern CNPC 2014 einen Vertrag über russische Gaslieferungen nach China. Beim Baustart am 1. September 2014 nannte Putin das Pipeline-Vorhaben Sila Sibiri "das größte Bauprojekt der Welt". China stieg auch bei Jamal SP ein – ein Unternehmen, das Erdgas auf der Jamal-Halbinsel fördern und verflüssigen soll.
Viele Verträge in Milliardenhöhe, große Worte über die neue russisch-chinesische Freundschaft, neue Männerfreundschaft zwischen Xi und Putin, Xis Teilnahme an der Siegesparade am 9. Mai 2015 in Moskau – 2014 und 2015 sah es aus, als ob ein neues Tandem der Weltpolitik geboren wäre.
Vertane Chancen
Doch ist in der Sache seitdem nicht viel passiert. Sila Sibiri wurde zwar tatsächlich umgesetzt und soll im September 2019 in Betrieb gehen. Auch bei Jamal kam chinesisches Geld an, auch wenn erst 2016. Jedoch ist die russisch-chinesische Partnerschaft weder allumfassend, noch nachhaltig. So machen zwar die chinesischen Staatsbanken gelegentlich Geld für Großprojekte locker, doch private chinesische Firmen vermeiden es angesichts der US-Sanktionen mit den russischen Staatskonzernen zusammenzuarbeiten. Die Rentabilität von Sila Sibiri ist fraglich: Manche Kritiker glauben, dass die Pipeline 30 Jahre brauchen wird, um sich zu amortisieren. Der bilaterale Handel ist seit 2014 zwar um rund 26 Prozent gewachsen, seine Struktur ist für Russland allerdings nicht gerade schmeichelhaft: 76 Prozent russischer Exporte machen fossile Energieträger aus, umgekehrt sind 57 Prozent der Importe aus China Maschinen und Verkehrsmittel. Russlands Anteil an Chinas Außenhandel beträgt 1,9 Prozent, China deckt aber 15 Prozent des russischen Außenhandels ab.
Auch auf symbolischer Ebene tun sich Asymmetrien auf: So hat der Bau einer Brücke über den Grenzfluss Amur wegen Problemen auf russischer Seite viel länger gebraucht, als ursprünglich geplant. Monatelang endete die chinesische Seite der Brücke mitten über dem Fluss, das Bild dieser abrupt endenden Brücke ging durch die Zeitungen in der ganzen Welt und schien Sinnbild für die Unfähigkeit Russlands, das chinesische Wachstum anzuzapfen.
Auch bei dem wichtigsten Element der Seidenstraße – dem Ausbau der Eisenbahnschiene – war Russland außen vor. Seine ursprüngliche Erwartung, dass der Ausbau der Belt and Road Initiative (BRI) die russische Transsib zur Grundlage nehmen würde, wurde von China enttäuscht: Die meisten chinesischen Züge fahren nun durch Westchina und Kasachstan, auf die russische Schiene kommen sie erst relativ weit im Westen, in der Oblast Kurgan. Der östliche Teil der Transsib, der ohnehin am wenigsten ausgelastet ist, geht leer aus.
Unter dem BRI-Label sollten auch innerrussische Projekte umgesetzt werden. Doch auch diese stocken und werden mitunter ad acta gelegt: So soll es jetzt unter anderem doch keine Schnellzugverbindung zwischen Moskau und Kasan geben.
Russland ist nur Juniorpartner
Diese Asymmetrie setzt sich auch in der militärischen und Sicherheitszusammenarbeit fort. Seit den 1990er Jahren ist China zwar einer der wichtigsten Absatzmärkte russischer Waffen. Doch durch den (nicht immer legalen) Technologietransfer stellt es immer mehr Waffen selber her, sodass es unklar ist, wie lange China noch auf russische Waffensysteme angewiesen sein wird.
Auch mit der Gründung der SOZ intensivierten die Länder ihre militärische Zusammenarbeit. Bei den Militärübungen Wostok 2018 waren chinesische Militärs dabei, für einige Experten war es "noch keine Allianz, aber engere Zusammenarbeit" (siehe dazu den Beitrag von Alexander Golz: Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/wostok-2018-militaermanoever-china).
Eigentlich ist China aber kaum an einer nachhaltigen militärischen Zusammenarbeit mit Russland interessiert, und die sicherheitspolitische Zusammenarbeit im Rahmen der SOZ wurde durch deren Erweiterung um Indien und Pakistan massiv erschwert. Hinzu kommt auch, dass Indien und Vietnam, beides wichtige Absatzmärkte für russische Waffen, für China als Feinde gelten. Außerdem hat China auch seine militärische Präsenz in denjenigen Regionen ausgebaut, die Russland als eigene Interessensphäre begreift: So wurde im Februar 2019 bestätigt, dass China eine Militärbasis in Tadschikistan betreibt, von der aus es Patrouillen in Afghanistan durchführt. Die neue Seidenstraße, so könnte man aus chinesischer Perspektive meinen, braucht keinen russischen Schutz.
"Gelbe Gefahr"
Neben wirtschaftlichen, militärischen und symbolischen Asymmetrien erschwert auch der innerrussische Diskurs die Zusammenarbeit. Spätestens seit 2005 ist er vermehrt durch Begriffe wie "gelbe Gefahr" oder "chinesische Bedrohung" geprägt. In Medien sowie sozialen Netzwerken gibt es regelmäßig Berichte von zehntausenden illegalen chinesischen Einwanderern im fernen Osten Russlands, die den Russen ihre Jobs wegnehmen würden. Auch Berichte über die chinesische Abholzung der Taiga und die dramatische Verschmutzung der Böden durch eingewanderte chinesische Bauern sind verbreitet.
Ebenso mangelt es in der russischen Elite an Kenntnissen um Chancen und Risiken einer Zusammenarbeit mit China: Die Optimisten sehen darin eine Möglichkeit, russische Außenpolitik und Wirtschaft vom Westen unabhängiger zu machen. Die Pessimisten warnen davor, dass Russland sich in volle Abhängigkeit Chinas begäbe und dies noch teuer zu stehen komme, da China vor allem eigene, nicht russische Interessen durchsetze.
Bibliographie:
Urbansky, Sören (2015): Grenze im Fluss. China-Russland: Das Echo des Territorialdisputs, in: Osteuropa, Heft 5–6.
Zuenko, Ivan; Zuban, Semyon (2016): Torgowlja meschdu Rossijej i Kitajem v 2018 g., in: Mirowaja ekonomika i meschdunarodnyje otnoschenija, Nr. 7, S. 70–76.
Carlson, Brian (2018): Vostok-2018: Another Sign of Strengthening Russia-China-ties: Not an Alliance, but Defense Cooperation is growing, in: Stiftung Wissenschaft und Politik: SWP Comment, Nr 47.
Djatlov, Viktor (2008): Ot "scholtoj opasnosti" k "kitajskoj ugrose": evoljuzija odnoj migrantofobii v Rossii, in: Larjuel, Marlen (Hrsg.): Russkij nazionalism: Sozialnyj i kulturnyj kontekst, S. 73–86.
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