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Analyse: Diplomatischer Tanz auf dem Eis: China, Russland und die "Arktis-Seidenstraße" | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Diplomatischer Tanz auf dem Eis: China, Russland und die "Arktis-Seidenstraße"

Nele Noesselt Nele Noesselt (Universität Duisburg-Essen)

/ 10 Minuten zu lesen

Russland und China bewegen sich jeher zwischen Konkurrenz und Kooperation. Mit Blick auf die Erschließung der Arktis als neue Handelsroute könnten beide Länder von einer Zusammenarbeit profitieren. Interessenkonflikte sind in der Haltung der USA zu erkennen, die die russisch-chinesischen Arktis-Strategien als Bedrohung wahrnehmen.

Der russische Präsident Wladimir Putin und der chinesische Generalsekretär Xi Jinping beim Willkommensbankett zum Belt and Road-Forum im April 2019 in Peking. (© picture alliance/Valeriy Sharifulin/POOL/dpa)

Zusammenfassung

2015 erklärten Moskau und Peking, auf eine synergetische Verbindung der von Moskau vorangetriebenen Eurasischen Wirtschaftsunion und der von Xi Jinping seit 2013 offiziell proklamierten "Neuen Seidenstraße" hinarbeiten zu wollen. Seit 2018 ist diese Kooperation mit Pekings "Arktis-Seidenstraße" um eine globale Dimension erweitert worden. Überschattet werden die bilateralen Interaktionsstrukturen durch die Spannungen mit den USA.

Moskau und Peking: Partner oder Konkurrenten?

Der Handelskonflikt zwischen den USA und China, die Aktualisierung der US-amerikanischen Sicherheitsabkommen mit Chinas Nachbarstaaten, die infolge der Ukraine-Krise gegenüber Russland verhängten internationalen Sanktionen – diese Konstellationen begünstigen den Schulterschluss zwischen den ungleichen Partnern Moskau und Peking. Vor dem Hintergrund der perzipierten neuen Fronten der Weltpolitik haben diese begonnen, ihre strategische Partnerschaft neu auszurichten. Neben bilateralen Interaktionen haben insbesondere transregionale und globale Fragen an Bedeutung gewonnen. Die Koordination ordnungspolitischer Fragen erfolgt neben bilateralen Formaten über multilaterale regionale Foren wie die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) sowie globale Zirkel wie den Zusammenschluss der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika).

Die Geschichte der Beziehungen zwischen Moskau und Peking erscheint wie ein beständiges Oszillieren zwischen Phasen der intensiven strategischen Kooperation und solchen der Spannungen und offenen Konfrontation. Ursprünglich hatte die VR China die Organisationsprinzipien leninistischer Kaderparteien und die Grundstrukturen des Partei-Staates von der Sowjetunion kopiert, hatte den Marxismus-Leninismus als Leitideologie festgeschrieben. Mit den Mao-Zedong-Ideen hatte sie jedoch eine Sinisierung des Marxismus vorgenommen und sich mit einem eigenständigen Entwicklungsweg positioniert. Die ideologischen Spannungen zwischen den beiden "sozialistischen" Bruderstaaten spitzten sich in den späten 1950er Jahren zu und erreichten ihren Höhepunkt mit dem sino-sowjetischen Grenzkonflikt am Fluss Ussuri im Jahre 1969. Während der Phase des Kalten Krieges konkurrierten die beiden sozialistischen Systeme regional wie auch international um eine Ausweitung ihrer Machtsphären. Die internationale diplomatische Anerkennung der VR China – die Übertragung des ständigen Sitzes "Chinas" im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erfolgte 1971 – und die Annäherung zwischen Washington und Peking unter Nixon eröffneten der VR China neue Verhandlungsoptionen. Moskau gab seinen Konfrontationskurs auf und signalisierte Dialogbereitschaft. Die Gefahr einer unmittelbaren Eskalation der sino-sowjetischen Spannungen schien gebannt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion folgte eine Neuauflage und Neudefinition der Beziehungen zwischen Moskau und Peking. 1996 erreichten die bilateralen Beziehungen den Status einer "strategischen Partnerschaft"; 2001 wurde ein neuer Freundschaftsvertrag unterzeichnet. Die Regelung offener Grenzfragen wurde begleitet von neuen Abkommen und Formaten der interregionalen Kooperation. Russland, die VR China sowie die zwischen diesen gelegenen zentralasiatischen Staaten schlossen sich 1996 als "Shanghai Fünf" zusammen. 2001 ging aus dieser die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit hervor. Ursprünglich auf die Lösung und Koordination von Problemen und Konflikten in der Region Zentralasien ausgerichtet, hat dieses Bündnis seinen Aktionsraum mit der Aufnahme Indiens und Pakistans auf Süd(ost)asien ausgeweitet.

Offene Spannungen und Konkurrenzsituationen zwischen Moskau und Peking sollen durch diese regionalen Bündnisse und bilateralen Dialogformate minimiert werden. Dies zeigt sich auch mit Blick auf die chinesische "Neue Seidenstraße", welche den Aufbau neuer Transportkorridore über Zentralasien nach Europa umfasst. Im Mai 2015 versicherten beide Seiten ihr Interesse an einer Interessensabstimmung und strategischen Entwicklungssynthese zwischen der von Moskau vorangetriebenen Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der von Peking aus konstruierten Korridore der "Neuen Seidenstraße", insbesondere der "Eurasischen Landbrücke".

Die Arktis: Brennpunkt geostrategischer Machtkonkurrenz im 21. Jahrhundert?

Abstimmungsbedarf zwischen Moskau und Peking ergibt sich nicht zuletzt mit Blick auf die Arktis. Im Januar 2018 legte die VR China ein Weißbuch zu ihrer "Arktis-Politik" vor, das den Bau einer "Polaren Seidenstraße" vorsieht. Obzwar kein unmittelbarer Anrainerstaat, so definiert sich die VR China als "arktisnahes" Land und erhebt aktiv Anspruch auf die (Mit-)Erschließung der durch das Abtauen des Eises in naher Zukunft voraussichtlich durchgehend befahrbaren Seerouten und Wirtschaftsräume.

Am 4. Juli 2017 verabschiedeten Moskau und Peking im Vorfeld des G20-Gipfels eine gemeinsame Erklärung zur Intensivierung ihrer umfassenden Partnerschaft, gefolgt von gemeinsamen Militärmanövern. Mit Blick auf den koordinierten Aufbau einer nördlichen Arktis-Seeroute wäre die VR China in Zukunft auf russische Häfen, Logistikinfrastruktur und eine (militärische) Sicherung der Transportwege angewiesen – und offeriert Moskau eine finanzielle Beteiligung an der Erschließung neuer Logistikknotenpunkte. Russland und die VR China arbeiten seit Jahren an der Modernisierung und Professionalisierung ihrer Streitkräfte. Im Rahmen der SOZ haben sie Marineübungen auch jenseits ihrer unmittelbaren Hoheitsgewässer durchgeführt. Die Organisation entfernt sich damit mehr und mehr von ihren Gründungsaufgaben – der Bekämpfung von Terrorismus, Extremismus und Separatismus in der Region Zentralasien – und versteht sich verstärkt als Sicherheitsbündnis.

Peking hat seinen Vorstoß in die Arktis-Region lange vor der Proklamation der "Neuen Seidenstraße" vorbereitet. Die VR China hat, offiziell zu Forschungszwecken, eigene Arktis-Expeditionen durchgeführt. Frühzeitig hat Peking sein Interesse deutlich gemacht, an den Aushandlungsrunden des Arktis-Rats beteiligt zu werden. Dieser war 1996 mit der Erklärung von Ottawa als multilaterales Abstimmungsforum zwischen den Arktisanrainern Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und den USA begründet worden. Eingebunden sind zudem Vertreter(gruppen) der in der Arktis-Region lebenden indigenen Völkerschaften. Die VR China zählt zu den Ländern mit Beobachterstatus.

Im Mai 2019 endete das Treffen des Arktis-Rates erstmals ohne eine gemeinsame Abschlusserklärung. Für Uneinigkeit hatte ein Passus zu den Folgen und Gefahren des Klimawandels für die Arktis gesorgt. Die USA hatten sich Berichten zufolge diesem Punkt nicht anschließen wollen – und auf die positiven Effekte des Abtauens des Eises verwiesen, insbesondere die sich hieraus ergebenden neuen maritimen Transportrouten. Die USA, vertreten durch ihren Außenminister Mike Pompeo, betonten aber zugleich, dass die in der Arktis mittelfristig zugänglichen Energiereserven, Rohstoffe und Fischbestände auch neue Begehrlichkeiten wecken dürften. Pompeo verwies hierbei insbesondere auf die VR China und Russland – gegenüber denen er den Gestaltungs- und Kontrollanspruch der USA über die Arktis deutlich zum Ausdruck brachte. "Nur weil die Arktis ein Ort der Wildnis ist, heißt das nicht, dass sie ein Ort der Gesetzlosigkeit sein sollte", so Pompeo in seiner Rede. Wer aus seiner Sicht die Führungsrolle bei der Erarbeitung neuer Regeln für die Arktis-Region und die Etablierung neuer Koordinationsstrukturen spielen sollte, wurde mehr als deutlich. So verwies Pompeo auf das "aggressive" Verhalten Russlands im Ukraine-Konflikt und Chinas offensive maritime Expansionsbestrebungen, um die von diesen ausgehende Gefahr für den Weltfrieden zu illustrieren. Er unterstrich, dass es keine "arktisnahen" Staaten jenseits der unmittelbaren Anrainer gebe – womit der VR China kein Recht auf Mitsprache und Mitgestaltung zukomme. Pompeo kündigte nicht zuletzt einen Ausbau der militärischen Präsenz der USA in der Arktis-Region an.

Russland hat seinerseits seine Marine weiter aufgerüstet und investiert in eine neue Flotte nuklear angetriebener Eisbrecher. Damit untermauert Moskau seinen Anspruch, bei der Erschließung der Nordost-Passage eine aktive Rolle zu spielen und den russischen Abschnitt der neuen maritimen Transportrouten kontrollieren zu wollen. Hierbei kommt die chinesische Arktis-Seidenstraßen-Initiative durchaus gelegen. Öl und Gas gegen günstige Kredite und Darlehen aus China. Diese Formel scheint auch weiterhin als Motor der bilateralen Kooperation zu funktionieren. Die konfrontative Positionierung der USA gegenüber Moskau und Peking katalysiert dabei die sino-russische Koordination im Zuge der Arktis-Erschließung. Während weite Teile der seit 2013 unter dem Slogan der "Neuen Seidenstraße" von Peking aufgebauten Transportnetzwerke an Russland vorbeiverlaufen und sich durchaus auch zu einer Konkurrenz zu bestehenden Linien wie der Transsibirischen Eisenbahn entwickeln könnten, ist die Realisierung der Arktis-Handelsrouten nur als gemeinsames Projekt möglich.

USA-Russland-China: Globale trianguläre Interdependenzen

Diese Entwicklungen mögen möglicherweise den Vorstoß des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump erklären, Grönland kaufen zu wollen. Denn die verstärkte Sichtbarkeit der VR China als Wirtschaftsakteur und Investor in den Arktis-Anrainer-Staaten wird als gefährlicher Machtzugewinn und als mögliche Herausforderung US-amerikanischer Interessen wahrgenommen. Wie die chinesischen Seidenstraßen-Interaktionen mit Mittel- und Osteuropa sowie in Teilregionen Südeuropas gezeigt haben, führen finanzielle Abhängigkeiten auch zu einem veränderten Abstimmungsverhalten mit Blick auf gemeinsame Standpunkterklärungen der Europäischen Union gegenüber der VR China. Gerade jene Staaten, deren Wirtschaft von chinesischen Investitionen profitiert oder die durch die Kooperation mit Peking ihren Verhandlungsspielraum gegenüber Brüssel auszubauen gedenken, enthalten sich bei kritischen Stellungnahmen oder Sanktionen gegenüber der VR China. Zudem hat sich Peking mit strategischen Investitionen Zugang zu wichtigen Transporthäfen in Europa (und darüber hinaus) gesichert und seine maritimen Transportnetze erfolgreich diversifiziert. Mit Blick auf die Arktis-Region könnte dies bedeuten, dass sich im Arktis-Rat Mehrheiten verschieben. Die Haltung der USA gegenüber der für viele Mitgliederstaaten des Arktis-Rates zentralen Frage des Klimawandels dürfte dies noch zusätzlich begünstigen. Auch ist nicht auszuschließen, dass weitere bilaterale Abkommen zur Umsetzung der chinesischen Arktis-Seidenstraße mit den Anrainerstaaten geschlossen und implementiert werden. Hierdurch könnte sich Peking nicht nur strategischen Marktzugang, sondern auch präferierten Zugang zu lokalen Häfen und Transportnetzen sichern.

Die Nähe der russischen Marinestützpunkte zur Arktis-Region verstärkt die Bedrohungsperzeptionen in Washington. 2019 erklärten die USA den INF-Vertrag für nichtig – sie warfen Moskau vor, den Vertrag wiederholt missachtet zu haben. Der INF-Vertrag von 1987/88 hatte die Unterzeichnerstaaten zum Verzicht auf den Bau und die Stationierung bodengestützter, nuklear bestückbarer Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern verpflichtet. Im August 2019 erklärten schließlich beide Vertragspartner, die USA und Russland, das endgültige Ende des Abkommens. Neue Rüstungswettläufe könnten die Folge sein, insbesondere vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Interessenkonflikte in der Arktis-Region.

Die VR China ist mit Blick auf die erfolgreiche Weiterführung ihrer "Neuen Seidenstraße" auf ein stabiles und friedliches regionales und globales Umfeld angewiesen. So erklärt sich, dass sie Moskau und Washington gedrängt hatte, das INF-Abkommen nicht aufzugeben. Gerade vor dem Hintergrund der negativen Schlagzeilen zur "Neuen Seidenstraße" und der von Washington postulierten von Peking ausgehenden Bedrohung der liberalen Werteordnung ist die politische Führung in Peking zudem mehr denn je um ein positives außenpolitisches Image als friedliebende, verantwortungsbewusste Großmacht bemüht. Im Oktober 2013 fand unter der Leitung Xi Jinpings eine Arbeitssitzung statt, auf der das Konzept der "Neuen Nachbarschaftspolitik" (zhoubian waijiao) als Grundformel der "Neuen Seidenstraße" diskutiert wurde. Auch die Beziehungen mit anderen Großmächten sind konzeptionell überarbeitet worden. Die Formel eines "neuen Typs der Beziehungen zwischen den Großmächten" spiegelt chinesische Deutungs- und Gestaltungsansprüche wider. Eingefordert werden gleichberechtigte Interaktionsbeziehungen und Mitspracherechte bei der Reform und Rekalibrierung der internationalen Institutionenordnung. Insbesondere die Beziehungen mit Washington und Moskau wurden seit 2013 neu kalibriert.

Auf dem 19. Parteitag (2017) wurden nicht nur die "Xi Jinping Ideen zum Sozialismus mit chinesischen Charakteristika in der neuen Ära" in den Parteistatuten verankert. Betont wurde auch die besondere Bedeutung der "Neuen Seidenstraße" für die Umsetzung der nationalen, regionalen und globalen Zielsetzungen der VR China. Die Formel des "Wiederaufstiegs" (zu einer Zentrumsposition, die China mit der Niederlage in den Opiumkriegen eingebüßt hatte) wird durch die von Xi Jinping gesetzten Konzepte des "Chinesischen Traums" und der "Schicksalsgemeinschaft" als Beitrag zum Aufbau einer besseren Weltordnung im Dienste der "gesamten Menschheit" ausgewiesen. Ob diese globalen Gestaltungsansprüche mit jenen Russlands kompatibel sein werden, bleibt abzuwarten.

Auch im Zuge der Aushandlungsrunden des Arktis-Rates setzt Peking auf Dialog und präsentiert seine Positionen als gemeinsame Interessen der Weltgemeinschaft. China hat auf die Stellungnahme Pompeos auf dem Treffen des Arktis-Rates 2019 direkt reagiert. Peking rechtfertigte den aktiven chinesischen Teilnahmeanspruch an der Regulierung und Koordination der Arktis nicht zuletzt unter Verweis auf die Auswirkungen des in der Arktis sichtbaren Klimawandels auf das globale System (und China), womit die Lösung von Entwicklungsfragen der Arktis als Anliegen der Weltgemeinschaft ausgeflaggt wird. Die "Neue Seidenstraße" wie auch der Teilstrang der (geplanten) "Arktis-Seidenstraße" werden als klimafreundliche Projekte präsentiert. Institutionen, die zur Finanzierung der Seidenstraße von Peking ins Leben gerufen worden sind, verpflichten sich, zumindest auf dem Papier, zu hohen sozio-ökologischen Standards. So beispielsweise die Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB), die mit dem Leitmotto "lean, green, clean" operiert.

Regionale Akteurskonstellationen

Die Machtverschiebungen und neuen Kooperationsstrukturen in Mittel- und Osteuropa sowie in Zentralasien werden von Russland, das eigene Positionierungsinteressen verfolgt, mit Interesse beobachtet. Während die "Arktis-Seidenstraße" in der Zukunft spielt, lassen sich aus der Analyse der Konstellationen in Osteuropa und Zentralasien erste Einschätzungen der möglichen Langzeitwirkungen der "Neuen Seidenstraße" der VR China ableiten. Diese Beobachtungen dürften die Positionierung Moskaus im Zuge der Arktis-Kooperation sicherlich beeinflussen. Eine von europäischen Analysten zumeist kritisch eingestufte Entwicklung beispielsweise sind nichtkonditionale Kreditangebote an EU-Mitglieds- und EU-Nachbarschaftsstaaten durch die VR China. Mit dem 16+1-Format hat Peking ein Kooperationsformat mit den Staaten Mittel- und Osteuropas geschaffen, das sich dem direkten Zugriff Brüssels entzieht. Gerade die EU-skeptischen Visegrad-Staaten in Osteuropa sehen in dieser Ost-Ost-Kooperation einen Weg, eigene Interessen durchzusetzen. Allerdings besteht insbesondere für schwächere, kleinere Volkswirtschaften die Gefahr, die Seidenstraßen-Kredite nicht bedienen zu können und daher die fremdfinanzierte Transportinfrastruktur an die chinesischen (Staats-)Investoren abtreten zu müssen. Während es sich bei den mittel- und osteuropäischen Staaten um relativ junge Mitglieder der EU handelt, weist der zentralasiatische Raum hingegen historisch bedingt eine große Nähe zu Moskau auf. Eine Entmachtung Russlands und die Übernahme einer alleinigen regionalen Führungsrolle durch Peking sind somit wenig realistisch. Auch ist zu bedenken, dass die zentralasiatischen Staaten, wie insbesondere das Beispiel Kasachstan zeigt, sich nicht passiv der chinesischen Seidenstraße unterordnen. Vielmehr verfolgt Kasachstan mit der Nurly Zhol-Initiative einen eigenen Modernisierungsweg, den es mit den chinesischen Interessen am Aufbau eines Transportkorridors über den neugeschaffenen Logistikknotenpunkt Khorgos strategisch verbindet – ohne Peking die alleinige Koordination der Transportwege zu übertragen.

Schlussbetrachtungen

Eingedenk der historischen Konkurrenzbeziehungen und geostrategischen Rivalitäten zwischen Moskau und Peking ist es naheliegend, dass keine Seite bei der Konzeption ihrer jeweiligen Arktis-Strategie nur auf eine Karte setzen wird. Die VR China strebt eine Diversifizierung ihrer strategischen Partner an; Russland baut parallel zu den Beziehungen mit Peking auch die Kooperation mit Pekings historischen Rivalen Indien und Japan aus. Die USA, welche die strategische Kooperation zwischen China und Russland als Entstehung einer bedrohlichen neuen Achse einstufen, haben diese durch ihren konfrontativen Kurs selbst begünstigt. Auch im 21. Jahrhundert sind die sino-russischen Beziehungen weiterhin in einem vielschichtigen triangulären Interdependenzdilemma gefangen.

Fussnoten

Prof. Dr. Dr. Nele Noesselt ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt China/Ostasien an der Universität Duisburg-Essen. Sie studierte Sinologie und Politikwissenschaft in Heidelberg, Peking und Wien. Sie lehrt und forscht zu Themen der Vergleichenden Politikwissenschaft, Internationalen Beziehungen sowie Global Governance. 2018 erschien die zweite Auflage ihres Lehrbuchs Chinesische Politik: Nationale und globale Konstellationen in der Reihe Studienkurs Politikwissenschaft.