Der folgende Beitrag des russischen Soziologen Wladimir Petuchow erschien ursprünglich am 31.03.2019 in der Zeitschrift Vedomosti und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.
Einleitung von dekoder
66 Prozent der Menschen in Russland äußern ihre Zustimmung für die Tätigkeit des Präsidenten. Gleichzeitig meinen nur sechs Prozent, dass die Staatsmacht gerecht ist. Wie geht das zusammen? Viele russische Beobachter haben schon versucht, diesen Widerspruch aufzulösen. Etwa unter Verweis auf die häufig als alternativlos empfundenen Herrschaftsverhältnisse, die zudem in Russland ja nie anders gewesen seien. Vor allem vor dem Hintergrund von sinkenden Zustimmungswerten für Putin liefern Soziologen nun Antworten auf das scheinbar widersprüchliche Phänomen.
Manche von ihnen, wie etwa Grigori Golossow, halten angesichts des steigenden Rufs nach Veränderung sogar eine Perestroika 2.0 für möglich [Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/gesellschaftliches-bewusstsein-golossow-veraenderungen]. Andere sind da vorsichtiger. Wie Wladimir Petuchow – einer der Gründerväter der modernen russischen Soziologie. Auf Vedomosti analysiert der Wissenschaftler die aktuellen Zahlen – und widerspricht dabei dem häufigen Eindruck, "dass im Land viel passiert, aber sich kaum etwas ändert".
In den letzten Jahren, besonders 2017 und 2018, gab es einige signifikante Verschiebungen – in der öffentlichen Meinung und in den Erwartungen der russischen Bürger. Das zeigen Forschungsergebnisse der RAN (Rossijskaja Akademija Nauk, dt.: Russische Akademie der Wissenschaften). Am auffälligsten ist dabei das Bröckeln des paternalistischen Konsens. Dieser hat sich, verglichen mit dem Krim-Konsens, als wesentlich beständiger erwiesen, war er auch weniger klar ausgedrückt. Sein Kern ist schnell zusammengefasst: Loyalität zur Regierung im Tausch dafür, dass sie sich aus dem Privatleben der Bürger heraushält und eine grundlegende soziale Absicherung bietet – wenn auch nicht für alle, so doch für den Großteil der Bürger.
Dieser Konsens fußte auf einer mehr als ein Jahrzehnt andauernden Phase des wirtschaftlichen Wachstums, die mit wenigen Unterbrechungen bis 2014 andauerte. Sie ermöglichte es den Menschen, sich um ihre privaten Angelegenheiten zu kümmern und die Lösung gesellschaftspolitischer Fragen der Regierung zu überlassen. Ob die Regierung etwas tat oder nicht, stieß dabei kaum auf Interesse. In diesen Jahren galt Stabilität als das höchste Gut. Daher gab es auch keine Forderungen nach Veränderung – weder wirtschaftlich noch politisch.
Fundamentaler Richtungswechsel
Doch schon die nächste Krise, gefolgt von einer wirtschaftlichen Depression, veränderte die Zukunftspläne vieler Russen oder machte sie sogar zunichte. Schließlich erkannten die meisten, dass ein Festhalten am Status Quo angesichts der wirtschaftlichen Depression und des Verfalls sozialer Einrichtungen die Stagnation und die Krisenerscheinungen nur befördert, was wiederum zu einer weiteren Verschlechterung der ohnehin schon schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Lage eines jeden Einzelnen führt. Hinzu kommt, dass die Regierung selbst in letzter Zeit recht eindeutige Botschaften an die Bürger sendet: Der paternalistische Konsens der Nullerjahre habe sich erschöpft, und nun sei es an ihnen, sich selbst und ihre Familien zu versorgen.
Daraus erklärt sich der fundamentale Richtungswechsel in der öffentlichen Meinung und den Erwartungen: Zwischen 2012 und 2016 wuchs der Anteil der Russen, die finden, das Land brauche grundlegende Veränderungen sowie politische und wirtschaftliche Reformen, von 28 auf 56 Prozent. Er hat sich also verdoppelt. Gleichzeitig sank die Zahl der Befürworter des Status Quo von 72 auf 44 Prozent (s. Grafik 1 auf S. 22).
Weder radikal noch revolutionär
Da die moderne russische Gesellschaft sehr heterogen und fragmentiert und die gegenwärtige Polit- und Wirtschaftselite alles andere als eine glühende Anhängerin des Wandels ist, unterbreitet sie dem Volk auch keine realistischen Zukunftsstrategien. Darum trägt die Forderung nach Veränderung einen amorphen und meist wenig zielgerichteten Charakter. Es handelt sich wohl eher um eine Ansammlung von Wünschen: Dringliche soziale Probleme sollen gelöst und verschiedenste Formen der Ungleichbehandlung aufgehoben werden. Solche Forderungen sind weder radikal noch von revolutionärem Pathos durchdrungen. Die Zahl der Befragten, die sich für Veränderungen aussprachen, gleichzeitig aber fanden, das Land brauche einen allmählichen, vorsichtigen Wandel, ist doppelt so hoch wie die Zahl jener Menschen, die sich schnelle und tiefgreifende Veränderungen wünschen (60 zu 30 Prozent).
Umfragen belegen außerdem, dass viele Russen, weil sie keine klaren Richtlinien für die Zukunft sehen und wegen dieser Ungewissheit besorgt sind, nichts dagegen hätten, zum vergleichsweise ruhigen Zustand der Nullerjahre zurückzukehren, als das Erdöl teuer war, die Löhne stiegen und Russland deutlich weniger Feinde hatte als heute. Im Bewusstsein eines Großteils der Gesellschaft verdrängt die Nostalgie nach Putins ersten zwei Amtszeiten allmählich sogar jene nach dem goldenen Zeitalter der Stagnation unter Breshnew.
Der Unterschied zur Zeit der Perestroika
Darin unterscheidet sich die Situation von der vor 30 Jahren, als in unserer Gesellschaft das letzte Mal heftige Forderungen nach Veränderung aufkamen. Damals war vor allem in der Anfangsphase die Regierung mit Michail Gorbatschow an der Spitze die treibende Kraft. Erst später gaben aktivistisch orientierte Gruppen und Kreise diesen Veränderungen eine neue Ausrichtung und Agenda. Aber es gibt noch einen wichtigen Unterschied: Gerade im Vergleich zur Jelzin-Zeit machen sich die heutigen Russen weniger Hoffnungen und Illusionen in Bezug auf den Staat. Forderten unsere Mitbürger in den 1990er Jahren buchstäblich den Staat zurück, der sie ihrem Schicksal überlassen hatte, so lässt sich in den letzten Jahren ein entgegengesetzter Trend beobachten: Der Staat verblasst zunehmend als zentrales Element, um gute Lebensumstände für alle zu erreichen. Denn immer mehr Menschen zweifeln daran, dass der Staat alltägliche, routinemäßige, nicht auf einen schnellen propagandistischen Effekt zielende Aufgaben lösen könnte, die zu einer Erhöhung der Lebensqualität führen. So erscheint den Russen ein vom Präsidenten angekündigter Durchbruch im Bereich der Technik und Wissenschaft in den nächsten zehn Jahren realistischer als beispielsweise eine Sanierung der Straßen im selben Zeitraum, erst recht, wenn es um die russische Provinz geht.
Selbstverantwortung statt Sozialstaat
Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass zahlreiche Gruppen und Schichten aufgetaucht sind, die den Sozialstaat für unnötig erklären oder schlicht seine Effektivität anzweifeln. Außerdem sprechen sie sich für mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung aus. Der Anteil der Russen, die angeben, sich ohne staatliche Unterstützung versorgen zu können, wächst langsam, aber beständig: 2015 waren es 44 Prozent der Befragten, heute sind es schon fast 50 Prozent. Unter den heute 18- bis 30-Jährigen sind es sogar 62 Prozent. In dieser Alterskohorte geben nur 38 Prozent an, dass sie und ihre Familien ohne staatliche Unterstützung nicht überleben könnten.
Gleichzeitig sind diese "selbstverantwortlichen Russen" im Großen und Ganzen regierungsloyal. Die Zustimmung für Präsident Putin unter ihnen ist ähnlich hoch wie unter denjenigen Menschen, die eine staatliche Unterstützung für sich und ihre Familie für notwendig erachten. Aber das ist nicht ungewöhnlich, denn Selbstverantwortung muss keineswegs in Opposition zum Staat stehen (s. Grafik 2 auf S. 23).
Bemerkenswert ist allerdings, dass viele von ihnen die Interessen des Staates nicht über die Interessen der Bürger stellen. Nur 29 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu, dass "die Interessen des Staates Vorrang vor den Rechten des Individuums haben sollen". 36 Prozent verneinen diese Aussage und ein relativ großer Anteil (35 Prozent) zeigt sich unentschieden. Besonders oft verneinen Bewohner von Megastädten die Aussage (42 Prozent, gegenüber 26 Prozent Zustimmung). Insgesamt verneinen sie Befragte aus nahezu allen Gruppen und Bevölkerungsschichten (mit Ausnahme der über 60-Jährigen).
Die "harte Hand" verliert an Anziehungskraft
Auch die ehemals populäre Idee der sogenannten harten Hand, die dann angeblich für Ordnung im Land sorgt, verliert ihre Anziehungskraft. Auf die Frage "Welche Ideen entsprechen am ehesten Ihren Vorstellungen von einer erstrebenswerten Zukunft für Russland?" gab es folgende Antworten (Platz 1 bis 5): soziale Gerechtigkeit (59 Prozent); Demokratie, Menschenrechte, Recht auf freie Selbstentfaltung (37 Prozent); Russlands Wiedererlangung des Status einer führenden Weltmacht (32 Prozent); Rückkehr zu nationalen Traditionen und moralischen Werten (27 Prozent); starke, durchgreifende Regierung, die Ordnung gewährleistet (26 Prozent). "Maskuliner Herrschaftsstil" rangiert als Idee also nicht nur hinter der Idee der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch um fast zehn Prozentpunkte hinter der Idee der Demokratie, der Menschenrechte und des Rechts auf freie Selbstentfaltung (s. Grafik 3 auf S. 23).
Anders gesagt: Im Land für Ordnung zu sorgen ist eine Lösung von Gestern oder sogar von Vorgestern. Die heutigen Russen beschäftigen ganz andere Probleme, die sich auf administrativem Weg nicht lösen lassen. Allen voran ist es die Situation im sozialen Bereich, die unsere Mitbürger heute sogar für besorgniserregender erachten als mögliche materielle Einbußen. Deswegen verlangen die Russen von der Regierung keine Härte, sondern vor allem Effektivität. Und die Achtung des Gesetzes durch alle Menschen – auch durch die Machthaber. Wobei die Gleichheit vor dem Gesetz für die Russen gleichbedeutend ist mit Gerechtigkeit und Demokratie.
Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter Externer Link: https://www.vedomosti.ru/opinion/articles/2019/03/31/797871-hotim, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/petuchow-gesellschaftlicher-wandel-zukunft.
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Die Redaktion der Russland-Analysen