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Analyse: Außenpolitikexperten in Russland: Zwischen Forschung, Beratung und Propaganda | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Außenpolitikexperten in Russland: Zwischen Forschung, Beratung und Propaganda

Alexander Graef Hamburg) Alexander Graef (Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik

/ 11 Minuten zu lesen

Mit der Gründung der liberalen Think Tanks INSOR und RIAC im März 2008 wurde die außenpolitische Ideenfindung in Russland für gesellschaftliche Interessengruppen geöffnet. Der politische Einfluss von Experten hängt jedoch stark von persönlichen Beziehungen zum Präsidenten und der Präsidialadministration ab.

Igor Iwanow, Präsident des Russländischen Rates für Internationale Angelegenheiten (RIAC), bei einer Hauptversammlung im November 2018 in Moskau. (© picture alliance/Sergei Savostyanov/TASS/dpa)

Zusammenfassung

Die russische Außenpolitik ist Präsidialpolitik. Gesellschaftliche Kräfte haben traditionell wenig Einfluss. Während in der Sowjetunion ein institutionalisiertes System der politischen Beratung und Forschung bestand, löste sich dieses nach 1991 weitgehend auf. Anstatt dessen entwickelten sich neue private Netzwerke und Einzelpersonen erhielten sporadisch Zugang zu politischen Entscheidungsträgern. Seit Ende der 2000er bemüht sich der Staat zunehmend um die Konsolidierung der russischen Expertenlandschaft. Im Zuge des militärischen Konfliktes in der Ukraine und der Annexion der Krim ist jedoch vor allem der Bedarf an politischer Legitimation durch Experten gestiegen.

Akademische Institute in der Sowjetunion

Außenpolitisches Wissen außerhalb der staatlichen Bürokratie wird in Russland traditionell in der Akademie der Wissenschaften und einigen wenigen Universitäten generiert. Mit dem Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht nach Ende des Zweiten Weltkrieges vergrößerte sich vor allem der Bedarf an Regionalexpertise. Unter KPdSU-Generalsekretär Nikita Chruschtschow entstanden in den 1950er und 1960er Jahren deshalb diverse Institute zur Erforschung verschiedener Weltregionen. Besonders bedeutend wurden das 1956 wiedergegründete Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) und das erst 1967 geschaffene Institut für die USA, das 1974 auch für Kanada zuständig wurde (ISKAN). Obwohl die Wissenschaftler an beiden Einrichtungen mit ihren unorthodoxen, differenzierten Analysen der kapitalistischen Wirtschaft die Entspannungspolitik der 1970er Jahre beförderten, blieben sie letztlich Fremdkörper im sowjetischen außenpolitischen Entscheidungsprozess. Anstatt Ideengeber zu sein, war ihre Rolle mit wenigen Ausnahmen auf die öffentliche Legitimation der offiziellen Politik beschränkt.

Dies änderte sich Mitte der 1980er Jahre unter KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow. Im Kontext von Perestroika und Glasnost eröffnete er Wissenschaftlern den Zugang zur operativen Politik. Auf der Suche nach neuen Konzepten bediente sich die politische Führung den an ISKAN und IMEMO produzierten Ideen. Ausschlaggebend für deren Einfluss war neben dem persönlichen Interesse Gorbatschows die personelle Nähe zwischen Instituten und Politik: 1985 wechselte IMEMO-Direktor Aleksandr Jakowlew, der geistige Vater der Perestroika, als Sekretär der Abteilung für Ideologie in das Zentralkomitee. Sein Nachfolger am IMEMO, Ewgenij Primakow, wurde 1989 zum Vorsitzenden des Unionsrates des Obersten Sowjets ernannt.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 änderte sich die soziale und politische Stellung der Wissenschaftler radikal. Die staatfinanzierten akademischen Institute verloren einen Großteil ihrer bisherigen Finanzierung. Angesichts der wirtschaftlichen Krise verließen viele, vor allem jüngere Mitarbeiter die Wissenschaft und suchten sich eine neue Tätigkeit in der nunmehr freien Wirtschaft. Gleichzeitig kam die institutionelle Einbindung der Institute in den zuvor von der KPdSU durchorganisierten Politikprozess zum Erliegen und außenpolitische Themen rückten weitgehend in den Hintergrund.

Stattdessen bildeten sich in den 1990er Jahren aus den Instituten heraus kleinere Beratungs- und Forschungsgruppen, deren Arbeit jedoch fast ausschließlich auf ausländische Finanzierung angewiesen blieb. In vielen Fällen handelte es sich lediglich um Einmannbetriebe, die sich bald wieder auflösten. Dennoch gelang es einigen jüngeren Mitarbeitern der Institute und Universitäten angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs Kontakte in die politische Elite zu knüpfen oder selbst Teil dieser Elite zu werden. Maßgeblich dafür wurden u. a. die Wahlen zu den Kongressen der Volksdeputierten ab 1987 und die Integration von jungen Mitarbeitern in die seit Frühling 1990 bestehende Administration von Präsident Gorbatschow. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden einige Wissenschaftler darüber hinaus Abgeordnete der 1993 eingeführten Staatsduma oder fanden sich im direkten Umfeld von Präsident Boris Jelzin wieder. Diese unmittelbare Beteiligung am Aufbau des neuen Staates legte zusammen mit dem Fehlen des akademischen Nachwuchses den Grundstein für die langanhaltende Dominanz der in den 1950er Jahren geborenen sowjetischen Babyboomer unter den russischen Außenpolitikexperten. Diese hält zum Teil noch bis heute an.

Außenpolitikexperten im Russischen Präsidialsystem

Außenpolitik in Russland ist Präsidialpolitik. Anders als in sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen weist die russische Verfassung dem Präsidenten explizit die alleinige Leitung zu (Art. 86). Die Zentralisierung des außenpolitischen Entscheidungsprozesses ist deshalb bereits rechtlich angelegt. Grundsatz- und Richtungsentscheidungen hängen vom Präsidenten und seinem engsten Beraterkreis ab. Der Einfluss von gesellschaftlichen Akteuren ist gering.

Dennoch bestand in den 1990er Jahren ein politischer Meinungspluralismus, der sich auch in der Opposition gegenüber dem Kurs von Präsident Jelzin in der Staatsduma äußerte. Teile der außenpolitischen Eliten und Experten schlossen sich 1992 im Rat für Außen- und Verteidigungspolitik (SVOP) zusammen. Der Gruppe von Wissenschaftlern, Unternehmern, Militärs, Diplomaten und Journalisten gelang es, auch aufgrund bedeutender politischer Ämter ihrer Mitglieder, punktuell Themen zu setzen und Debatten voranzutreiben, z. B. über die Union mit Weißrussland, Drogenbekämpfung und die dringend notwendige Militärreform. Gleichzeitig verliefen viele Initiativen und Ideen im Sande, weil den politischen Institutionen die Handlungsfähigkeit fehlte. Im "revolutionären Jahrzehnt" hatten interne Machtkämpfe und die Wiederwahl Jelzins 1996 Priorität.

Erst in den ersten beiden Amtszeiten Wladimir Putins als Präsident von 2000 bis 2008 erweiterten sich aufgrund steigender Staatseinnahmen die außenpolitischen Handlungsspielräume. Andererseits wurde eine Konsolidierung der politischen Eliten und damit der Entscheidungsfindung erreicht, die sich jedoch zunehmend ausschließlich auf den Präsidenten und die Präsidialadministration konzentrierte. Dagegen verloren andere politische Institutionen, darunter auch die jeweiligen außen- und verteidigungspolitischen Komitees in der Staatsduma und im Föderationsrat, ihre beratende Stellung, während Kritiker der Politik des Kremls ihre bisherigen Positionen einbüßten. Insbesondere nach den Parlamentswahlen 2003 verpassten ehemalige politische Schwergewichte und Experten wie Jurij Ryshow und Aleksej Arbatow den Wiedereinzug in die Duma. Auch das Außenministerium, das noch in den 1990er Jahren vor allem unter Evgenij Primakow eigenständige Positionen gegenüber dem Kreml entwickelt hatte, wandelte sich seit 2004 unter Leitung von Sergej Lawrow zum ausführenden Organ präsidentieller Politik. Es blieb jedoch zentraler Ansprechpartner für Experten aus den Instituten der Akademie der Wissenschaften und Universitäten, darunter der dem Ministerium unterstellten Bildungseinrichtungen, an denen maßgeblich der diplomatische Nachwuchs ausgebildet wird: des Staatlichen Moskauer Instituts für Internationale Beziehungen (MGIMO) und der Diplomatischen Akademie.

Die Entscheidung Putins im Dezember 2007, den bisherigen stellvertretenden Premierminister und ehemaligen Gasprom Aufsichtsratsvorsitzenden Dmitrij Medwedew als seinen Nachfolger zu unterstützen, leitete eine Phase der (zumindest offiziell deklarierten) Modernisierung ein. Die russische Außenpolitik sollte künftig der Förderung von Innovationen und wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit im Inneren dienen. Experten und gesellschaftliche Interessengruppen wurden aktiv aufgerufen, sich an der Ideenfindung zu beteiligen. Das nach fast acht Jahren ununterbrochenem Wirtschaftswachstum wiedergewonnene politische Selbstbewusstsein schuf auch die Voraussetzung für staatliche Investitionen in die Entwicklung intellektueller Konzepte und deren weltweite mediale Verbreitung. Sinnbildlich für beide Trends in der Außenpolitik steht die Neugründung bzw. staatliche Förderung zweier Think Tanks in der Amtszeit Medwedews: des Instituts für zeitgenössische Entwicklung (INSOR) und des Russländischen Rates für Internationale Angelegenheiten (RIAC).

INSOR und RIAC: Zwei liberale Think Tanks

Das im März 2008 gegründete INSOR nahm sich explizit der vom Präsidenten angestrebten wirtschaftlichen Liberalisierung und gesellschaftlichen Öffnung an. Präsident Medwedew selbst wurde Vorsitzender des Kuratoriums. Die von Direktor Igor Jurgens und seinem Stellvertreter, dem früheren ISKAN-Mitarbeiter und ehemaligen Leiter der Abteilung für die Beziehungen zur EU in der Präsidialadministration, Sergej Kulik, geführte außenpolitische Agenda setzte maßgeblich auf die Generierung von Stabilität und guten Arbeitsbeziehungen zum Westen. Eine auf Frieden ausgerichtete Außenpolitik sollte im Dienste der innenpolitischen Entwicklung stehen und die ökonomische Modernisierung begünstigen. Das "Manifest zu Russlands Lage im 21. Jahrhundert", das INSOR im Februar 2010 veröffentlichte, spekulierte z. B. über einen möglichen, künftigen Beitritt Russlands zur NATO.

Parallel dazu gründete Präsident Medwedew per Dekret im Februar 2010 RIAC als nicht-kommerzielle Partnerschaft unter Leitung des Außenministeriums. Als neue institutionelle Plattform sollte es dem Austausch und der Koordination von Außenpolitikexperten mit der Politik und der russischen Wirtschaft dienen. Es dauerte jedoch fast eineinhalb Jahre ehe der Rat unter der Präsidentschaft des ehemaligen russischen Außenministers Igor Iwanow seine Arbeit aufnehmen konnte. Generaldirektor wurde der frühere ISKAN-Mitarbeiter Andrej Kortunow mit langjähriger Erfahrung im Aufbau von NGOs und umfangreichen internationalen Kontakten.

Im Gegensatz zu den kompakten Instituten der Akademie der Wissenschaften fungieren INSOR und RIAC eher als Netzwerke und Treffpunkte für Experten, die für konkrete Projektarbeit zusammenkommen. Insbesondere RIAC leistet mit Ausnahme der Führungsebene keine eigene inhaltliche Arbeit, sondern stellt lediglich notwendige Mittel für die Organisation von Veranstaltungen und die Durchführung von Analysen mit unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zur Verfügung. Gleichzeitig garantiert die Anbindung an das Außenministerium einen institutionellen Zugang zur operativen Politik, der auch durch die Mitgliedschaft von Personen aus dem direkten Umfeld des Präsidenten, darunter Außenminister Sergej Lawrow, Pressesprecher Dmitrij Peskow und dem Assistenten des Präsidenten für Außenpolitik Jurij Uschakow, im Rat gewährleistet wird.

Die Stellung von INSOR hingegen blieb von Anfang an vollständig an den Erfolg von Präsident Medwedew gebunden. Dessen im September 2011 aufgegebene Wiederwahl, die INSOR Direktor Jurgens seit 2010 offen unterstützt hatte, beendete auch INSORs Rolle als präsidentieller Think Tank. Der Mitarbeiterstab von INSOR verkleinerte sich dramatisch und die Arbeit an innenpolitischen Themen wurde zugunsten der zu diesem Zeitpunkt noch als unverfänglicher geltenden Außenpolitik aufgegeben. Gleichzeitig blieb das Institut auch Dank der Kontakte von Jurgens Ansprechpartner für ausländische Experten und Mittler zwischen Russland und dem Westen.

Experten im zweiten Kalten Krieg

Die Rückkehr Wladimir Putins ins Präsidentenamt im Frühjahr 2012 beendete nicht nur die Nähe von INSOR und seinen Experten zur operativen Politik, sondern läutete auch einen generellen Kurswechsel ein. Anstatt einer Öffnung gegenüber westlicher Organisationen und einer verstärkten Zusammenarbeit mit diesen, vor allem mit der EU und NATO, intensivierte Russland seine Ambitionen bei der ökonomischen Integration Eurasiens und setzte innenpolitisch verstärkt auf die staatliche Kontrolle vermeintlich ausländischer Einflussnahme. Angesichts der Ereignisse in der Ukraine seit November 2013 und der russischen Intervention intensivierten sich bestehende Konflikte zwischen Befürwortern, Kritikern und Gegnern der staatlichen Politik auch unter Außenpolitikexperten.

Eine Gesetzesänderung im November 2012 verpflichtete politisch tätige russische NGOs, die eine Finanzierung aus dem Ausland erhielten, sich als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen. Eine weitere Neuerung im Mai 2015 führte den Status "unerwünschte Organisation" für ausländische und internationale NGOs ein. Bis Ende August 2018 wurden insgesamt 15 Organisationen, die vor allem als direkte Geldgeber russischer NGOs fungiert hatten, verboten [Eine aktuelle Liste der "unerwünschten Organisationen" ist verfügbar unter Externer Link: https://minjust.ru/ru/activity/nko/unwanted]. In der Folge lösten sich einige im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik tätigen russischen Institute auf. Dazu zählt beispielsweise das am Moskauer Institut für Physik und Technologie (MFTI) seit 1992 bestehende Zentrum zur Erforschung von Problemen der Rüstungskontrolle, Energie und Ökologie, das sich 2014 auch aufgrund der zu erwartenden Eintragung ins Register auflöste. Ein zentraler Geldgeber, die MacArthur Foundation, stellte seine Arbeit in Russland aufgrund des Gesetzes über "unerwünschte Organisationen" im August 2015 ein. Andere hatten, wie das vornehmlich in der nuklearen Nichtverbreitung und Rüstungskontrolle engagierte PIR-Zentrum, mit der Aufnahme in das Register ausländischer Agenten zu kämpfen. Maßgeblich für die Förderung der nationalistischen Agenda wurde das Russländische Institut für Strategische Studien (RISI) unter Führung von Generalleutnant Leonid Reschetnikow, das in einem Bericht vom Februar 2014 dezidiert führende Experten-Institutionen, darunter das Moskauer Carnegie Zentrum, das PIR-Zentrum und selbst das Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften und die Russländische Vereinigung für Politikwissenschaft (RAPN), als vermeintliche Handlanger westlicher Interessen anprangerte und ihre Aufnahme in das Register ausländischer Agenten empfahl.

Währenddessen entwickelten sich politische Talkshows, darunter populäre Sendungen wie "Ein Abend mit Wladimir Solowjow", "60 Minuten" oder "Die Zeit wird es zeigen" zur zentralen Bühne für die mediale Legitimation staatlicher Politik. Ein ganzes Heer von "Experten" kommentiert dort täglich das Weltgeschehen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, gehört dieser Personenkreis jedoch nicht zur Gruppe anerkannter akademischer Spezialisten an den Instituten der Akademie der Wissenschaften oder der von der staatlichen Bürokratie zum Zweck des persönlichen Austauschs gelegentlich angefragten Experten. Dennoch ist ihre Medienpräsenz entscheidend für die Generierung und Stabilisierung der öffentlichen Meinung unter dem Vorzeichen offizieller Propaganda.

In der unmittelbaren Phase nach der Annexion der Krim im März 2014 ging der Spielraum für substanziellen analytischen Input von Experten zurück. Tragende Themen staatlicher Politik wurden innere Stabilität und die Aufrechterhaltung einer einheitlichen Informationspolitik gegenüber dem Ausland. Wohl erst das endgültige Scheitern der politischen Idee einer Gründung von Neurussland (Noworossija) und fehlende Antworten der nationalistischen Kräfte auf die Herausforderungen der Sanktionspolitik eröffneten technokratisch-liberalen Ansätzen neue Möglichkeiten.

Im April 2016 erklärte sich der ehemalige russische Finanzminister Aleksej Kudrin bereit, ein neues Wirtschafts- und Entwicklungsprogramm für den Präsidenten zu erarbeiten. Dazu übernahm er den Vorsitz des 1999 für den Präsidentschaftswahlkampf von Wladimir Putin gegründeten Think Tanks Zentrum für Strategische Studien (CSR). Unter seiner Führung wurde das CSR völlig neu aufgestellt und personell erheblich verstärkt. Auf Wunsch des damaligen IMEMO-Direktors Aleksandr Dynkin erhielt der ansonsten auf wirtschafts- und finanzpolitische Fragen fokussierte Think Tank zum ersten Mal eine Arbeitsgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik. Diese wurde bis Sommer 2018 vom IMEMO-Mitarbeiter Sergej Utkin geleitet. Für Dynkin und Kudrin galt es als ausgemacht, dass es ohne eine Veränderung der außenpolitischen Rahmenbedingungen und eine Normalisierung der Beziehungen mit dem Westen keine grundlegende wirtschaftliche Entwicklung und nachhaltige Modernisierung geben könnte.

In Zusammenarbeit und teilweise auch in personeller Überschneidung mit RIAC legte die Arbeitsgruppe außenpolitische Thesen und weitere Studien vor, in der sie für mehr Investitionen in den Bereichen Bildung und Gesundheit eintrat und die Reduzierung der Verteidigungsausgaben forderte. Außerdem plädierten die CSR-Mitarbeiter dafür, statt unbedingter Konfrontation mit dem Westen wo möglich auf Kooperation zu setzen. Insbesondere RIAC Generaldirektor Andrej Kortunow versuchte auch in öffentlichen Beiträgen immer wieder, Möglichkeiten auszuloten, um bestehende Interessengegensätze in der Außenpolitik handhabbar zu machen. Nach der Präsentation des Wirtschaftsprogramms im Mai 2017 und der Ernennung Kudrins zum Vorsitzenden des russischen Rechnungshofs im Mai 2018 verringerte das CSR seine Aktivitäten. Die Arbeitsgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik löste sich auf und ihr Leiter Sergej Utkin kehrte an das IMEMO zurück.

Fazit: Propaganda und Beratung

Die Stellung von Experten und ihr politischer Einfluss auf Entscheidungen in der russischen Außenpolitik sind eng an den persönlichen Zugang zum Präsidenten und zu Mitarbeitern der Präsidialadministration gebunden. Dies zeigen die Beispiele von INSOR, CSR und RIAC gleichermaßen. Die strategische Ausrichtung der Außenpolitik liegt hingegen ausschließlich beim Präsidenten bzw. einer kleinen Entscheidungselite. Expertendebatten setzen jedoch zum Teil die Grenzen des politisch Möglichen, weil sie dem Kreml auch als Informationskanal dienen, um Politikvorschläge angesichts eines fehlenden gesellschaftlichen Resonanzbodens halböffentlich zu testen.

Ein direkter Einfluss von Experten auf die operative Politik ist hingegen höchstens in Krisenzeiten möglich. Hierbei geht es vornehmlich um Beratung bei der Umsetzung von zuvor gesteckten Zielen. Eine russische Besonderheit dabei sind die ad-hoc Einsetzung von Expertengruppen und die vom Kreml für die kurzfristige Entwicklung von Politikkonzepten direkt geförderten Think Tanks. Dies ist auch deshalb notwendig, weil gefestigte Parteistrukturen oder gesellschaftspolitische Gruppen mit eigenem Know-how in der Breite fehlen. Darüber hinaus nehmen politisch gut vernetzte Experten gerade in der Außenpolitik auch Aufgaben der public diplomacy war, indem sie als Mittler zwischen Moskau und dem Ausland wirken.

Mit der Verschärfung des Konfliktes mit dem Westen in der Folge des Krieges in der Ukraine und der Annexion der Krim ist jedoch vor allem der Bedarf an öffentlicher Legitimation staatlicher Politik gestiegen. Dieser wird von politischen Kommentatoren und von als Experten auftretenden Politikaktivisten bedient. Zentrale Plattform dafür ist das russische Staatsfernsehen, das weiterhin die dominante Informationsquelle russischer Bürger darstellt.

Bibliografie

Fussnoten

Dr. des. Alexander Graef ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Seine Promotion an der Universität St. Gallen beschäftigte sich mit der Experten- und Think Tank Landschaft in der russischen Außenpolitik. Zu seinen derzeitigen Forschungsgebieten gehören konventionelle Rüstungskontrolle und russische Außen- und Sicherheitspolitik.