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Analyse: Die Anti-Extremismus-Politik in Russland: neue Entwicklungen | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die Anti-Extremismus-Politik in Russland: neue Entwicklungen

Alexander Verkhovsky Moskau) Alexander Verkhovsky (Informations- und Analysezentrum "Sowa"

/ 12 Minuten zu lesen

Mit der Verabschiedung einer Reihe von Anti-Extremismus-Gesetzen sollte vor allem gegen den radikalen Nationalismus und den radikalen politischen Islam vorgegangen werden. In der Anwendung zeigt sich jedoch, dass die Gesetzgebung neben der Verfolgung offensichtlich extremistischer Gruppen auch gegen friedliche Gegner der Regierung eingesetzt wird.

Ein Polizist bei einem Anti-Terror-Einsatz im russischen Tjumen. (© picture alliance/Maxim Slutsky/TASS/dpa)

Zusammenfassung

Im Januar 2019 geschah in Russland etwas in diesem Jahrhundert äußerst Seltenes: Die Abmilderung eines der wichtigsten Instrumente der repressiven Politik trat in Kraft. Wir beobachten, wie Strafverfahren eingestellt werden und wie Vorstrafen von Menschen gelöscht werden, die wegen öffentlicher Äußerungen verurteilt worden waren. Diese Veränderungen werden von Vertretern praktisch aller ideellen Ausrichtungen im Land begrüßt. Es wäre schlichtweg Grund zur Freude, wenn da nicht zwei "aber" wären: Zum einen geht es um den Paragraphen 282 des Strafgesetzbuches über die Erregung von Hass aufgrund der Rasse, der Religion oder anderer Merkmale (Volksverhetzung). Zweitens gibt es keinen Grund anzunehmen, dass diese Reform eine wirkliche Liberalisierung im Bereich der Meinungsfreiheit bedeutet.

Rechtliche Grundlagen

Um zu verstehen, was eigentlich geschehen ist, muss man sich zunächst die Anti-Extremismus-Gesetzgebung in Russland und deren Veränderungen über die vergangenen Jahre vergegenwärtigen.

In den Jahren 2002 bis 2007 wurde in Russland eine für Europa einzigartige, umfassende Gesetzgebung geschaffen, die sich auf das Gesetz "Über Bekämpfung extremistischer Betätigung" und die dort formulierte Definition von Extremismus stützt. Diese umfasst so verschiedenartige Phänomene wie Terrorismus, Separatismus, versuchter Aufruhr oder Umsturz und andere Formen gewaltsamen Druckes auf die Staatsmacht sowie gewalttätige oder andere Hassverbrechen, Diskriminierung, Hassrede im weitesten Sinne und Beteiligung an Organisationen, die in dieser Art aktiv sind. Dabei ist die Sprache dieser Gesetzgebung mit Bedacht unpräzise. Sie umfasst z. B. Definitionselemente wie "Erregung sozialer Feindschaft" oder "Behauptung religiöser Überlegenheit", die sich mit Leichtigkeit extensiv interpretieren lassen. Dadurch werden, so die Absicht des Gesetzgebers, die unterschiedlichsten Handlungen, die als ideell motiviert und gegen Staat und Gesellschaft gerichtet gelten können, in einem rechtlichen Rahmen zusammengefasst.

Diese Gesetzgebung ist nicht unbedingt schlecht zu nennen. So hat sich durch ihr Entstehen im russischen Strafrecht der Begriff des Hassverbrechens etabliert, und in Folge dessen begann auch eine Bekämpfung dieser Art von Verbrechen. Allerdings wurde diese Gesetzgebung von Anfang an auch als Instrument eingesetzt, um friedliche Gegner der Regierung zu verfolgen, die in keiner Weise einen Angriff auf die Verfassungsordnung unternommen hatten. Andererseits sollte man auch wissen, dass die verfolgten Opponenten der Regierung sich oft auch gegen Verfassungsgrundlagen wie Demokratie, Gleichberechtigung sowie Grund- und Menschenrechte wendeten. Somit hinterlässt die Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetze insgesamt einen ambivalenten Eindruck.

Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetze: die Entwicklung bis 2018

Statistisch lassen sich leicht die Hauptadressaten dieser Gesetzgebung ausmachen, nämlich der radikale Nationalismus (hier vor allem der am stärksten verbreitete, also der russische) und der radikale politische Islam. Die Politisierung bedeutete selektive Strafverfolgung. Da jedoch die wichtigsten Zielgruppen der Repression als tatsächliche Gefahr wahrgenommen wurden, kam es in den ersten Jahren nicht zu großem Widerspruch. Ernste Kritik gab es allerdings an der Qualität der Rechtsanwendung, vor allem hinsichtlich der Beweise der Anklage. So ging der Oberste Gerichtshof 2003 so weit, ein Dutzend islamischer Organisationen praktisch ohne Prüfung der Beweise für ihre Schuld zu verbieten. Selbst die Beschuldigungen gegen Al-Qaida erschienen als solche schlichtweg unseriös. Das war wohl auch der Grund, warum diese Entscheidung des Gerichts mehrere Jahre der Geheimhaltung unterlag.

Mit der Einrichtung von speziellen "Zentren zur Extremismusbekämpfung" (den sogenannten Zentren E) beim Innenministerium begann eine intensive Kampagne gegen Neonazi-Gruppen, die im ganzen Land Hunderte Morde und Überfälle verübt hatten. Der Erfolg der Kampagne war höchst beeindruckend: Zwischen 2008 und 2018 ist die Anzahl der Hassverbrechen auf rund ein Zehntel zurückgegangen. Das wird auch aus den (leider unvollständigen) Daten des Zentrums "Sowa" ersichtlich, die besagen, dass die Opferzahlen von Hassverbrechen von 719 im Jahr 2007 auf 57 im Jahr 2018 zurückgingen (Grafik 1 auf S. 18).

Die "Zentren E" erfüllten in jenen Jahren ihre Funktion einer politischen Polizei natürlich sehr viel breiter. Gegen andere oppositionelle Strömungen (die Neonazis wurden der Opposition zugerechnet) wurde allgemein weniger mit Verhaftungen vorgegangen, sondern eher mit Beschattung und anderer Behinderung der Oppositionsarbeit. Eine Ausnahme waren hier die radikalen Islamisten, mit denen sich vorwiegend der FSB befasste und befasst.

Die Anwendung der Anti-Extremismus-Gesetze lässt sich nach unterschiedlichen Parametern analysieren. Beschränken wir uns hier auf das Einfachste, das Verhältnis der Verfolgung wegen ideell motivierter (für gewöhnlich rassistischer) Gewalt und der wegen gesetzeswidriger öffentlicher Äußerungen (meist ebenfalls wegen Erregung von Hass aufgrund der Rasse oder der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit bzw. wenigstens wegen öffentlicher Intoleranz dieser Art). Die offizielle Statistik lässt einen solchen Vergleich nicht zu, doch selbst die zweifellos unvollständigen Monitoringdaten von "Sowa" ergeben ein recht klares Bild, das eine stetig zurückgehende Anzahl der Verurteilungen für gewalttätige Hassverbrechen bei einem gleichzeitigen Anstieg der Urteile wegen "extremistischer" öffentlicher Äußerungen zeigt (siehe Grafik 2 auf S. 18).

Für diese Entwicklung lassen sich zwei Gründe ausmachen. Zum einen konnte die Polizeimaschine nach den Erfolgen beim Kampf gegen Hassverbrechen nicht innehalten und arbeitete mit dem Ziel weiter, bei der Extremismus-Bekämpfung eine insgesamt steigende Zahl der Fälle vorzulegen. Zweitens brachten die Massenproteste von 2011/12 die Regierung dazu, verschiedene oppositionelle Gruppen aktiver zu verfolgen. Dabei wurden die Instrumente der Extremismus-Bekämpfung überwiegend gegen Nationalisten und Islamisten eingesetzt. Ein nicht weniger wichtiger Impuls für eine repressive Politik war der Beginn der Kampfhandlungen 2014 im Osten der Ukraine.

Das galt nicht nur für Verurteilungen wegen öffentlicher Äußerungen, sondern auch für die weitverbreitete Praxis gerichtlicher Verbote. Nach russischer Gesetzgebung ist es möglich, eine Vereinigung als extremistisch oder terroristisch zu verbieten, wobei jeder Versuch, nach einem solchen Verbot die Tätigkeit der Organisation fortzuführen, als sehr schwere Straftat gilt. Darüber hinaus gibt es in Russland einen weiteren in Europa einzigartigen Mechanismus, nämlich das "Föderale Verzeichnis extremistischer Materialien": Auf Antrag der Staatsanwaltschaft können Gerichte Materialien aller Art (Bücher, Videoaufnahmen, Lieder, Posts in sozialen Netzwerken usw.) als extremistisch verbieten, eine weitere Verbreitung dieser Materialien stellt allerdings keine Straftat, sondern eine Ordnungswidrigkeit dar (die gewöhnlich eine mäßige Geldbuße bedeutet). Die überwiegende Mehrheit der Verbote von Organisationen und Materialien betrifft Muslime, deren Tätigkeit der Regierung aus unterschiedlichsten Gründen verdächtig ist (die Gründe variieren hier von durchaus realen bis zu vollständig erfundenen), oder gegen Nationalisten unterschiedlicher Art.

Grafik 3 auf S. 19 zu den Jahren 2010–2018, die auf Angaben des Obersten Gerichtshofs beruht, zeigt, wie sich die Verurteilungen durch Strafkammern wegen "extremistischer" Äußerungen und der Beteiligung an "extremistischen" Vereinigungen entwickelt haben. Wir sehen, dass ab 2014 die Anzahl der Personen und Organisationen zunimmt, die ohne hinreichende oder ganz ohne Gründe in die Mangel der Anti-Extremismus-Politik geraten. Dort sind zwar Islamisten und Nationalisten zu finden, doch betraf es auch nicht wenige andere Regierungskritiker, insbesondere im Zusammenhang mit den Ereignissen in der Ukraine. Darüber hinaus schwand im gleichen Maße, in dem oppositionelle Tätigkeit aller Art zurückging – vor allem die Bewegung der russischen Nationalisten wurde schwächer – zusehends auch der Anteil der realen Aktivisten unter den strafrechtlich Verfolgten. Dementsprechend stieg der Anteil der "zufällig" Betroffenen, die sich intolerante Äußerungen geleistet, aber keine echte Hasspropaganda betrieben hatten.

Hier ist auch ein technischer Aspekt der Rechtsanwendung zu erwähnen: Sie verschiebt sich immer mehr in Richtung Internet. In den vergangenen Jahren sind bereits rund 95 Prozent der Äußerungen, wegen derer Strafurteile verhängt wurden, im Internet getätigt worden, meist in sozialen Netzwerken und hier gewöhnlich bei "VKontakte" (VK) (Externer Link: https://tass.ru/obschestvo/6310744). Das ist vor allem darauf zurückzuführen, dass sich die reale politische und sonstige Agitation dorthin verlagert hat, und auch nicht weniger darauf, dass die "Verbrecher" dort leichter zu finden sind. Dass ein russisches Netzwerk das Hauptziel ist, und nicht "Facebook" oder "Twitter", lässt sich leicht erklären: Letztere könnten sich womöglich weigern, Nutzerdaten bereitzustellen, während ein russisches soziales Netzwerk sich wohl kaum entsprechenden Anfragen der russischen Polizei verweigern würde.

Die Wende 2018

Diese Rechtsanwendung hatte jedoch in allen Teilen der russischen Öffentlichkeit zunehmend für Irritationen gesorgt. Zuerst protestierten die Ultrarechten, weil sie das Hauptziel waren. Sie waren es auch, die die populäre Parole "[Paragraph] 282 abschaffen!" prägten. Die Unzufriedenheit erfasste jedoch allmählich nicht nur die oppositionellen Kreise, sondern auch kremlfreundliche. Ein Paragraph des Gesetzbuches über Ordnungswidrigkeiten goss dann zusätzliches Öl ins Feuer, nämlich § 20.3 über die Zurschaustellung verbotener Symbole. In der Anwendungspraxis geht es bei solchen Symbolen meist um Hakenkreuze, doch ist der Kontext der Veröffentlichung oft keineswegs "nationalsozialistisch": Das können historische Fotografien sein, buddhistische Bilder oder der Einsatz des Hakenkreuzes als grafisches Mittel der Auseinandersetzung mit Opponenten (meist mit der Regierung). Die absurde Art der Rechtsanwendung sorgte nicht nur für Empörung, sondern öfter noch für Spott.

An einem bestimmten Punkt begann die wachsende Unzufriedenheit den Kreml zu beunruhigen. Die Erörterungen fanden zwar nur hinter verschlossenen Türen statt, doch lässt sich der Moment der Entscheidung recht genau festmachen. Betrachtet man die Daten des Obersten Gerichtshofes, fällt die Wende in der betreffenden Anwendung des Strafrechts in die ersten Monate 2018, weswegen die Entscheidung wohl im Herbst 2017, wenn nicht gar früher fiel, wenn man die Dauer der Ermittlungsverfahren berücksichtigt. In Grafik 3 auf S. 19 erkennen wir einen noch nie dagewesenen Rückgang an Urteilen wegen zwei der drei Hauptkategorien von "Straftaten extremistischer Natur" (die dritte, also gewalttätige Hassverbrechen, wies sogar eine gewisse Zunahme auf; siehe Grafik 1 auf S. 18). Der in dieser Grafik dargestellte Rückgang ist keineswegs zufällig. Zudem hatte Wladimir Putin im Juni 2018 erklärt, dass Reformen vonnöten seien. Im Herbst folgten dann entsprechende Kommentare des Obersten Gerichtshofes und ein Gesetzentwurf des Präsidenten, der den am zahlreichsten eingesetzten Paragraphen 282 zum Teil entkriminalisierte: Fehlen erschwerende Umstände, wird das erste Vergehen nach diesem Paragraphen wie eine Ordnungswidrigkeit gewertet; eine strafrechtliche Verantwortung entsteht erst bei wiederholtem Vergehen innerhalb eines Jahres nach dem ersten. Die Regierung verzichtete leider auf weiterreichende Reformen. Gleichwohl markierten diese beiden Schritte zur Jahreswende 2018/19 einen klar erkennbaren Umbruch bei der Gesetzesanwendung.

Noch fehlen die vollständigen Daten für 2018, doch genügt zur Überprüfung ein Gesamtblick auf die Daten des Obersten Gerichtshofes über eröffnete oder den Gerichten übergebene Verfahren. 2017 waren im Schnitt 127 Verfahren pro Monat eröffnet worden. 2018 waren es 105 und in den ersten beiden Monaten 2019 lediglich 41. 2017 wurden monatlich 92 Verfahren an die Gerichte übergeben, 2018 im Schnitt 80 und im Januar und Februar 2019 jeweils 29.

Man sollte jedoch nicht annehmen, dass dies eine entschiedene Liberalisierung bedeutet, oder eine Absage des Staates an einen Kampf gegen die aus Sicht dieser Gesetzgebung wichtigsten politischen Gegner – die Ultrarechten, die radikalen Islamisten und Gruppen, die zumindest potentiell auf eine gewaltsame Konfrontation mit der Regierung ausgerichtet sind. Man könnte eher von einem Ansatzwechsel sprechen. Die Anti-Extremismus-Gesetze waren als Instrument politischer Repressionen mittlerweile derart zufällig und wenig zielgenau geworden, dass sie kaum mehr taugten. Einerseits sind die meisten der aktiven oder gar radikalen oppositionellen Aktivisten gleichwohl nicht mit Hilfe dieser Gesetze belangt worden. Andererseits hat die höchst selektive Anwendung selbst gewöhnliche Bürger nicht abschrecken können: Zwar haben alle gehört, dass es eine Gefahr gibt, doch liefert die Anwendung der Gesetze derart wenig Hinweise, wann das Risiko einer Bestrafung am größten ist, dass das Ganze eher wie eine Lotterie wahrgenommen wird. Hinsichtlich öffentlicher Äußerungen hat der Staat nirgendwo eine für die Bürger oder wenigstens für Aktivisten klare rote Linie ziehen können. Die Anwendung dieser Gesetze funktionierte im Grunde als Selbstzweck, und nicht im Sinne des Kreml, so dass man sie leicht aufgeben konnte. Für die repressive Funktion als Ganzes ließe sich schon etwas anderes finden.

Diversifizierung der Anti-Extremismus-Politik

Von einem solchen Wandel kann gegenwärtig nur hypothetisch die Rede sein. Allerdings liefert die Erfahrung der vergangenen zwei Jahre gewisse Hinweise. Die Hypothese besteht darin, dass die Regierung – anstelle eines chaotischen, frontalen Druckes auf alle – nun zu einer diversifizierten Politik, bestehend aus drei Komponenten, übergeht.

Eine davon ist die strafrechtliche Verfolgung wegen mittelschwerer Verbrechen. Die wichtigsten Paragraphen sind auch hier § 282 (Volksverhetzung) und § 280 (Aufrufe zu extremistischer Tätigkeit). Aufgrund der sehr weit gefassten Definition von extremistischer Tätigkeit ist auch der letztere Paragraph sehr weitreichend. Gleichwohl ist der Rückgang der Urteile hier sogar noch stärker als bei § 282.

Die zweite Komponente ist eine heftigere Verfolgung, die stärker mit Kräften des Inlandsgeheimdienstes FSB als mit denen der Polizei erfolgt (obwohl der FSB auch bei der Verfolgung mittelschwerer Verbrechen beteiligt ist). Zum einen handelt es sich hier um die Verfolgung von Propaganda für Terrorismus oder die Rechtfertigung desselben (§ 205.2), die gegen einen recht breiten Personenkreis erfolgt. Bislang betrifft das für gewöhnlich radikale Islamisten, doch besteht die Gefahr, dass dieses Mittel auch gegen friedliche Opponenten eingesetzt wird. Wir können feststellen, dass die Anwendung dieses Paragraphen nicht zurückgegangen ist, eher im Gegenteil.

Darüber hinaus geht es um die Verfolgung von Gruppen, die wenigstens hypothetisch als auf ein gewaltsames Vorgehen ausgerichtet wahrgenommen werden. In Wirklichkeit gibt es in Russland nahezu keinen bewaffneten Untergrund, die militanten Salafisten einmal ausgenommen. Doch führen selbst die unbedeutendsten Versuche, sich der Schaffung eines solchen Untergrunds zu nähern, zu drastischen Sanktionen. Bei dieser Entwicklung sind die weithin bekannten Verfahren gegen die Bewegung "Artpodgotowka" (dt.: "Artillerie-Vorbereitung") sowie die Gruppen "Neue Größe" und "Netz". Die isoliert erfolgte Selbstsprengung eines Anarchisten in der Rezeption des FSB in Archangelsk hatte schon zum Jahreswechsel 2018/19 landesweit eine ganze Serie von Durchsuchungen und Festnahmen im anarchistischen Milieu zur Folge. Ebenso ist hier die immer schärfere Verfolgung verbotener muslimischer Organisationen zu nennen, etwa der Bewegung "Tabligi dschama’at", der Anhänger von Said Nursi und insbesondere der islamistischen Partei "Hisb ut-Tahrir". Das Spektrum dieser Organisationen reicht von radikal verfassungsfeindlich bis vollkommen apolitisch und harmlos, doch setzen sie sämtlich Gewalt nicht als Selbstzweck ein, was nichts daran ändert, dass ihre Anhänger zu immer längeren Freiheitsstrafen verurteilt werden. Merkwürdigerweise gehört in diese Reihe auch das Verbot der Zeugen Jehovas; auch wenn es sich bei ihnen um konsequente apolitische Pazifisten handelt, werden sie als subversive Vereinigung wahrgenommen. Ihre Tätigkeit ist verboten und über 120 Mitgliedern steht allein wegen ihrer religiösen Betätigung ein Gerichtsverfahren bevor. Für all diese Vereinigungen, angefangen bei denen, die real fast Kampforganisationen sind, bis hin zu pazifistischen, ist der FSB zuständig, welcher darauf ausgerichtet ist, ihre Tätigkeit immer stärker zu unterdrücken.

Die dritte Komponente richtet sich weniger gegen Aktivisten (allerdings auch an diese), sondern gegen die breite Öffentlichkeit. Hier handelt es sich um Verfolgungen verwaltungsrechtlicher Natur. Die Strafen, die vom Gesetzbuch für Ordnungswidrigkeiten vorgesehen werden, sind nicht groß, doch sind die Verfahren im Vergleich mit der Strafprozessordnung einfacher. Hier nimmt die Zahl der Bestrafungen rasant zu: von 90 im Jahr 2010 auf 4192 im Jahr 2018, und das allein bei den beiden wichtigsten Anti-Extremismus-Paragraphen (siehe Grafik 4 auf S. 19). Aus der Grafik wird ersichtlich, dass die Abnahme der strafrechtlichen Verfolgung im vergangenen Jahr keineswegs auch bei den Ordnungswidrigkeiten zu beobachten war. Die Reform des Paragraphen 282 wird zu einer Zunahme der letzteren führen.

Das war der Regierung jedoch zu wenig. Zusätzlich zu den Gesetzesbestimmungen gegen Extremismus verabschiedete die Staatsduma Anfang 2019 zwei neue Gesetze, die neue Tatbestände für Ordnungswidrigkeiten einführten, die nun schon eindeutig gegen Kritik an der Regierung gerichtet sind. Es sind die ersten Gesetze in Russland, die gerade im Internet die Meinungsfreiheit einschränken. Das eine Gesetz führt Geldbußen und andere Strafen für unanständige despektierliche Äußerungen über den Staat, dessen Symbole und Organe sowie die Gesellschaft als Ganzes ein. Das zweite bestraft die Verbreitung falscher Gerüchte, die Unruhen oder andere schwerwiegende Folgen haben können. Die neuen Gesetze sind noch kein einziges Mal zur Anwendung gekommen, doch wird das zweifellos noch kommen.

Die Strafen wegen Ordnungswidrigkeiten werden wohl Tausende Bürger treffen, was anscheinend in der Vorstellung der politischen Führung einen gewissen Abkühlungseffekt haben soll. Darüber hinaus wird als Mittel zur Vorbeugung gegen unliebsame Agitation erheblich auf eine technische Regulierung des Internet gesetzt (Kampf mit den VPN und Suchmaschinen, das Gesetz zum "souveränen russischen Internet" usw.).

Schlussfolgerungen

Es ist zu beobachten, dass die russische Regierung einen Wechsel vollzieht, und zwar hin zu einem recht komplizierten System der Anti-Extremismus-Politik, das die betreffenden Objekte nach der Gefahr unterteilte, die sie vor allem für die politische (weniger für die öffentliche) Sicherheit darstellen. Wie sich das mittelfristig auswirken wird, ist schwer zu sagen. Zum einen könnte es zu stets neuen Initiativen kommen, die wohl eher repressiv sein dürften. Zweitens könnten die Polizei- und Justizbehörden mit diesem komplizierten Modell nicht zurechtkommen. Sie unterteilen jetzt schon auf recht merkwürdige Weise die Anwendung der Gesetze nach der Größe der Gefahr. Drittens richten sich die Repressionen des Staates nach wie vor sowohl gegen Gruppen, die mit mehr oder weniger gutem Grund als Gefahr für die innere Sicherheit betrachtet werden können, als auch gegen Opponenten der Regierung, die eindeutig keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen. Im Bewusstsein der Bürokratie und der Gesellschaft wird diese Unterscheidung jedoch kaum gemacht. Insgesamt ist davon auszugehen, dass das neue Modell nicht von Dauer sein wird.

Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder

Lesetipps:

Fussnoten

Alexander Verkhovsky ist Direktor des Informations- und Analysezentrums "Sowa" und seit 2012 Mitglied des Rates zur Förderung der Menschenrechte und der Zivilgesellschaft beim Präsidenten Russlands. Das Zentrum "Sowa" forscht seit 2002 u. a. zum Ultranationalismus, zu Hassverbrechen, und zum juristischen Vorgehen gegen Extremismus. Zu den Forschungsschwerpunkten von Alexander Verkhovsky gehören politischer Extremismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, die Beziehung von Religion und Politik sowie der Missbrauch der Anti-Extremismus-Politik im heutigen Russland. Er ist Autor mehrerer Bücher zu diesen Themen. Neben einer Reihe von Sowa-Berichten und vielzähligen wissenschaftlichen und Medienbeiträgen ist als jüngstes Buch von ihm erschienen: Criminal Law on Hate Crime, Incitement to Hatred and Hate Speech in OSCE Participating States (Den Haag, 2016).