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Analyse: "Perm-36": Die umkämpfte russische Erinnerung an die politischen Repressionen in der Sowjetunion | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: "Perm-36": Die umkämpfte russische Erinnerung an die politischen Repressionen in der Sowjetunion

Lina Klymenko

/ 9 Minuten zu lesen

Vertreter verschiedener Gruppen und Organisationen werfen den Gründern des Perm-36-Museums vor, ein falsches Bild des früheren Gefangenenlagers und der kommunistischen Regierung zu zeichnen. Die Debatte um das Museum zeigt, wie schwierig sich die geschichtliche Aufarbeitung in Russland gestaltet.

Besucher des Gulag-Museums in Moskau schauen sich in einer Ausstellung Plakate mit sowjetischer Propaganda an. (© picture alliance/NurPhoto)

Zusammenfassung

Der Beitrag zeichnet das Schicksal des Museums "Perm-36" nach und erörtert hierzu die öffentlichen Debatten im heutigen Russland über die sowjetischen politischen Repressionen. Der Beitrag zeigt auf, wie umkämpft das Museum ist – zwischen Dissidenten, die nach der Sensibilisierung der Gesellschaft für die politischen Repressionen streben, und ehemaligen Lagerwachen, die den repressiven Charakter des sowjetischen Regimes leugnen. Die Auseinandersetzung um das Gulag-Museum zeigt, wie kompliziert die russische Aufarbeitung der Geschichte der politischen Repressionen und konkret eines Arbeitslagers ist.

Einleitung

Im März 2015 verkündete die NGO "Gedenkzentrum für die Geschichte der politischen Repressionen "Perm-36"" ihre Selbstauflösung. Das "Museum der politischen Repressionen "Perm-36"" war in den frühen 1990er Jahren in einer ehemaligen Arbeitskolonie mit strengem Haftregime in der Nähe des Dorfes Kutschino (Region Perm) von örtlichen Historikern und ehemaligen politischen Häftlingen eingerichtet worden. Die Initiatoren des Museums gründeten die erwähnte NGO "Perm-36", um das Museum zu betreiben. In dieser Form war das Museum über zwei Jahrzehnte lang tätig, bis die Regierung der Region Perm beschloss, eine staatliche Einrichtung zu gründen, die die NGO "Perm-36" ersetzen sollte.

Bei dem Konflikt um das Museum, der in den Jahren 2014 und 2015 im Kontext der Annexion der Krim durch Russland und des Ausbruchs des militärischen Konfliktes in der Ostukraine seinen Höhepunkt erreichte, waren eine Reihe staatlicher und nichtstaatlicher Akteure beteiligt.

Während dieser Zeit bezeichneten die Mainstream-Medien in Russland ganz in sowjetischem Stil oft jedwede Form von Manifestierung einer Selbstbestimmung in der Ukraine oder im Baltikum als "Faschismus". Im Juni 2014 zeigte der kremlfreundliche Fernsehsender NTV die diskreditierende Reportage "Fünfte Kolonne", in der die ehemaligen Lagerinsassen als banderowzy (dt.: "Bandera-Leute") bezeichnet wurden. Im Oktober 2014 organisierte die Kommunistische Partei der Russischen Föderation Proteste gegen die NGO "Perm-36" und im September 2015 hatte die Partei eine Petition zur Unterstützung der Regierung der Region Perm gestartet. Sie wurde von zwei Personen unterzeichnet. Schließlich wurde das Museum vom Staat übernommen und erhielt den Namen "Gedenkstätte der Geschichte politischer Repressionen "Perm-36"". Und selbst eine Petition an den Gouverneur der Region Perm, die im Sommer 2014 von Robert Latypow – dem Vorsitzenden der Regionalabteilung Perm der Gesellschaft "Memorial" – verfasst wurde, konnte das Museum nicht retten, obwohl über 90 000 Personen die Petition unterzeichnet hatten.

Anerkennung für den Widerstand gegen das sowjetische Regime

Für den Gründer des Museums "Perm-36", Viktor Schmyrow, war das Museum eine Gedenkstätte für die Opfer politischer Repressionen in der Sowjetunion. In seinem 2001 in der Zeitschrift "Museum International" erschienenen Artikel "The Gulag Museum" betonte Schmyrow, dass das Museum ein Symbol für die Tragödie von Millionen Menschen darstellte, die politischen Repressionen ausgesetzt und durch das System des Gulag gegangen waren. Der Gründer des Museums berichtete, dass das Lager 1946 als Kolonie für Holzarbeiten eingerichtet wurde, in der Menschen untergebracht waren, die unter Stalin verurteilt worden waren. Nach Stalins Tod wurde das Lager in ein Speziallager für inhaftierte frühere Angehörige der Sicherheitsorgane umgewandelt, unter anderem für ehemalige Mitarbeiter des KGB und der Staatsanwaltschaften. Nach 1972 wurde es ein Lager für politische Häftlinge. In seiner Schilderung über die Ursprünge des Lagers befasst sich Schmyrow insbesondere mit den politischen Häftlingen. Er betonte die harten Bedingungen im Lagertrakt mit verschärften Sicherheitsvorkehrungen, der 1980 für politische Häftlinge gebaut wurde. Er erklärt, dass sich unter denjenigen, die wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda inhaftiert waren, Dissidenten wie Wladimir Bukowskij, Sergej Kowaljow, Jurij Orlow, Natan Scharanskij, Gleb Jakunin befanden. Die Gefangenen waren in kleinen Zellen inhaftiert und wurden einmal täglich in den Freiganghof gelassen. Das Museum "Perm-36" befand sich zwar auf dem Gelände eines Gulag-Lagers aus der Stalinzeit, doch war es nach Ansicht Viktor Schmyrows den politischen Häftlingen der gesamten Sowjetzeit gewidmet. Das Museum fungiere als Gedenkstätte für den Widerstand gegen das sowjetische Regime. Ein Teil des Museums, eine neue Ausstellung, sollte dem Kampf der politischen Häftlinge gegen das sowjetische Regime gewidmet sein, also jenen Personen, die ihre Energie und ihren Enthusiasmus einsetzten, um das kommunistische Regime, das von Schmyrow als "totalitär" bezeichnet wird, zu Fall zu bringen.

Auf dem Höhepunkt der Kontroverse um das Museum räumte Schmyrow ein, dass auch Angehörige der "Organisation Ukrainischer Nationalisten" (OUN) in "Perm-36" inhaftiert waren. Er widersprach allerdings der weitverbreiteten Wahrnehmung, alle Lagerhäftlinge seien "Bandera-Leute" gewesen. In seinem Artikel "Vier Bandera-Leute", der im Mai 2015 bei "Radio Liberty" erschien, bekräftigte Schmyrow, dass die sowjetische Regierung drei Kategorien von Angehörigen des nationalistischen Untergrunds in der Westukraine und im Baltikum unterschied: aktive Mitglieder, Reservemitglieder und Sympathisanten. Er erklärte, dass mit dem Begriff banderowzy in einem weiteren Sinne jene beschrieben wurden, die wegen "Heimatverrat" ("ismena rodiny") oder "Beteiligung an einer antisowjetischen Organisation" inhaftiert waren. Schmyrow zufolge fielen im Lager "Perm-36" unter diese Häftlingskategorie (ohne Beschuldigung wegen "antisowjetischer Agitation") im Zeitraum von 1947 bis 1980 nur 173 Personen (von insgesamt 994 Häftlingen). Als banderowzy in einem engeren Sinne bezeichneten die sowjetischen Behörden Angehörige der bewaffneten OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten). In den Archivunterlagen des Museums gebe es aber nur vier Aktensätze mit einem Vermerk "OUN", fasste Schmyrow zusammen.

Auch einige ehemalige russische Dissidenten beteiligten sich an der Debatte. So ging der ehemalige russische Dissident Sergej Kowaljow (seinerzeit Häftling in "Perm-36") im März 2015 in einem Interview für das Portal "Otkrytaja Rossija" auf die Strafvollzugspraktiken im Lager ein. Er berichtete, dass es dort 140 Häftlinge gegeben habe, als er dort eintraf, sodass jeder Häftling unter enger Beobachtung durch die Lagerverwaltung stand. Kowaljow erzählt, dass Häftlinge nach einer Verfehlung in eine kalte Strafzelle verlegt wurden und besonders karge Rationen zugeteilt bekamen. Die schlimmste Erfahrung seien jedoch nicht die physischen Entbehrungen gewesen, gestand der ehemalige Dissident, sondern der Verlust der Freiheit in Gestalt der anmaßenden, zynischen und erniedrigenden Behandlung durch die Lagerverwaltung. Kowaljows Sympathie für antisowjetische Widerstandsbewegungen in den baltischen Republiken und der Ukraine scheint allerdings stark den Protest der Gegner von "Perm-36" angeregt zu haben. In einem Interview für "Radio Liberty" hatte Kowaljow im Juni 2014 berichtet, dass neben Dissidenten wie ihm selbst dort auch estnische und lettische Widerständler, litauische "Waldbrüder" und Angehörige der Widerstandsbewegung in der Westukraine inhaftiert waren. Er verwies darauf, dass die letzteren heute als "Bandera-Leute" bezeichnet und als grausam dargestellt würden. Kowaljow meinte allerdings, dass sie für ihre von der Sowjetunion besetzten Heimatländer gekämpft hätten und somit zu Unrecht inhaftiert gewesen seien.

In ähnlicher Weise sind ehemalige ukrainische Dissidenten, die in den drei Permer Lagern (die Lager Perm-35 bis Perm-37) inhaftiert waren, der Ansicht, dass das Museum "Perm-36" politischen Gefangenen der 1960er bis 1980er Jahre gewidmet war. In ihrem Brief vom Juli 2014 an den Gouverneur der Region Perm und den russischen Kulturminister positionieren sich die ehemaligen ukrainischen Dissidenten in Opposition zum sowjetischen Regime. Sie behaupteten, dass in "Perm-36" von den 56 Häftlingen, die in der Lagerabteilung mit strengem Regime einsaßen, 37 Ukrainer waren. Auch siebzehn Mitglieder der Ukrainischen Helsinki-Gruppe waren dort inhaftiert, von denen vier im Jahr 1984 verstorben sind. 1985 starb auch der Dichter Vasyl Stus in dem Lager. Durch eine konzeptuelle Definition der Sowjetunion als russisches Imperium betonten die Unterzeichner, dass sie für eine unabhängige Ukraine gekämpft hätten. Die ehemaligen ukrainischen Dissidenten verwiesen darauf, dass die meisten Opfer der Repressionen der Stalin- und Breschnew-Zeit in den Jahren 1987 – 1990 als Opfer politischer Repressionen rehabilitiert wurden. Dies erfolgte auf Grundlage von Gesetzen in den damaligen Sowjetrepubliken; viele der Rehabilitierten wurden berühmte Personen des öffentlichen Lebens. Daher verwahrten sich die Dissidenten dagegen, als "Bandera-Leute" gebrandmarkt zu werden. Sie räumten ein, dass es wirklich Personen in den Permer Lagern gegeben hat, die wegen ihrer Kollaboration mit den nationalsozialistischen Besatzern angeklagt worden waren, doch sei das Museum nicht diesen gewidmet, sondern den Dissidenten und Menschenrechtsaktivisten, die in den 1960er bis 1980er Jahren aus politischen Gründen angeklagt wurden.

Verurteilung des Widerstandes gegen das sowjetische Regime

Gegen das Narrativ der NGO "Perm-36" über die Geschichte der politischen Repressionen in der Sowjetunion wendeten sich vor allem ehemalige Lagerwachen. Aus Sicht der Letzteren habe das Museum jene glorifiziert, die sie nun als "Feinde des Russischen Staates" bezeichnen. 2012 – 2013 lieferten die ehemaligen Lagerwachen in einer Publikationsserie der Organisation "Sut Wremeni" (dt.: "Wesen der Zeit") eine eigene Sicht der Strafvollzugspraktiken im Lager "Perm-36" sowie eine eigene Charakterisierung der Häftlinge.

Wladimir Kurgusow, ein ehemaliger Angehöriger der Lagerwache und einst Mitglied eines Militärtribunals, der von 1972 bis 1987 im Lager "Perm-36" gearbeitet hatte, äußerte sich ebenfalls zu dem Museum. In einem Interview für die russische Zeitung "Argumenty i Fakty" behauptete Wladimir Kurgusow im Juli 2012, dass in dem Lager "Waldbrüder", "Bandera-Leute" und Angehörige der Wlassow-Armee – die er alle "Verräter" nennt – inhaftiert waren. Darüber hinaus habe es dort auch Personen mit antisowjetischen Ansichten gegeben. Auf diese Weise brandmarkte Kurgusow nicht nur die bewaffnete antisowjetische Bewegung, sondern rechtfertigte auch die Inhaftierung von Dissidenten. Er leugnete die schlimmen Bedingungen, die im Lager für politische Häftlinge herrschten, und bezeichnete deren Teil des Lagers als "Sanatorium" mit sauberen Örtlichkeiten sowie wohlgekleideten und -genährten Häftlingen. Folglich sperrt er sich dagegen, das Lager "Perm-36" der späten Sowjetzeit als "Lager des Gulag" zu bezeichnen.

In ihrem Appell an den Gouverneur der Region Perm und den Präsidenten Russlands vom Dezember 2012 argumentierte die Organisation "Sut Wremeni", das Museum "Perm-36" sei antisowjetisch und antipatriotisch. Es würde das Thema Repressionen ausnützen und der internationalen Gemeinschaft ein negatives Bild von der Geschichte der Region Perm vermitteln. Sie leugnete die harten Bedingungen im Lager, und die durch die NGO "Perm-36" vorgenommene Definition des kommunistischen Regimes als "unmenschlich" verwarf sie. Als Argument wurde dabei ins Feld geführt, dass die Umwandlung von "Perm-36" in ein Lager für politische Häftlinge im Jahr 1972 erfolgte, also in einer Zeit, die – folgt man "Sut Wremeni" – nicht mit Begriffen wie "Stalinismus" oder "Totalitarismus" charakterisiert werden kann. Gleichzeitig setzte die Organisation die Wortverbindung "politische Häftlinge" in Anführungszeichen und leugnete somit, dass es in der späten Sowjetzeit politische Repressionen gegeben hat. "Sut Wremeni" kommt zu dem Schluss, dass das Museum zu einer Huldigung an jene wurde, die "Sut Wremeni" als "Nazi-Helfer und radikale Separatisten" bezeichnete. "Sut Wremeni" bestritt somit die Existenz jeglichen Kampfes für nationale Selbstbestimmung in der ehemaligen Sowjetunion.

Die staatlich finanzierte "Gedenkstätte für die politischen Repressionen", die als Träger des Museums "Perm-36" ins Leben gerufen wurde, erklärt auf ihrer Internetseite, dass das Lager "Perm-36" und ähnliche Kolonien in der Nähe zu Lagern für politische Häftlinge umgebaut wurden. 1980 sei für letztere eine Abteilung mit verschärften Haftbedingungen geschaffen worden. Unter den Häftlingen der Permer Lager, so das Museum jetzt, seien Verfasser und Verteiler antikommunistischer Literatur, Mitglieder von Menschenrechtsgruppen und anderer religiöser oder nationaler Organisationen gewesen. Unter anderem seien Wladimir Bukowskij, Sergej Kowaljow, Anatolij Martschenko, Wassilij Stus, Natan Scharanskij und Gleb Jakunin unter den Gefangenen gewesen. Von den drei politischen Lagern, die seinerzeit in der Region Perm bestanden, sei dieser Teil das mit den strengsten Bedingungen gewesen, erklärt die Webseite. Aus dieser Darstellung geht hervor, dass die Gedenkstätte die Aufmerksamkeit auf die politischen Repressionen in der späten Sowjetzeit richtet. Sie erwähnt allerdings in ihrem Narrativ über die Ursprünge des Lagers nicht die Angehörigen der bewaffneten antisowjetischen Widerstandsbewegungen.

Schlussfolgerungen

Die Kontroverse um das Museum "Perm-36" illustriert die Schwierigkeiten, denen die Gesellschaft in Russland bei der Memorialisierung der Geschichte der politischen Repressionen in der Sowjetunion gegenübersteht. In dem Konflikt zwischen den Gegnern und den Fürsprechern des Museums war die Bevölkerung zwischen jenen gespalten, die die Öffentlichkeit hinsichtlich der repressiven Natur des politischen Regimes in der Sowjetunion sensibilisieren wollen, und jenen, die diese politischen Repressionen bestreiten. Die Diskussion um das Museum machte vor allem deutlich, wie die sowjetische Regierung jene bestrafte, die sich dem sowjetischen Regime widersetzten, sei es im bewaffneten Widerstand während des Zweiten Weltkrieges oder in der Nachkriegszeit, oder als Dissident in der Spätzeit der Sowjetunion. Die Debatte um das Museum tangiert auch die komplexe Geschichte der bewaffneten antisowjetischen Widerstandsbewegungen, einschließlich deren Kollaboration mit Nazi-Deutschland, anti-jüdischer Gewalt und Gewalt gegen sowjetische Funktionäre und die Zivilbevölkerung. Durch die Übernahme des Museums "Perm-36" durch den Staat allerdings wurde die Geschichte des antisowjetischen Widerstandes nicht aufgegriffen; vielmehr hat sie die Diskussion zu diesem Thema verstummen lassen.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Danksagung

Die Autorin dankt Markku Sippola von der Universität Helsinki für wesentliche Hinweise zu frühen Fassungen dieses Beitrags.

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Fussnoten

Lina Klymenko promovierte in Politikwissenshaft an der Universität Wien und ist Dozentin an der Universität Tampere (Finnland). Die Schwerpunkte ihrer Forschung sind Außenpolitik, Erinnerungspolitik und Politik der nationalen Identität in postsowjetischen Ländern.