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Kommentar: Im Schatten der WM: Erhöhung von Renteneintrittsalter und Mehrwertsteuer | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Im Schatten der WM: Erhöhung von Renteneintrittsalter und Mehrwertsteuer

Martin Brand

/ 3 Minuten zu lesen

Mit Beginn der Fußballweltmeisterschaft sind in Russland zwei Reformen verabschiedet worden, die sozialen Sprengstoff für die Gesellschaft in Russland bedeuten: die Erhöhung des Renteneintrittsalters sowie der Mehrwertsteuer. Die Opposition formiert sich bereits. Doch laufen Proteste ins Leere?

Der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedew kündigt bei einer Kabinettssitzung kurz vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 eine Erhöhung des Renteneintrittsalter sowie der Mehrwertsteuer an. (© picture-alliance/dpa, Sputnik)

Einführung

Nur wenige Stunden vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft am 14. Juni hat die russische Regierung zwei Entscheidungen verkündet, die erhebliche soziale Sprengkraft entfalten könnten: Zum einen soll das Renteneintrittsalter erheblich angehoben werden – für Frauen um acht, für Männer um fünf Jahre. Zum anderen plant die Regierung von Ministerpräsident Dmitrij Medwedew, die Mehrwertsteuer von derzeit 18 auf 20 Prozent zu erhöhen. Im Schatten der WM werden Sozialreformen auf den Weg gebracht, gegen die sich trotz gegenwärtiger Fußball-Euphorie ein breiter gesellschaftlicher Widerstand von Gewerkschaften und Opposition formiert.

Reform des Renteneintrittsalters

Vor allem die Erhöhung des Renteneintrittsalters bewegt die Menschen in Russland. Im Detail sieht der Gesetzentwurf folgende Veränderungen vor:

  • Schrittweise Anhebung des regulären Renteneintrittsalters von gegenwärtig 55 Jahren (Frauen) bzw. 60 Jahren (Männer) auf 63 Jahre (Frauen) bzw. 65 Jahre (Männer);

  • Die Erhöhung des Renteneintrittsalters beginnt 2019 und soll für Männer im Jahr 2028, für Frauen im Jahr 2034 abgeschlossen sein;

  • Erhöhung des Mindestalters für den Bezug von Sozialrente von 60 Jahren (Frauen) bzw. 68 Jahren (Männer) auf 68 Jahre (Frauen) bzw. 70 Jahre (Männer). Sozialrente erhalten all jene Menschen, die nicht die notwendige Rentenversicherungszeit von gegenwärtig neun Jahren (ab 2024: 15 Jahre) vorweisen können.

Seit langem war eine solche Maßnahme von der großen Mehrheit der Wirtschaftsexperten gefordert worden, denn in kaum einem Land der Welt können Menschen eher in Rente gehen als in Russland. Auch die russische Regierung erwog bereits Mitte der 1990er Jahre, das Renteneintrittsalter anzuheben. Doch letztlich blieb in allen Rentenreformen im postsowjetischen Russland die Frage nach dem Renteneintrittsalter immer unangetastet – wohl nicht zuletzt aus Angst vor sozialen Protesten.

Widerstand gegen die Rentenreform

Offensichtlich sah die russische Regierung nun ein Zeitfenster geöffnet, um eine Reform anzustoßen, die in der Bevölkerung auf breite Ablehnung stößt (laut Umfrage des Instituts "Romir" sind 92 % der Menschen in Russland gegen eine Erhöhung des Renteneintrittsalters). Wladimir Putin hat seine vierte Amtszeit als Präsident angetreten und die Fußball-WM sorgt für Ablenkung im ganzen Land. Außerdem ist zur WM das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit per Erlass von Präsident Putin eingeschränkt worden. Politische Kundgebungen dürfen in den elf WM-Spielorten nur dort stattfinden, wo es die Behörden für angebracht halten.

Protest regt sich dennoch. Auf der Onlineplattform "Change.org" hat der Gewerkschaftsverbands "Konföderation der Arbeit Russlands" (KTR) eine Petition eingestellt, in der Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew aufgefordert werden, das Renteneintrittsalter nicht anzuheben. Bereits 2,2 Millionen Menschen haben diese Forderung unterschrieben (Stand 21. Juni 2018). Nun plant der Gewerkschaftsverband den Widerstand auch auf die Straße zu tragen.

Auf die Straße will auch Alexej Nawalny. Der Oppositionelle ruft – zwei Wochen nach seiner Haftentlassung – für den 1. Juli zu Protestaktionen in 20 russischen Städten auf, in denen keine WM-Spiele stattfinden. Andere Oppositionsparteien wie "Jabloko" oder die "Wachstumspartei" planen Kundgebungen in Moskau und St. Petersburg.

Welche Folgen gesellschaftlicher Widerstand gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters haben kann, zeigt das Beispiel Polen. Dort hatte die Regierung unter Führung der "Bürgerplattform" (PO) 2012 die Erhöhung des Renteneintrittsalters beschlossen. Die Oppositionspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) gewann die polnischen Parlamentswahlen 2015 nicht zuletzt mit dem Versprechen, das Renteneintrittsalter wieder abzusenken.

Ob der Widerstand gegen die Rentenreform in Russland tatsächlich zu einer landesweiten Welle von Sozialprotesten anwächst, wie es sie zuletzt 2005 gab, als Russlands Regierung die Monetarisierung sozialer Vergünstigungen (bspw. Geldleistungen statt kostenfreier ÖPNV für Rentner) plante, ist noch nicht abzusehen. Potential dafür ist zweifellos vorhanden.

Russlands Rentensystem in der Krise

Andererseits erscheint eine Reform des Rentensystems unausweichlich. Im Jahr 2018 wird das Defizit des Rentenfonds auf 257 Milliarden Rubel (17,7 Mrd. Euro) beziffert, 40 % seiner Einnahmen kommen inzwischen aus dem Staatshaushalt. Daher wird seit 2014 die verpflichtende kapitalgedeckte Rentenvorsorge "eingefroren" und die dafür vorgesehenen Beiträge zur Finanzierung der laufenden Renten herangezogen. Zudem wurde über mehrere Jahre die Rentenhöhe nicht vollständig an die Inflation angepasst. Neben den ökonomischen Kennziffern stehen aber auch soziale: Gegenwärtig liegt die Lebenserwartung bei 77,6 Jahren (Frauen) und 67,5 Jahren (Männer). Im Jahr 2016 starben 43 % der Männer vor Erreichen des Alters von 65 Jahren (Frauen: 18 %). Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters würde daher für viele Menschen in Russland – vor allem für Männer – de facto die Abschaffung der Rente bedeuten.

In diesem Spannungsfeld ökonomischer und sozialer Faktoren wird sich die Debatte um die Reform des Rentensystems in Russland bewegen – spätestens nach der Fußball-WM.

Fussnoten

Martin Brand ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SFB 1342 "Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik", Teilprojekt B06, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, wo er zur Armutspolitik im postsowjetischen Raum forscht. Er promoviert zur sozialpolitischen Entwicklung in Russland, Belarus und der Ukraine.