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Dekoder: Wie russische Staatsdiener die "Post-Leugnung" erfanden | Russland-Analysen | bpb.de

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Dekoder: Wie russische Staatsdiener die "Post-Leugnung" erfanden

Kirill Martynow

/ 5 Minuten zu lesen

Für den Journalisten Kirill Martynow geht Russland in der "post truth"-Ära einen eigenen Weg: alles dementieren und rationale Argumente und Fakten ins Leere laufen lassen. Ein Beitrag über den Umgang Russlands mit dem Kokain-Skandal und weiteren für Russland unangenehmen Ereignissen.

Russland in der "post untruth"-Ära: Die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, dementierte eine Involvierung russischer Diplomaten in den Kokain-Skandal. (© picture-alliance/AP)

Der folgende Beitrag des russischen Journalisten Kirill Martynow erschien ursprünglich am 27.02.2018 in der Zeitung Nowaja Gaseta und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung von dekoder

Im Dezember 2016 wandte sich der russische Botschafter in Argentinien an die Polizei: Er hatte in einem Regal in der Botschaftsschule zwölf verdächtige Koffer gefunden. In diesen befanden sich 389 Kilogramm Kokain. Russische und argentinische Behörden hätten gemeinsam an dem Fall gearbeitet, berichtet das Außenministerium, die Droge gegen Mehl ausgetauscht und die Koffer mit GPS-Sendern versehen.

Anfang März kamen diese in Russland an, mitgeflogen in einer Regierungsmaschine – was russische Behörden zunächst bestritten, argentinische Stellen jedoch eindeutig identifizierten. Es gab mehrere Festnahmen, in Berlin wurde der vermeintliche Drahtzieher des Schmuggels festgenommen. Diplomaten seien nicht involviert, versichert die Sprecherin des Außenministeriums.

Allerdings zweifeln viele diese offizielle Version an, Medien-Recherchen deuten zumindest Schwachstellen in der offiziellen Version an.

Kirill Martynow beleuchtet in der Nowaja Gaseta eine Reihe weiterer Dementi und sieht darin System.

Kokain in der Botschaft

Der Kokain-Skandal zieht immer weitere Kreise. Die argentinische Strafverfolgungsbehörde untersucht den Fall der Drogenlieferung über die russische Botschaft und hat nun Teile des Aktenmaterials veröffentlicht.

Auf den Fotos ist unter anderem das Kennzeichen jenes Flugzeugs erkennbar, das fast 400 Kilogramm Kokain in 12 Koffern nach Moskau befördern sollte. Laut Angaben des Nachrichtenportals RBC gehört das Kennzeichen (96023) zu einer Iljuschin-96-Maschine der Sonderflugeinheit Rossija, die für den Transport von Regierungsbeamten zuständig ist. Nach Veröffentlichung dieser Meldung wurde die Webseite russianplanes.net gesperrt, ein non-profit Projekt, das Informationen über russische Luftfahrzeuge auf Grundlage öffentlicher Quellen publiziert.

Am 20. Dezember 2016 starb der Leiter der Lateinamerika-Abteilung des russischen Außenministeriums Pjotr Polschikow unter ungeklärten Umständen. Insgesamt starben in den letzten anderthalb Jahren neun hochrangige Beamte des Außenministeriums. Es ist bekannt, dass der Sekretär des Sicherheitsrates Nikolaj Patruschew im Dezember 2017, als sich der zweite Teil der Kokain-Affäre ereignete, auf Staatsbesuch in Argentinien war. Die argentinische Presse versichert außerdem, Patruschew sei mit derselben Maschine geflogen wie die Koffer.

Die offizielle russische Position ist: alles dementieren

Die offizielle russische Position ist: alles dementieren. Erst gab Maria Sacharowa die Stellungnahme ab, dass nur die rechtzeitige Einmischung russischer Diplomaten es ermöglicht habe, die Route des Drogenhandels aufzudecken, involviert in diesen sei aber nur "technisches Personal" der Botschaft. Später folgte ein Dementi der Präsidialverwaltung, der die Sonderflugeinheit Rossija unterstellt ist. Die Sprecherin der Behörde Jelena Krylowa sagte, dass die Iljuschin-96 mit der Kennnummer 96023 am Kokaintransport beteiligt gewesen sei, entspräche nicht der Wahrheit. Die Nummer sei nämlich "mithilfe moderner technischer Verfahren" manipuliert worden. Es ist also nicht klar, wer das Kokain transportiert hat – aber wir sicher nicht.

Bemerkenswert ist, dass unsere offiziellen Vertreter zunächst immer fragen: Was habt ihr für Beweise? Und nachdem ihnen die Fakten geliefert wurden, schalten sie einen Gang rauf: Das beweist noch nichts.

Irgendwo im Hintergrund befragt derweil das Ermittlungskomitee einen "ukrainischen Augenzeugen" über den Absturz der malaysischen Boeing, Ergebnis: Alles nicht so eindeutig.

Post truth: russischer Sonderweg

Während die ganze Welt noch über post truth diskutiert und die Schwierigkeit, in Zeiten moderner Medientechnologien die Wahrheit von Lügen zu unterscheiden, hat Russland offensichtlich auch hier einen Sonderweg eingeschlagen:

Wir haben die post untruth erfunden, auch bekannt als "ewige Leugnerei". Da lässt sich jedes Ereignis ganz klar als erfunden bezeichnen, wenn man das unbedingt will und wenn die Obrigkeit nachdrücklich darum bittet.
Rationale Argumente und offensichtliche Fakten sind gegen die russische post untruth machtlos. Darauf basiert offenbar auch unsere ganze geopolitische Größe. Der Westen hinkt da klar hinterher: Dort glaubt man immer noch, man müsse offizielle Ermittlungen einleiten, wenn ein Beamter auf frischer Tat ertappt wird.
Sehen wir uns nur mal die neuesten Beispiele an: Vizepremier Rogosin brüstet sich im Netz zunächst mit seinem "Neffen Roman", anschließend löscht er seine Tweets und verkündet, es habe nie einen Neffen gegeben, die Journalisten hätten alles erfunden.

Das klassische "Wir waren’s nicht"

Dem "liberal-demokratischen" Duma-Abgeordneten Leonid Sluzki wird öffentlich sexuelle Belästigung von Journalistinnen vorgeworfen, Sluzki erwidert: "Niemals. Nicht in dieser Angelegenheit." Und damit ist die Sache erledigt – wir sind hier nicht in Amerika. Unsere Sportler hätten nie gedopt, erklärt man uns, und wenn, dann nur aus Versehen, ohne irgendein zielgerichtetes Zutun russischer Beamter. Und was besonders unheimlich und tragisch ist: Es heißt, wir seien schon zweimal aus Syrien abgezogen, und plötzlich stirbt in diesem Februar dort eine unbekannte Zahl russischer Staatsbürger. Was sagen die Beamten? Das klassische "Die sind da nicht gewesen", sprich: "Wir waren’s nicht". Vor diesem Hintergrund wirkt Deripaska geradezu europäisch, wenn er, statt alles komplett abzustreiten gegen die Verletzung seiner Privatsphäre klagt.

Die Blütezeit der russischen Kultur der post untruth begann 2014, als unsere Soldaten zunächst nicht auf der Krim gewesen sein sollen, und dann genau dafür mit Medaillen ausgezeichnet wurden.

Seitdem ist unsere Fähigkeit zu lügen sogar etwas, worauf man stolz sein kann. Nach dem Motto: Wenn deren Spione auch lügen, kann es unseren Agenten doch keiner verbieten. Die im vergangenen Jahr von der russischen Gesellschaft tief verinnerlichte Wahrheit lautet: "Im Westen lügen sie auch, und deren Medien sind voller Propaganda", machen wir also einen Wettstreit draus. Schaut nur, wie gewieft wir sind: Wir lügen sogar besser als die Amerikaner.

Zu einem Konflikt kommt es dann, wenn die bekannten Vorurteile, denen die westliche Zivilgesellschaft anhängt, und unser russisches "ewiges Leugnen" sich widersprechen. Bezeichnend ist die Untersuchung des ehemaligen FBI-Chefs und Sonderermittlers Robert Mueller über die mutmaßliche US-Wahleinmischung russischer Staatsbürger. Im Westen funktionieren die Institutionen wie ein Immunsystem: Wenn etwas vorgefallen ist, dann ist etwas vorgefallen, also müssen alle Umstände aufgeklärt werden, unabhängig davon, welche ehrenwerte Herrschaften da Widerstand leisten. Bei uns dagegen kann man die Krankheit an sich leugnen.

Kurzum: Es ist sehr schwer für zwei derart unterschiedliche Wertesysteme – das heimische und das importierte – auf einem Planeten zu koexistieren. Auf lange Sicht wird sich wohl eins von ihnen durchsetzen. Aber welches?

Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) von Maria Rajer

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter Externer Link: https://www.novayagazeta.ru/articles/2018/02/27/75638-dognat-i-perevrat, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter Externer Link: https://www.dekoder.org/de/article/kokain-botschaft-argentinien-patruschew.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, Externer Link: dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, Nowaja Gaseta und Kirill Martynow für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Die Redaktion der Russland-Analysen

Fussnoten

Kirill Martynow ist Journalist, Übersetzer und Dozent an der Higher School of Economics in Moskau. Er arbeitet unter anderem für die russische Zeitung Nowaja Gaseta, die bekannt ist für investigativen Journalismus.