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Kommentar: Die vierte Amtszeit Putins: Wird Russland weniger oder stärker berechenbar? | Russland-Analysen | bpb.de

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Kommentar: Die vierte Amtszeit Putins: Wird Russland weniger oder stärker berechenbar?

Prof. Alexander Libman

/ 5 Minuten zu lesen

Das politische Regime Russlands erscheint nach der Wahl stabil. Doch was bedeutet die Wahl langfristig für die Politik? Wird das Zusammenspiel aus Marktwirtschaft, punktuellen Repressionen und effizienter Propaganda durch individuelle Fehler in der kleinen Führungsriege aus dem Tritt gebracht?

Schneefall in Moskau schränkt die Sicht ein: Wird Moskau auch politisch unberechenbarer? (© dpa, Sputnik)

Einleitung

Mit der Wiederwahl von Wladimir Putin zum Präsidenten der Russischen Föderation steht das Land jetzt nur wenige Jahre vor dem dritten Jahrzehnt der Ära Putin. Dabei scheint das Regime trotz der innen- und außenpolitischen Herausforderungen stabil zu sein.

Was bedeutet dies längerfristig für die Funktionsweise der russischen Politik? Während der letzten Amtszeit von Putin (2012 – 2018) zeigte die russische Führung wiederholt, wie schwierig es ist, Vorhersagen über ihre Pläne und Intentionen zu machen. Seit der Krim-Krise bleibt Russland ununterbrochen eine Quelle der Überraschungen für die internationale Politik. Andererseits haben sich aber viele Prognosen der innenpolitischen Verschärfung (z. B. Schließung der Grenzen, systematische Ideologisierung des Regimes, Verfassungsänderungen, Enteignung von Objekten ausländischer Direktinvestition) nicht bewahrheitet.

Ist also heute die russische Innen- und Außenpolitik als mehr oder weniger berechenbar einzustufen als in den früheren Amtszeiten Putins? Ursprünglich wurde Putin mit dem Versprechen von Stabilität zum Präsidenten Russlands gewählt. Diese Stabilität war nach dem Chaos der 1990er Jahre vielen Russen willkommen. Stimmt es nach wie vor, dass Putin für Stabilität steht, oder sind neue Überraschungen zu erwarten?

Mehr Stabilität: If It Ain’t Broke Don’t Fix It

Das russische Regime zeigt sich unfähig, die russische Wirtschaft auf Wachstumskurs zu bringen, Korruption zu reduzieren oder die Qualität der öffentlichen Verwaltung zu verbessern. Doch aus Sicht des Macht- und Amtsinhabers hat das bestehende System einen entscheidenden Vorteil: Es scheint hervorragend das Problem zu bewältigen, sein eigenes Fortbestehen sicherzustellen. Es gibt dabei drei entscheidende Mechanismen, die die Stabilität des Systems Putins gewährleisten: Eine im Grundsatz marktwirtschaftliche Wirtschaftslenkung, punktuelle Repressionen und effiziente Propaganda.

Russland bleibt – trotz des permanent steigenden Anteils des Staatseigentums – im Kern eine Marktwirtschaft. Die Preise werden durch das freie Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt; es gibt kein staatliches Handelsmonopol und keine staatlichen Behörden, die den Wirtschaftsakteuren Investitions- oder Produktionsentscheidungen vorschreiben. Die Staatsverschuldung Russlands ist auf einem sehr niedrigen Niveau; die Inflation bleibt wegen einer effizienten Politik der Zentralbank unter Kontrolle; und die Regierung verzichtet auf massive Einkommensumverteilung durch Steuern und Subventionen. Putin wehrt also erfolgreich die Versuchung einer linkspopulistischen Wirtschaftspolitik ab, obwohl sie sehr wahrscheinlich in der russischen Bevölkerung starke Unterstützung bekommen würde.

Marktwirtschaften haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind fähig, sich sogar an die schlechtesten politischen Bedingungen anzupassen und der Mehrheit der Bürger ein gewisses Einkommen und eine Grundversorgung zu sichern. Ein wirtschaftlicher Kollaps wie der in der UdSSR in den 1980er Jahren ist im heutigen Russland ausgeschlossen, und eine schleichende Verschlechterung der Lebensbedingungen reicht nicht aus, um die Lage zu destabilisieren.

Die Art und Weise, in der das Regime in Russland Repressionen einsetzt, ist für Autokratien vorbildhaft. Anders als das sowjetische Regime, das eine flächendeckende Kontrolle anstrebte, werden im heutigen Russland Repressionen nur in wenigen Einzelfällen eingesetzt. Dabei ist der konkrete Einsatz von Repressionen gegen einzelne Individuen nicht vorhersehbar: Identische Handlungen können zu staatlicher Verfolgung oder zu gar keiner Reaktion der Sicherheitsbehörden führen. Das bedeutet erstens, dass die meisten Bürger, die sich apolitisch verhalten, nicht von Repressionen betroffen sind und keinen Anreiz haben, sich für eine Veränderung des politischen Regimes einzusetzen. Zweitens, braucht in Russland das Regime gar nicht in jedem einzelnen Fall einer möglichen politischen Illoyalität zu intervenieren: Selbst die Wahrscheinlichkeit von Repressionen reicht aus, um die meisten dazu zu bringen, sehr vorsichtig mit politischen Themen umzugehen. Diese aus Eigeninteresse erwachsende Selbsteinschränkung geht viel weiter, als das, was der Staat durch systematische Kontrolle je erzielen könnte.

Dazu kommt noch die Propaganda, die sehr erfolgreich die Aufmerksamkeit der Bürger von den wirtschaftlichen Problemen ablenkt, den Fokus auf die internationale Politik verschiebt und die Schuld an allen Problemen den "Feinden" und Rivalen im In- und Ausland zuschreibt.

Aus dieser Sicht hat Putin kaum einen Anreiz, Veränderungen an der Funktionsweise seines Regimes vorzunehmen – und zwar weder in Richtung einer Liberalisierung noch in Richtung schärferer Kontrollen und Repressionen. Die russische Politik muss aus dieser Sicht in den kommenden Jahren sehr stabil bleiben.

Weniger Stabilität: Fehler und Übereifer

Da aber das Regime permanent mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert wird, müssen Entscheidungen getroffen werden – um den Staatshaushalt zu füllen, um die Konflikte zwischen unterschiedlichen Elitengruppen unter Kontrolle zu halten oder um auf außenpolitische Veränderungen zu reagieren. Diese Entscheidungen werden im heutigen Russland durch eine immer kleiner werdende Gruppe um Putin herum getroffen: Die Rolle der Experten, der öffentlichen Meinung oder selbst einzelner Elitengruppen wird dabei immer geringer. Dadurch erhöht sich permanent die Wahrscheinlichkeit von Fehlern, nämlich dadurch, dass die Entscheidungen ohne Berücksichtigung aller möglichen Neben- und Folgewirkungen gemacht werden und auf diese Weise neue Probleme verursachen. Je mehr Fehler es gibt, desto schwieriger ist es, auf sie zu reagieren, ohne neue Fehler zu begehen.

Man darf auch nicht vergessen, dass viele Entscheidungen in Russland nicht durch die höchste politische Spitze getroffen werden, sondern durch regionale oder lokale Bürokraten. In ihrem Übereifer, dem Regime Treue zu zeigen, gehen sie gelegentlich viel weiter, als es von der politischen Führung erwünscht wäre – wenn es zum Beispiel um Repressionen und Strafen wegen angeblicher Illoyalität geht. Für das Regime ist der Umgang mit diesen Beamten eine große Herausforderung. Die politische Führung kann es sich in vielen Fällen nicht erlauben, die Entscheidungen dieser Bürokraten zu revidieren (das könnte als Zeichen der Schwäche gedeutet werden), obwohl sie objektiv dem Interesse des Regimes entgegenstehen.

Resümee

Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Regime in Russland hohen Risiken ausgesetzt ist, obwohl es das Ziel, die Macht Putins zu erhalten, effizient gewährleisten kann. Die Risiken werden allerdings nicht durch objektive soziale oder wirtschaftliche Prozesse verursacht, sondern durch die steigende Wahrscheinlichkeit subjektiver Fehler.

Dies führt zu einer paradoxen Lage: Obwohl objektiv der Status Quo des Regimes alle Ziele Putins erfüllt und das System sehr stabil sein müsste, ist trotzdem – wegen des Vorgehens einzelner Bürokraten oder unbeabsichtigter Folgen schlecht durchdachter politischer Entscheidungen – mit Überraschungen und teuren Fehlkalkulationen zu rechnen.

Fussnoten

Alexander Libman ist Professor für sozialwissenschaftliche Osteuropastudien an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.