Noch zu Beginn des Sommers vorigen Jahres schien die Präsidentenwahl in furchtbarer Langeweile zu versinken. Alexej Nawalnyj, soviel war schon klar, würde vom Kreml nicht zu den Wahlen zugelassen werden. Andere Kandidaten und Kandidatinnen, die das Rennen gegen Wladimir Putin auch nur ein ganz klein wenig spannend machen könnten, waren nicht in Sicht. Vielmehr drohten die immer gleichen Zählgegenkandidaten im Rentenalter, wie der Kommunist Gennadij Sugjanow, der Nationalistenclown Wladimir Schirinowskij und auch der Liberale Grigorij Jawlinskij. Sie alle waren schon bei den ersten Präsidentenwahlen im neuen Russland 1996 angetreten.
Viele Beobachter der politischen Szene in Russland machten sich daher eher Gedanken darüber, wie der Kreml unter diesen Bedingungen sein kolportiertes Ziel würde erreichen können: Putins Wiederwahl mit einer Zustimmung von mindestens 70 Prozent bei einer mindestens ebenso großen Wahlbeteiligung zu erreichen, ohne allzu große und allzu auffällige Wahlmanipulationen. Insbesondere ausreichend viele Menschen überhaupt an die Wahlurne zu bringen, schien angesichts der allgemeinen Langeweile kaum zu schaffen zu sein, wie auch Umfragen des "Lewada-Zentrums" zeigten.
Doch dann kam unerwartete Bewegung ins Kandidatenkarussell. Erst erklärte die liberale Fernsehjournalistin Ksenija Sobtschak ihre Kandidatur und kurze Zeit später nominierten die Kommunisten (genauer, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, KPRF) den einer größeren Öffentlichkeit bis dahin kaum aufgefallenen Pawel Grudinin anstelle des altvorderen Parteivorsitzenden Sjuganow zu ihrem Kandidaten. Über Ksenija Sobtschak habe ich in diesen Notizen bereits ausführlich geschrieben (
Auf den ersten Blick ist Nicht-Parteimitglied Grudinin keine natürliche Wahl für die KPRF nach dem Verzicht von Parteichef Sjuganow. Es hätte, gemessen an Popularität und Parteihierarchie, andere Kandidaten gegeben. Aber keiner dieser anderen möglichen Kandidaten überzeugt rundum. Die beiden Sjuganow-Stellvertreter Jurij Afonin und Dmitrij Nowikow mögen gute Parteiarbeiter sein, sind aber außerhalb der KPRF wenig aufgefallen. Etwas bekannter sind die beiden einzigen Kommunisten, die als Gouverneure einer Region vorstehen (Sergej Lewtschenko in Irkutsk und Anatolij Lokotja in Nowosibrisk), aber auch sie sind kaum mehr als sibirische Provinzbekanntheiten.
Pawel Grudinin hingegen ist seit einigen Jahren schon ein kleiner Youtube-Star. Darin gleicht er ein wenig Alexej Nawalnyj. Er hat sich einen Namen gegen das Establishment gemacht, vielleicht wäre es korrekter zu sagen: am Establishment vorbei. In seinen Internetauftritten, deren populärste bis zu 800.000 Mal angeschaut wurden, zeigt sich Grudinin als talentierter Populist. Er kritisiert dort nicht nur die Regierungspolitik (das tun viele), er geht auch Wladimir Putin direkt an (was weit weniger wagen). Vor allem zeigte er sich bis vor Kurzem einigermaßen unbeeindruckt von der nationalpatriotischen Welle nach der Krimannexion, in der mitunter der Eindruck entstanden sein konnte, Putin sei auch der Parteiführer der Kommunisten. Eine recht typische Aussage lautet: "Ich war in Schweden und sie sagen dort, warum sind wir ein erfolgreiches Land geworden? Wir haben unsere imperialen Ambitionen aufgegeben, uns auf uns selbst konzentriert, haben die Produktion, das Land entwickelt […]. Jeder Schuss kostet Geld. Jeder Flug kostet Geld. Wir helfen nun Griechenland. Dort bekommen die Menschen 500 Euro Rente. Und unsere Rentenkasse?" Das klingt ein bisschen nach Antiglobalismus und der vorsichtige Hinweis auf die horrenden Militärausgaben der vergangenen Jahre ist außerhalb des liberalen Lagers unerhört.
Alexej Nawalnyjs Erfolg auf Youtube fußt vor allem auf seinen Anti-Korruptionsrecherchen (woher auch immer er diese Informationen hat). Sein Zielpublikum sind vor allem die mit Putin nicht zufriedenen 15 Prozent der Bevölkerung. Nawalnyj ist und bleibt aber für große Bevölkerungsschichten trotzdem ein Teil des Moskauer Establishments. Pawel Grudinin hat sich ein anderes Image zugelegt, das einerseits recht gut mit dem Weltbild der Anhänger der KPRF, aber auch anderen sowjetisch-traditionellen Vorstellungen korrespondiert, andererseits aber auch liberale Anliegen aufnimmt. Er gibt sich als der einfache Mann aus dem Volk, der es nach oben geschafft hat. Sein Karriereweg wirkt mitunter fast schon kitschig, ist aber wohl eben deshalb erfolgreich.
Grudinin ist Direktor einer ehemaligen sowjetischen Vorzeige-Sowchose im Moskauer Umland, die bis heute den Namen Lenins trägt. Er ist in diesem Landwirtschaftsbetrieb bis ganz oben aufgestiegen. Er hat ihn durchgreifend modernisiert und zu einem erfolgreichen Agrarunternehmen gemacht. Dabei hat er, auch hier ganz traditionell, auf enge Verbindungen zur Politik vor allem auf der regionalen Ebene gesetzt. Grudinin vergisst, das war bei seiner Nominierung durch die Kommunisten wichtig, auch nicht die soziale Seite und rühmt sich, seinen Mitarbeitern mehr Lohn zu bezahlen und mehr soziale Leistungen zu gewähren als anderswo üblich. In der Sowchose hat er eine Schule aufgebaut. So positioniert sich Grudinin durchaus erfolgreich als etwas, dass es eigentlich im russischen Selbstverständnis nicht gibt: als erfolgreicher Unternehmer und als "roter" Direktor zugleich. Er vermied eine zu enge Anbindung an Putins neuen Nationalismus, bediente mit Äußerungen gegen Migranten aus Zentralasien aber durchaus fremdenfeindliche Muster des KPRF-Elektorats.
Bis zu einem gewissen Punkt gelang es ihm so, den Ruch eines ewig gestrigen, ein wenig verstaubten Kommunistensekretärs zu vermeiden. Seine Youtube-Auftritte, in denen er in recht moderner Sprache die Regierungspolitik als antisozial und wirtschaftlich unmodern zugleich kritisiert, werden in den sozialen Netzwerken von Anhängern liberaler Politikkonzepte genauso geteilt wie von eher traditionell Denkenden.
Aus zwei Richtungen scheint inzwischen aber Gegenwind zu kommen. Dem KPRF-Establishment um Parteichef Sjuganow wird Grudinin offenbar zu selbstständig. Je näher der Wahltag kommt, umso öfter wird Grudinin von der Parteiführung ins alte Prokrustesbett eines Neostalinismus zurückgedrängt. Übrig bleibt dabei vor allem Nostalgie über die sogenannte Zeit des Stillstands unter dem späten Breschnew. Alles Moderne wirkt zunehmend wie vorgespielt. Genau dafür braucht es Grudinin aber nicht. Das kann Putin perfekt.
Zum anderen (und dazu im Widerspruch) gibt es immer wieder Gerüchte, der frische, moderne Grudinin übererfülle aus Sicht der Kremladministration die in ihn gesetzten Erwartungen, einen Teil des nach Nawalnyjs Nichtzulassung verwaisten Wählerpotentials an sich binden zu können (und so eine hohe Wahlbeteiligung zu garantieren). Seine Umfragewerte sollen inzwischen erheblich über den traditionellen 12–15 Prozent der KPRF liegen, mit denen der Kreml zu leben bereit wäre. Zu überprüfen ist das kaum, vor allem weil es dem einzigen unabhängigen Umfrageinstitut Lewada-Zentrum bei Strafandrohung (also Schließung) untersagt ist, bis zu den Wahlen Umfrageergebnisses zu veröffentlichen. Andere Gerüchte sagen, Grudinins Kandidatur sei von Anfang an nicht mit dem Kreml abgestimmt und man habe sie dort eher zähneknirschend akzeptiert.
Wie dem auch sei, tauchten zwei Wochen vor den Wahlen erneut Berichte über angeblich Grudinin gehörende und nicht der Zentralen Wahlkommission angegebene Schweizer Auslandskonten auf. Die Zentrale Wahlkommission oder Gegenkandidaten können, sollten diese Berichte stimmen, vor dem Obersten Gericht gegen Grudinins Kandidatur klagen. Schon Anfang Januar, im Rahmen des Registrierungsprozesses als Kandidat, waren drei solcher Auslandskonten aufgetaucht, die Grudinin inzwischen aber aufgelöst haben will. Manche Beobachter vermuten den Kreml hinter diesen Berichten, um Grudinin noch vor den Wahlen zu stoppen oder zumindest auszubremsen. Andere zeigen auf die KPRF-Führung. Wieder andere sehen darin im Gegenteil einen Versuch der Opposition, die Wahlbeteiligung zu torpedieren.
Tatsächlich scheint es für den Kreml so oder so wenig Sinn zu haben, Grudinin jetzt noch aus dem Rennen zu nehmen. Denn erstens könnte er sich damit (und durchaus mit einigem Recht) als tatsächlich unabhängiger Kandidat präsentieren, seine Popularität also eher noch erhöhen, und ein Wahlzettel ohne den Kandidaten Grudinin dürfte tatsächlich zumindest ein paar Prozente Wahlbeteiligung kosten.
Da in Russland aber kaum jemand ohne doppelten Boden Politik macht, ist auch folgende Überlegung nicht ganz unsinnig: Grudinin hat aus diesen Wahlen schon alles herausgeholt, was möglich ist. Er ist von einem Provinzpolitiker zu einer Bekanntheit auf Landesebene geworden. Wenn er weiter macht, kann er eigentlich nur noch verlieren. Viel mehr als die schon erwähnten traditionellen KPRF-Prozente wird er kaum bekommen (dafür dürfte der Kreml sorgen). Seine Stellung in der KPRF ist weiter nicht besonders stark. Beim liberalen Teil der Wähler dürfte er sein Image als letztendlich doch Systempolitiker in diesem Fall kaum loswerden. Würde er aber von der Wahlkommission und/oder vom Obersten Gericht gestoppt, käme das einem gewissen Gütesiegel gleich – und zwar bei den Kommunisten wie den Liberalen. Schon länger werden ihm Ambitionen auf den Gouverneursposten im Moskauer Umland nachgesagt. Seine jetzt gewonnene Popularität ist ein gutes Verhandlungspfand auch gegenüber dem Kreml. Und dann gehört Grudinin (wie Nawalnyj, wenn auch nicht mehr ganz so jung) zu einer neuen Generation von Politikern, zu denjenigen, die nach Putin an der Macht sein werden. Es kann für ihn nicht unklug sein, nun, mit der Zukunft im Blick, zurück zu ziehen. Nawalnyj macht es ihm schon eine ganze Weile vor, aus Teilsiegen und (angeblichen) Niederlagen gestärkt wiederzukommen.
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