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Dekoder: Bestechlich ist nicht gleich bestechlich in Russland | Russland-Analysen | bpb.de

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Dekoder: Bestechlich ist nicht gleich bestechlich in Russland

Oleg Kaschin

/ 6 Minuten zu lesen

Eine Posse um Oligarch Oleg Deripaska, Vize-Premier Sergej Prichodko und ein Escort-Girl erregte Aufsehen, nachdem sie durch ein Enthüllungsvideo des Oppositionellen Alexej Nawalnyj bekannt wurde. Doch ist das überhaupt ein Skandal in Russland? Und welche Bedeutung hat die Posse für die mögliche Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf?

Ist der russische Vize-Premier Sergej Prichodko (li. im Bild) das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin? (© dpa)

Der folgende Beitrag des russischen Journalisten Oleg Kaschin erschien ursprünglich am 09.02.2018 in der Onlinezeitung Republic und wurde von dekoder ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht.

Einleitung von dekoder

Kaum bekleidet und teilweise in Latex mit SM-Anmutung, drangen im vergangenen Jahr selbsternannte "Sex-Jägerinnen" ins Moskauer Wahlkampfbüro des Oppositionellen Alexej Nawalnyj ein. Eine lächerliche Geschichte, begleitet vom Sender "Life", die man normalerweise gar nicht erwähnen würde. Doch über sie wurde Nawalnyjs Team vom Fond für Korruptionsbekämpfung (FBK) auf Nastja Rybka aufmerksam, die an der Aktion beteiligt war. Auf Rybkas Instagram-Kanal erregten einige öffentlich einsehbare Fotos und Videos die Aufmerksamkeit der FBK-Mitarbeiter: Diese zeigen das Escort-Girl zusammen mit dem Oligarchen Oleg Deripaska auf dessen Yacht – in einem Video ist neben Deripaska auch der russische Vize-Premier Sergej Prichodko zu sehen, der laut Nawalnyj "wenig bekannt, aber sehr einflussreich ist".

Am 8. Februar 2018 veröffentlichte Nawalnyj schließlich ein Enthüllungs-Video, das inzwischen mehr als 5 Millionen Aufrufe verzeichnet. Darin stellt Nawalnyj das auf dem Instagram-Kanal dokumentierte Treffen als ein fehlendes Puzzlestück im Rätselraten um russische Einflussnahme auf den US-amerikanischen Wahlkampf dar: Trumps Ex-Berater Paul Manafort und Deripaska waren geschäftlich verbunden. Im Instagram-Video von Nastja Rybka, die ursprünglich aus Belarus stammt, ist dabei auch eine Audiopassage, in der man jemanden sagen hört: "Wir haben schlechte Beziehungen zu Amerika. Warum? Dafür ist die Freundin von Sergej Eduardowitsch verantwortlich, Nuland heißt sie." Nawalnyj ordnet die Stimme Deripaska zu, Sergej Eduardowitsch sind Vor- und Vatersname von Vize-Premier Prichodko, Victoria Nuland war unter Obama im US-Außenministerin zuständig für Europa und Eurasien.

Laut FBK-Recherchen fand das Treffen von Prichodko und Deripaska im August 2016 statt. Wie Nawalnyj ausführt, ist dies auch deswegen bemerkenswert, weil laut US-amerikanischen Medienberichten Trumps Ex-Berater Paul Manafort dem Oligarchen im Vormonat private Briefings zum Wahlkampf angeboten hatte. Prichodko ist demnach das fehlende Verbindungsstück von Deripaska zu Putin.

Nicht mal zwei Tage nach der Veröffentlichung verbot ein Gericht in Ust-Labinsk, der Geburtsstadt Deripaskas im Süden Russlands, Nawalnyjs Film. Kurz darauf nahm die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor das Video und den Blogeintrag ins Register verbotener Internetseiten auf.

Bei so viel Aufsehen und Lärm um einen Film hat sich Oleg Kaschin auf Republic Gedanken über unterschiedliche Wahrnehmungsmuster gemacht – und stellt viele beunruhigende Fragen.

Polit-Thriller à la russe

Nawalnyjs Recherchen über Sergej Prichodko auf der Yacht von Oleg Deripaska – das ist ein absolut westlicher Plot, europäisch oder amerikanisch. Da braucht es ein Happy-End: Der Staatsbeamte muss zurücktreten, der Milliardär meldet Konkurs an, der Oppositionelle kommt an die Macht. Das Russland von heute unterscheidet sich allerdings sehr vom Westen, wie man ihn aus dem Kino kennt.

Will man den Plot vom Staatsbeamten und dem Milliardär für unsere Lebenswirklichkeit adaptieren, dann müsste er ganz anders ablaufen. Bestechung heißt in unserer Tradition, dass man einem Amtsträger Geld bar in die Hand drückt; dann tauchen von irgendwoher Fahnder auf und durchleuchten das Geld und die Hand mit UV-Lampen. Das ist Bestechung, aber wenn jemand jemanden auf eine Yacht einlädt – für sowas wird man bei uns nicht verklagt.

Wessen Ruf kratzt das an?

Die Amoral im vorliegenden Plot ist auch keine wirkliche Amoral. Nun ja, ein Escort-Girl. Aber wessen Ruf kratzt das an? Die russische Vorstellung von Reichtum beinhaltet, dass ein reicher Mensch von allem viel hat, auch Frauen, er kann’s sich halt leisten. Bei staatlichen Amtsträgern ist das formal schwieriger, aber nur formal. Über praktisch jeden mehr oder weniger bekannten Staatsdiener weiß man, dass für sein Privatleben gilt, was in den sozialen Netzwerken als "es ist kompliziert" bezeichnet wird: Es gibt eine vor langer Zeit verlassene Ehefrau, außerdem irgendein Mädchen, mit dem er überall hingeht, ohne es auch nur ein bisschen peinlich zu finden, und dann ist da noch, bildlich gesprochen, die Komitee-eigene Banja, die sie alle von Zeit zu Zeit besuchen, ebenfalls ohne es peinlich zu finden.

Das heißt: Wenn man den Plot für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert, dann müsste man ihn dahingehend ändern, dass der Milliardär den Staatsbeamten nicht mit einem Ausflug auf einer Yacht besticht (wie das überhaupt klingt! Mit einem Ausflug bestochen! Mit frischer Luft bestochen!), sondern mit Bargeld, außerdem muss der Moment der Übergabe per Video gefilmt und das Geld mit Spezialfarbe behandelt worden sein.

Auch der Sex-Strang des Plots muss außerhalb etablierter Normen angesiedelt sein. Ideal wäre, wenn der Staatsbeamte gleich mit dem Milliardär schläft – Homosexualität ist bei uns zwar nicht ausgerottet, aber dennoch nicht gern gesehen – und wenn es schon nicht miteinander geht, dann muss man auf die Yacht irgendwelche Jünglinge einladen, am besten minderjährige. Dann kann man von einem Skandal sprechen.

Alle möglichen Zufälle

Nawalnyj zu verdächtigen, für den Kreml, den FSB oder für Putin persönlich zu arbeiten – das ist mies. Wenn eine statistisch signifikante Zahl von Bürgern an Zufall und Unvoreingenommenheit der Ermittlungen glaubt, wird es ganz von selbst eine Tatsache, und Verschwörungstheorie bleibt Verschwörungstheorie. Im russischen Plot gibt es keine Verschwörungstheorien, hier kann es generell alle möglichen Zufälle geben, denn der Glaube an den Zufall ist eine konstituierende Eigenschaft der Gesellschaft, die man keinesfalls ignorieren darf.

Sollen sich doch die paranoiden Zeitgenossen den Kopf zerbrechen, wer hier wen beauftragt hat. Prichodko Deripaska, Deripaska Prichodko oder Setschin alle beide. Wenn die Menschen glauben, dass niemand niemanden beauftragt hat, dann ist das auch so – in solchen Fällen ist der Glaube wichtiger als der Verdacht.

Eine echte Weltsensation

Wichtig ist auch, dass für einen Teil des Publikums ein westlicher Plot gar nicht adaptiert werden muss, weil es ein westliches Publikum ist und ihm all die Plot-Linien mit Staatsbeamten, Milliardären und Oppositionellen durchaus vertraut sind. Für dieses Publikum ist die Verbindung von Deripaska mit Prichodko das fehlende Glied in der Kette zwischen Donald Trump und Wladimir Putin (Paul Manafort, der Chef von Trumps Wahlkampfteam, hat für Deripaska gearbeitet, und ohne die Yacht war die Kette genau bei Deripaska abgerissen) – und das ist eine echte Weltsensation, die übrigens auch Moskau neue Möglichkeiten eröffnet, die Einmischung in den amerikanischen Wahlkampf zu rechtfertigen. Bei Bedarf kann man alles auf Prichodko abwälzen und ihn in Rente schicken und so zur Entspannung der internationalen Missstimmungen beitragen. Obwohl letzteres eher in der Phantastik anzusiedeln ist.

Das Verhalten des Escort-Girls, die auf der Yacht ein Video für Instagram gedreht hat, ist das unverständlichste an allem. Ihre öffentlichen Aktivitäten begannen ein halbes Jahr, bevor Nawalnyj sich für sie zu interessieren begann. Wer hat dem Mädchen ihre Sicherheit garantiert? Warum wurde ihr nicht gleich am Anfang ihrer Medienaktivität Einhalt geboten? Warum ist sie ins Wahlkampfbüro von Nawalnyj eingedrungen? Wenn sie die Situation in ihren Videobotschaften ins Absurde treibt, möchte sie Nawalnyj dann in die Hände spielen oder sein Drehbuch kaputtmachen?

Der Plot gerät aus den Fugen

Antworten darauf gibt es nicht, und dass sie fehlen, das ist eine entscheidende Tatsache, durch die der ganze Plot fast aus den Fugen gerät, völlig unabhängig davon, ob er für die russische Lebenswirklichkeit adaptiert ist oder nicht.

In ihrem Video lädt das Mädchen alle Protagonisten der Geschichte zu Pust goworjat (dt. "Lasst sie reden") ein – einer apolitischen Show, die sich sämtlichen Boulevardthemen widmet. Das klingt unheilvoll, denn weder aktive Oligarchen und erst recht keine amtierenden Vize-Premiers nehmen an solchen Sendungen teil.

Um sie dahin zu bringen, müsste man sie ihrer derzeitigen Macht und ihres derzeitigen Status entledigen. Eine derartige Einladung klingt wie eine Drohung für die beiden, aber wer droht ihnen da? Das Mädchen wohl kaum und auch nicht Nawalnyj. Wieder diese verfluchte Unsicherheit.

Übersetzung aus dem Russischen (gekürzt) vom dekoder-Team

Das russischsprachige Original des vorliegenden Beitrags ist online verfügbar unter Externer Link: https://republic.ru/posts/89152, die Übersetzung ins Deutsche durch dekoder unter Externer Link: http://www.dekoder.org/de/article/nawalny-deripaska-rybka-manafort.

Die Redaktion der Russland-Analysen freut sich, dekoder.org als langfristigen Partner gewonnen zu haben. Auf diesem Wege möchten wir helfen, die Zukunft eines wichtigen Projektes zu sichern und dem russischen Qualitätsjournalismus eine breitere Leserschaft zu ermöglichen. Wir danken unserem Partner dekoder, Republic und Oleg Kaschin für die Erlaubnis zum Nachdruck.

Die Redaktion der Russland-Analysen



Fussnoten

Oleg Kaschin ist Journalist und politischer Kommentator. Er schreibt unter anderem für das Onlinemagazin Republic (vormals Slon) und moderiert eine Interviewsendung im Internetfernsehsender Doschd.