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Analyse: Russlands Migrations- und Grenzregime: Abschottung im Inneren | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Russlands Migrations- und Grenzregime: Abschottung im Inneren

Julia Glathe

/ 7 Minuten zu lesen

Russland gilt als eines der größten Einwanderungsländer weltweit. Im Gegensatz zu anderen Ländern setzt es aber nicht auf territorialen Grenzschutz, sondern auf Repressionen im Inneren. Welche Rolle spielen der Ostukraine-Konflikt und die öffentliche Debatte über die sogenannte "europäische Migrationskrise" für die migrationspolitischen Entscheidungen der jüngsten Zeit?

Der Pass eines tadschikischen Migranten im neu eröffneten Migrationszentrum in Jekaterinburg. (© picture-alliance/dpa, TASS)

Zusammenfassung

Der bewaffnete Konflikt in der Ostukraine hat zusammen mit der öffentlichen Debatte in Russland über eine sogenannte "europäische Migrationskrise" der russischen Migrationspolitik einen neuen Impuls gegeben, dessen Ausprägungen in diesem Artikel analysiert werden sollen. Es wird der These nachgegangen, dass zwar die bereits in den 2000er Jahren existierenden Sicherheitsprojekte weiter vorangetrieben wurden, jedoch anders als in Westeuropa und den USA nicht durch den Ausbau oder gar die Externalisierung territorialen Grenzschutzes, sondern durch verstärkte Repression im Inneren und eine Verleugnung und Verdrängung von Fluchtmigration.

Einleitung

Russland zählt neben den USA und Deutschland mit einer jährlichen Nettoimmigration von ca. 280.000 Personen zu den größten Einwanderungsländern weltweit. Vor allem aus dem postsowjetischen Raum reisen jährlich Hunderttausende Menschen berufsbedingt nach Russland ein. Seit 2014 hat durch den Konflikt in der Ostukraine aber auch Fluchtmigration erheblich an Bedeutung gewonnen. Zusätzlich hat der Krieg in Syrien eine gewisse Fluchtbewegung nach sich gezogen, dessen Dimension jedoch laut offiziellen Zahlen mit ein bis zwei Tausend Personen jährlich relativ gering ausfällt. Nicht allein die tatsächlichen Flüchtlingszahlen, sondern vor allem der öffentliche Diskurs über eine sogenannte "Migrationskrise" in Europa haben in Russland verstärkt Fragen der "nationalen Sicherheit" aufgeworfen und der Migrationspolitik einen neuen Impuls verliehen.

Prinzipien des russischen Migrationsregimes

Ein zentraler Unterschied des russischen Migrationsregimes zu dem der EU oder der USA besteht in der starken Durchlässigkeit der Grenzen. Der überwiegende Teil (rund 90 Prozent) der Migranten stammt aus Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und reist visafrei nach Russland ein. Aber auch für die übrigen Migranten gilt, dass ein Visum zur legalen Einreise nach Russland vergleichsweise einfach zu beschaffen ist. Das Bild von einer "Festung Europa" lässt sich auf Russland nicht übertragen. Nichtsdestotrotz ist das durchlässige Grenzregime Russlands nur scheinbar liberal, da durch alternative Instrumente im Inneren der Aufenthalt von Migranten restriktiv reguliert wird.

Seit 2013 wurden mehrere Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht, die die Ausweisung von Migranten und das Verhängen mehrjähriger Einreisesperren stark vereinfacht haben. Mittlerweile reicht als Grundlage ein zweifacher administrativer Gesetzesverstoß (Ordnungswidrigkeit) aus, um eine Ausweisung und Einreisesperren von bis zu zehn Jahren zu verhängen. Die Restriktion im Inneren wird dabei durch die Institutionalisierung prekärer und halblegaler Aufenthaltsstatus verstärkt. Von einem halblegalen Status wird gesprochen, wenn die Einreise zwar legal erfolgt ist, anschließend aber keine gesetzeskonforme Registrierung oder Arbeitserlaubnis erlangt wurde. Prekär bedeutet, dass selbst im Fall eines vollkommen legalen Aufenthaltsstatus dieser häufig nur ein Jahr, manchmal sogar nur wenige Monate gilt, und anschließend verlängert oder neu beantragt werden muss. Dadurch entstehen Möglichkeiten einer flexiblen Restriktion von Migration. Einerseits können im Falle eines halblegalen Status jederzeit Repressionen gegenüber Migranten, beispielsweise Internierungen, Ausweisungen und Einreisesperren, durchgesetzt werden. Andererseits ist – bedingt durch den prekären Charakter des Aufenthaltsstatus bei Arbeitsmigranten – eine flexible Begrenzung von legaler bzw. offizieller Migration durch arbeitsmarktpolitische Instrumente möglich. Hierzu gehören Einreise- und Beschäftigungsquoten sowie die Erhöhung von Kosten für die Arbeitserlaubnis (das sogenannte "Patent"), die jährlich auf regionaler Ebene neu festgelegt werden. Neben den formalen Beschränkungen von Migration prägen – wie bereits vielfach dokumentiert wurde – weitreichende Praktiken der Korruption das russische Migrationsregime und behindern Prozesse zur Legalisierung von Migranten, die für den Schutz vor Repressionen essentiell sind.

Neue Impulse: Fluchtmigration aus der Ostukraine und die "europäische Migrationskrise"

Zwei Faktoren scheinen der russischen Migrationspolitik in den letzten Jahren einen neuen Impuls versetzt zu haben, nämlich der Anstieg von Fluchtmigration durch den Konflikt in der Ostukraine und die öffentliche Debatte über eine sogenannte "europäische Migrationskrise".

Einen deutlichen Einschnitt stellte die Auflösung des Föderalen Migrationsdienstes (FMS) im Frühjahr 2016 und die Übernahme dessen Zuständigkeitsbereichs durch das Innenministerium dar. Diese Entscheidung ist zwar nicht allein als Reaktion auf die Fluchtbewegungen nach Europa zu verstehen. Die intensive Debatte darum scheint jedoch den entscheidenden Anstoß zur institutionellen Neuformierung gegeben zu haben. So erläutert der Vorsitzende des Think Tanks "Migrazija XXI wek" ("Migration 21. Jahrhundert") und ehemalige stellvertretende Vorsitzende des FMS, Wjatscheslaw Postawin, in einem Interview mit der Autorin im September dieses Jahres den Schritt folgendermaßen:

"In diesem Augenblick gehen bei Ihnen in Europa Dinge vor sich, die als Gefahr daherkommen, Terroranschläge, diese Migrationskrise. Unsere Führung steht natürlich unter dem Eindruck davon. Man hielt die Lage für recht kritisch, es musste vor allem die Sicherheit verstärkt werden."

Ein zweiter wesentlicher Einschnitt bestand in der Einführung einer neuen migrationspolitischen Strategie für 2018 bis 2020, die im Juni 2017 durch das Innenministerium verabschiedet wurde. Das zuvor geltende, gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteuren jahrelang aufwendig erarbeitete staatliche Migrationskonzept für den Zeitraum 2015 bis 2025 wurde im gleichen Atemzug aufgehoben. In dem neuen Konzept wird der Ausbau restriktiver Maßnahmen zur flexiblen Kontrolle und Regulierung von Migration nach Russland angekündigt und sowohl ökonomisch als auch sicherheitspolitisch begründet. Bezugspunkt bilden dabei explizit die "unkontrollierten Migrationsströme" nach Europa. Daneben wird auch auf den Flüchtlingszuzug aus der Ostukraine nach Russland verwiesen und beispielsweise auf eine damit verbundene Notwendigkeit, Maßnahmen zur Vorbeugung gegen Asylmissbrauch auszubauen. Insgesamt wird in dem Konzept eine neue Grenzziehung zwischen Arbeitsmigration und Fluchtmigration deutlich, wobei erstere Form der Immigration als wirtschaftlich vorteilhaft und daher erwünscht und letztere als schädlich, gefährlich und unerwünscht markiert werden. "Unter den aktuellen Bedingungen" wird der Ausbau von Instrumenten zur "Zurückhaltung und Regulierung" von Migration aus politisch und ökonomisch instabilen Regionen dabei zur Notwendigkeit erklärt.

Obwohl der ökonomische Nutzen durch Arbeitsmigration nach Russland anerkannt wird, sind nun an die Mobilitätsrechte dieser Gruppe restriktivere Bedingungen geknüpft. So soll zukünftig die Vergabe befristeter Aufenthaltserlaubnisse stärker an die Arbeitsmarktbedürfnisse und demographische Situation einer Region gebunden sein. Vor diesem Hintergrund ist zudem die Zielsetzung einer aktiven Steuerung von Migrationsbewegungen in den Fernen Osten und die Bajkal-Region zu verstehen, die in der russischen Berichterstattung über das neue Konzept in den Vordergrund gerückt wurde.

Migrationspolitische Praxis

Das Ziehen neuer Grenzen gegenüber Flüchtlingen in Russland spiegelt sich auch in der Gewährung von Asyl wider. Besonders deutlich wird die restriktive Gewährung von Asyl bei einem Blick auf syrische Flüchtlinge, von denen amtlichen Statistiken zufolge seit 2014 nur zwei Personen offiziell als Flüchtlinge anerkannt wurden (1.302 Personen aus Syrien haben zeitweiliges Asyl erhalten, Stand Januar 2017). Aber auch von rund einer Million ukrainischer Geflüchteter waren Anfang 2016 nur 273 Personen als Flüchtlinge anerkannt, wohingegen ein großer Teil von ihnen (311.134 Personen) nur zeitweiliges Asyl erhielt – ein Status, der nur ein Jahr gültig ist und mit weniger Rechten einhergeht. Laut eines Monitoring-Berichts, der auf Radio Assatyk (siehe Externer Link: https://rus.azattyq.org/a/rossiya-bezhensy-iz-siryi-ukrainy/28591023.html) veröffentlicht wurde, wird den aus der Ukraine Geflüchteten jedoch zunehmend auch ein zeitweiliges Asyl ohne eine ordentliche Prüfung verweigert, und zwar mit der Begründung, dass angeblich kein eindeutiger Asylgrund festgestellt werden konnte. In zahlreichen Fällen sind ukrainische Geflüchtete sogar von Ausweisung und Einreisesperren bedroht, da ihnen bei der Einreise formale Fehler unterlaufen sind, wie zum Beispiel beim Grenzübertritt die Nichtangabe der Asylsuche als Einreisegrund.

Neben der häufigen Verweigerung eines sicheren Asylstatus ist eine weitere staatliche Strategie die Kanalisierung von Fluchtmigration in andere Legalisierungsformate wie Arbeitsmigration, "Repatriierung" (staatlich geförderte Immigration von sogenannten "Landsleuten", also Personen mit einer starken Bindung zu Russland) und Einbürgerung. Damit soll formal der Flüchtlingszuzug begrenzt bzw. dessen Begrenzung vorgetäuscht werden. Diese Praxis zeigt sich zum Beispiel anhand des Anteils ukrainischer Staatsbürger unter den Teilnehmern am "Staatlichen Programm zur freiwilligen Übersiedlung von Landsleuten": Er ist von 9,9 Prozent im 4. Quartal 2013 auf 69,5 Prozent ein Jahr später angestiegen (siehe Grafik 2 auf S. 6 und Tabelle 2 auf S. 7).

Bedingende Faktoren: Kostenkalkül, Prekarisierung und Abgrenzung zum Westen

Die neuen "Grenzen" und die Verweigerung und Verdrängung von Fluchtmigration in der migrationspolitischen Praxis der letzten Jahre scheinen durch mehrere Faktoren bedingt zu sein. Zunächst lassen sich die genannten Strategien auf ökonomische Kosten-Nutzen-Rechnungen zurückführen. Die Flüchtlingsversorgung sowie die Verwaltung von Flüchtlingsunterkünften stellen Kosten dar, die die russische Regierung anscheinend nur begrenzt zu leisten bereit ist. Darüber hinaus widerspricht die Anerkennung von Asyl dem Prinzip einer flexiblen Regulierung, das – wie oben argumentiert – kennzeichnend für das heutige russische Migrationsregime ist. Während eine arbeitsbedingte Aufenthaltserlaubnis zumeist prekär bleibt und im Zuge sich wandelnder Arbeitsmarktlagen wieder eingeschränkt werden kann, stellt die Anerkennung als Flüchtling einen Status dar, der nicht so einfach entzogen werden kann. Er entzieht sich gleichsam der Kontrolle des russischen Staats, wo dieser doch in seiner neuen Migrationsstrategie den Anspruch erhebt, Migration in erster Linie gemäß nationaler Interessen steuern zu wollen; humanitäre Prinzipien werden ja nur zweitrangig erwähnt. Insofern ergibt sich als Alternativmodell eine selektive Kanalisierung von Migration in Richtung Arbeitsmigration einerseits und Repatriierung andererseits.

Schließlich ist die öffentliche Debatte in Russland über eine europäische "Migrationskrise" ein Pol, durch den sich Russland mit Hilfe einer mit eiserner Hand geführten Migrationspolitik gegenüber einem liberalen Westen und einer vermeintlich zu liberalen "westlichen" Migrationspolitik abzugrenzen versucht – ohne dabei jedoch Zuwanderung insgesamt zu unterbinden, auf die Russland aus ökonomischen und demographischen Gründen angewiesen ist.

Fazit

Die Auflösung der Föderalen Migrationsbehörde und die Übernahme ihres Zuständigkeitsbereichs durch das Innenministerium verweist auf eine Stärkung sicherheitsorientierter gesellschaftlicher Kräfte gegenüber eher liberal orientierten Kräften. Diese Verschiebung von Kräften, die seit Mitte der 2000er Jahre in wechselseitigem Widerspruch stehen, wurde durch die Debatte über eine "europäische Migrationskrise" befördert und durch einen Bezug auf diese legitimiert. Zugleich sind aber Zielsetzungen im Sinne einer Ökonomisierung von Migration, die ebenfalls seit mindestens einem Jahrzehnt als festes Element der Migrationsregulierung bestehen, nicht infrage gestellt worden. Die territorialen Grenzen sind weiterhin äußerst durchlässig und Arbeitsmigration wird als Ressource anerkannt, wobei die Bestimmungen der neuen Migrationsstrategie darauf schließen lassen, dass die an Mobilitätsrechte geknüpften Bedingungen verschärft werden sollen. Humanitäre Prinzipien jedoch scheinen durch die skizzierten Verschiebungen zunehmend verdrängt und ausgehebelt zu werden.

Lesetipps

  • Pikulicka-Wilczewska, Agnieszka; Greta Uehling (Hg.): Migration and the Ukraine Crisis. A Two-Country Perspective, Bristol: E-International Relations Publishing 2017; http://www.e-ir.info/wp-content/uploads/2017/06/Migration-and-The-Ukraine-Crisis-E-IR.pdf

  • Homepage des "Civic Assistance Committee": www.refugee.ru/en/

Fussnoten

Julia Glathe ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin und beschäftigt sich in ihrem Promotionsprojekt mit dem russischen Migrationsregime.