Zusammenfassung
Seit Beginn der dritten Amtszeit von Präsident Putin lässt sich in Russland ein Übergang von einer patriotischen Kulturpolitik zu einer Schließung der Gesellschaft und der Schaffung einer wertkonservativen "russländischen" (auf den russischen Staat bezogenen) Nation beobachten. Zur Durchsetzung dieses Ziels wird nur selten offene Repression eingesetzt. Der Fall des Regisseurs Kirill Serebrennikow zeigt, dass die Kulturszene in der Regel indirekt diszipliniert wird. Das breite Spektrum der Reaktionen auf die neue Situation reicht von Loyalität über Schweigen bis hin zu Protest und Emigration.
Die Schaffung einer "russländischen Nation"
In der Sowjetzeit verfolgte die Kulturpolitik des Kremls klare ideologische Ziele. Nach der absoluten Freiheit der neunziger Jahre und der selektiven Förderung einer patriotischen Massenkultur zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat sich die Situation der Kunstschaffenden in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Der Film "Leviathan" (2014) des Regisseurs Andrej Swjaginzew konnte erst mit mehrmonatiger Verspätung in den russischen Kinos gezeigt werden, weil die explizite Sprache der Handlungsfiguren gegen ein neues Gesetz verstößt, das die Verwendung von Schimpfwörtern in Kunstwerken verbietet. Im März 2015 wurde in Nowosibirsk eine Aufführung von Richard Wagners "Tannhäuser" abgesetzt, weil sie angeblich die religiösen Gefühle der Bevölkerung verletze. Im November 2016 reichte die erzkonservative Duma-Abgeordnete Natalja Poklonskaja eine Anzeige gegen Alexej Utschitel, den Regisseur des Films "Matilda" ein, der das Liebesverhältnis des letzten Zaren zu einer Ballerina thematisiert. Poklonskaja hatte als Staatsanwältin auf der Krim die Annexion der Halbinsel tatkräftig unterstützt und verehrt Nikolaj II. als Märtyrer für den orthodoxen Glauben. Utschitel ist selbst kein oppositioneller Künstler. Im März 2014 gehörte er zu den Erstunterzeichnern eines offenen Briefs an Präsident Putin, in dem zahlreiche Kunstschaffende die aggressive Ukraine-Politik des Kremls unterstützten. Internationale Empörung löste im August 2017 die Verhaftung des Theaterregisseurs Kirill Serebrennikow aus, dem die Unterschlagung staatlicher Gelder vorgeworfen wird. Serebrennikow erhielt moralische Unterstützung von Künstlern aus allen politischen Lagern: Der ansonsten linientreue Filmregisseur Fjodor Bondartschuk und der regierungskritische Dichter Lew Rubinschtejn setzten sich gleichermaßen für ihren Kollegen ein. Der Film- und Theaterregisseur Iwan Wyrypajew verfasste einen geharnischten offenen Brief, in dem er das System Putin als bolschewistisch, faschistisch und verbrecherisch bezeichnete. Die Zeitschrift "Snob" veröffentlichte den Wortlaut dieses Briefs wegen seines scharfen Tons erst nach redaktionsinternen Diskussionen und juristischen Abklärungen auf ihrer Website (Externer Link: https://snob.ru/profile/26058/blog/128315). Die Serebrennikow-Affäre wurde zum Politikum auf höchster Ebene. Präsident Putin hatte zwar im Mai 2017 die Anordnung einer Hausdurchsuchung in Serebrennikows Privatwohnung noch als "Dummheit" bezeichnet. Nach der Verhaftung Serebrennikows stellte er sich jedoch auf den Standpunkt, dass die Gesetze auch für Kunstschaffende gelten müssen. Der Kulturminister Wladimir Medinskij verneinte explizit eine politische Dimension in dieser Affäre, betonte aber, dass es neben einigen positiven Aspekten auch eine "enorme Menge" negativer Elemente in Serebrennikows künstlerischem Schaffen gebe. Dabei hatte Medinskij vor allem die explizite Thematisierung der Homosexualität in Serebrennikows Projekten im Auge. Im Jahr 2014 zahlte Serebrennikow staatliches Fördergeld für einen geplanten Dokumentarfilm über Peter Tschajkowskij zurück, weil das Kulturministerium gefordert hatte, die Homosexualität des Komponisten ganz auszublenden. Schwierigkeiten mit den Behörden hatte Serebrennikow auch bei seiner Ballettinszenierung über Rudolf Nurejew und bei einem Film über den sowjetischen Rockstar Viktor Zoj – in beiden Produktionen spielt das Thema der Homosexualität eine Rolle. Bei der Homosexualität geht es nicht einfach um eine weltanschauliche Debatte. Seit 2013 verbietet das russische Strafgesetzbuch "Propagierung von Homosexualität" vor einem minderjährigen Publikum. Bekannte homosexuelle Intellektuelle wie die Journalistin Mascha Gessen oder der Lyriker Dmitrij Kusmin haben Russland aus Protest gegen dieses Gesetz bereits verlassen.
Viele Kommentatoren vergleichen die Serebrennikow-Affäre mit dem Fall des ehemaligen Wirtschaftsministers Alexej Uljukajew. Im November 2016 war Uljukajew unter dem Verdacht massiver Bestechlichkeit festgenommen worden. Zahlreiche Unstimmigkeiten in seinem Fall haben Beobachter veranlasst, von einem Schauprozess zu sprechen. Es gehe nicht um das mögliche Fehlverhalten einer Einzelperson, sondern um eine Botschaft mit Signalwirkung: Wer die Generallinie des Kreml nicht unterstützt, kann in das Räderwerk der russischen Justiz geraten. Auch Prominenz schützt dabei nicht vor Verfolgung.
Die Repression gegen oppositionelle Kulturschaffende folgt dabei allerdings nicht sowjetischen Mustern. Ein Prozess, der ausschließlich auf die künstlerischen Inhalte zielte, wie er 1966 gegen Julij Daniel und Andrej Sinjawskij wegen "antisowjetischer Agitation oder Propaganda" stattfand, ist in Putins Russland kaum denkbar. Die beiden Schriftsteller waren damals wegen der Publikation ihrer Prosa im Ausland zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt worden. Gerichtliche Angriffe gegen oppositionelle Künstler erfolgen heute in der Regel indirekt. Die "Pussy Riot"-Aktivistinnen erhielten im Jahr 2012 eine zweijährige Haftstrafe wegen "Rowdytums" (§ 213 des Strafgesetzbuchs). Auch der Aktionskünstler Pjotr Pawlenskij, der die Tür des FSB-Hauptquartiers am Lubjanka-Platz in Brand gesetzt hatte, wurde 2016 nur wegen "Beschädigung eines Kulturguts" (§ 243 des Strafgesetzbuchs) verurteilt. Die Gerichte weichen der Interpretation von Kunstwerken sorgfältig aus und achten darauf, als Hüter der gesellschaftlichen Ordnung in Erscheinung zu treten. Natürlich ist den Richtern bewusst, dass "Pussy Riot" oder Pawlenskij die Reaktion des Staates immer auch als integralen Bestandteil der künstlerischen Aktion einkalkulieren. Wahrscheinlich ist die Zurückhaltung der Behörden bei der inhaltlichen Beurteilung von Kunstwerken eine Lektion aus der lächerlichen Affäre um Wladimir Sorokins Roman "Himmelblauer Speck" im Jahr 2002. Eine regierungsnahe Jugendorganisation hatte gegen den bekannten Schriftsteller Anzeige wegen Verbreitung von Pornographie erstattet. Eine offiziell eingesetzte Expertengruppe von Literaturwissenschaftlern kam zum Schluss, dass in Sorokins Roman tatsächlich pornographische Elemente vorhanden seien. Sogar das Kulturministerium protestierte damals im Namen der Meinungsfreiheit gegen die prüde Anklage.
Die gesellschaftliche Atmosphäre, in der sich Kunst im heutigen Russland abspielt, hat sich in den letzten Jahren deutlich aufgeheizt. Die Polarisierung der politischen Ansichten führt dazu, dass Intellektuelle, die sich mit ihrer Regierungskritik exponieren, oft angegriffen werden. Allgegenwärtig sind Hassmails und Beschimpfungen in den sozialen Medien. Regierungstreue Aktivisten können aber auch rohe Gewalt einsetzen. Die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja wurde im April 2016 mit grüner Farbe bespritzt. Die Science-Fiction-Autorin und Journalistin Julija Latynina wurde im Juli 2017 mit Fäkalien übergossen, ihr Auto im September 2017 angezündet. Auch die staatlichen oder staatsnahen Fernsehsender nehmen einzelne Künstler ins Visier. Der Rockmusiker Andrej Makarewitsch, der sich vehement gegen die Annexion der Krim ausgesprochen hatte, wurde am 24. August 2014 in der NTV-Sendung "13 Freunde der Junta" scharf attackiert. Als er darauf in einem offenen Brief den Präsidenten aufforderte, dem medialen "Hexensabbat" um seine Person Einhalt zu gebieten, kommentierte Putins Pressesprecher trocken: "Was Makarewitsch eine Hetzkampagne nennt, kann man auch als Reaktion der öffentlichen Meinung bezeichnen. An den Präsidenten zu appellieren ergibt hier wenig Sinn."
Neben den scharfen Kreml-Kritikern gibt es unter den Kulturschaffenden ein ganzes Spektrum von Positionen, das von ostentativer Neutralität über unaufgeregte Loyalität bis hin zu begeisterter Unterstützung reicht. Ein Beispiel für eine dezidiert apolitische Haltung bietet etwa die tatarische Drehbuchautorin und Schriftstellerin Gusel Jachina. Mit ihrem Roman "Suleika öffnet die Augen" hat sie einen internationalen Bestseller verfasst. Sie kümmert sich intensiv um ihr Publikum, weicht aber Fragen nach der politischen Situation in Russland sorgfältig aus. Eine loyale Position nimmt der Filmregisseur Pawel Lungin ein, der in seiner Fernsehserie "Rodina", einer "Homeland"-Adaption, ein positives Bild der russischen Geheimdienste zeichnet. Zu den überzeugten Unterstützern des Kremls zählt der Stardirigent Walerij Gergijew, der im Mai 2016 nach der Vertreibung des ISIS ein vielbeachtetes Konzert im syrischen Palmyra organisierte. Wie zahlreiche andere Kunstschaffende, die Putins Politik vorbehaltslos unterstützen, gehört Gergijew zu den etwa fünfhundert "Vertrauenspersonen Wladimir Putins" und sitzt im Rat des Präsidenten für Kultur und Kunst.
Symptomatisch für die Haltung der offiziellen Kulturelite ist etwa der Auftritt von Jelena Jampolskaja, der stellvertretenden Vorsitzenden des Rates für Kultur und Kunst, am 25. Dezember 2015 im Kreml. Sie definierte Kultur nicht nur als Summe einzelner Schaffensakte, sondern als Stimulierung der geistigen Energien im Namen der nationalen Einheit. Die psychische Gesundheit der Nation hänge von der Kultur ab. Am 2. Dezember 2017 hob Jampolskaja hervor, dass es keinen Antagonismus zwischen Staat und Kultur geben könne. Der Staat könne nicht ohne Kultur existieren und die Kultur nicht ohne Staat.
In der Tat lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Ideologisierung der russischen Kulturpolitik beobachten. Zwar verbietet Art. 13 der geltenden russischen Verfassung eine Staatsideologie. Diese Bestimmung hinderte aber den mächtigen Chef des Ermittlungskomitees, Nikolaj Bastrykin, nicht daran, am 18. April 2016 in der Zeitung "Kommersant" eine neue Staatsideologie für die Russische Föderation zu fordern. Auch kremltreue Duma-Abgeordnete setzten sich schon explizit für die Abschaffung von Art. 13 ein. Die wertkonservative Ausrichtung des Staats hat auch Eingang in offizielle Regierungsdokumente gefunden. Dazu gehört in erster Linie die nationale Sicherheitsstrategie vom 31. Dezember 2015. Ein ganzes Kapitel dieser Doktrin ist der Kulturpolitik gewidmet. Ein Kernbegriff sind dabei die spezifisch russischen "geistig-moralischen Werte". Das Dokument nennt als Beispiele u. a. den "Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen", die "Familie", die "schöpferische Arbeit", den "Dienst für das Vaterland", den "Kollektivismus", die "historische Einheit der Völker Russlands" oder die "Tradition der Geschichte unserer Heimat". Diese Bestimmungen bilden die Grundlage für ein großes Projekt des Kreml: Die Schaffung einer "russländischen Nation" mit einem "russischen Kulturkern". Dabei steht nicht eine neue föderale Staatskonzeption im Vordergrund, sondern eine möglichst homogene "imaginierte Gemeinschaft". Im November 2016 ordnete Putin sogar an, ein "Gesetz über die russländische Nation" auszuarbeiten. Allerdings stieß diese Initiative bald auf heftigen Widerstand in verschiedenen Teilrepubliken, die um ihre kulturelle Eigenständigkeit fürchteten. Deshalb sucht der Kreml zurzeit andere Formen der Definition einer "russländischen" (auf den russischen Staat bezogenen) Nation. Am 6. Juni 2017 schlug Putin vor, einen Eid für neue Staatsangehörige Russlands auszuarbeiten. Außerdem greift der Präsident auf die Strategie der staatlichen Nationalitätenpolitik vom 19. Dezember 2012 zurück, die bis ins Jahr 2025 implementiert werden soll. Paragraph 17 dieses Dokuments hält als wichtigstes Ziel fest, "das gemeinsame russländische Selbstbewusstsein der Bürger und die geistige Gemeinschaft des multiethnischen Volkes der Russischen Föderation (der russländischen Nation)" zu stärken.
Lesetipps
Schmid, Ulrich: Technologien der Seele – Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2015.