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Analyse: Zwischen Liberalisierung und Restriktion: Entwicklungen der russischen Migrationspolitik | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Zwischen Liberalisierung und Restriktion: Entwicklungen der russischen Migrationspolitik

Matthew Light

/ 14 Minuten zu lesen

Die Russische Föderation zieht seit Jahrzehnten Arbeitsmigranten an – vor allem aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Diese Migrationsprozesse haben die Größe und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Russlands sowie deren Verteilung über die Regionen verändert. Wie entwickelte sich aber die Politik zur Steuerung der Migration?

Ein Zeltlager für Migranten in Golyanovo, 08.02.2013. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Obwohl die Russische Föderation von Vielen im Westen als ein Emigrationsland wahrgenommen wird, hat es seit der Unabhängigkeit 1991 eine beträchtliche Immigration nach Russland gegeben, meist aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Darüber hinaus hat das Land auch eine erhebliche Binnenmigration erfahren. Diese Migrationsprozesse haben die Größe und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Russlands sowie deren Verteilung über die Regionen verändert. Die Politik zur Steuerung der Migration hat sich von dem äußerst strikt reglementierten System der Sowjetunion fortbewegt, ohne eine vollkommene Liberalisierung zu erreichen. Dieser Beitrag untersucht die Gründe für diese Entwicklung der Migrationspolitik, unter anderem die Weigerung des russischen Staates, Migrationsrechte voll durchzusetzen, die Unterordnung der Migrationspolitik unter geopolitische Ziele und die rhetorische Festlegung auf einen ethnisch russischen Nationalismus. Der jüngste politische Wandel deutet auf eine Bewegung hin zu einer größeren Steuerung der Auswanderung russischer Staatsangehöriger und der Annahme anderer Staatsangehörigkeiten. Darüber hinaus verknüpft die staatliche Politik Migrationsrechte mit einer politischen und wirtschaftlichen Integration zwischen Russland und anderen postsowjetischen Staaten.

Steuerung internationaler Migration in der Sowjetunion

Die Migrationsprozesse in der Sowjetunion (1917–1991) sind auf ganz andere Weise gesteuert worden als seinerzeit in den kapitalistischen Staaten des Westens, seien sie nun autoritär oder demokratisch verfasst gewesen. Die Sowjetunion war bereits ganz früh bestrebt, den Bevölkerungsaustausch mit der Außenwelt zu beschränken, sowohl in Bezug auf Emigration, als auch – was im Westen weniger bekannt ist – auf Immigration. Seit den ausgehenden 1920er Jahren bis zu den letzten Jahren der Sowjetherrschaft hat es erhebliche Restriktionen für eine Ausreise gegeben; eine Ausreise war mehr ein Privileg als ein Recht. Hauptzweck dieser Politik war es, ungenehmigte Emigration zu verhindern. Das wiederum spiegelte die stillschweigende Erkenntnis der Sowjetregierung wieder, dass viele Sowjetbürger gehen könnten, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen, weil das Leben in der UdSSR äußerst stark reglementiert war, es keine Möglichkeit gab, sich in der Zivilgesellschaft frei zusammenzuschließen, die politische Mitwirkung erheblich beschränkt war und der Lebensstandard niedriger als in den nichtkommunistischen Gesellschaften Europas sowie von ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten bei Konsumgütern und von materiellen Härten geprägt war. Ausnahmen vom Emigrationsverbot gab es nur bei vereinzelten Dissidenten (etwa bei Solschenizyn), und bei einigen Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen mit Verbindungen zu anderen Staaten, die deren Umsiedlung ausgehandelt hatten (Deutsche und Juden). In einer späteren Phase der sowjetischen Geschichte wurde es Bürgern, denen man traute, erlaubt, das Land auf Zeit zu verlassen, z. B. als Tourist. Doch die wurden dann gründlich geprüft und durften gewöhnlich nur in Gruppen reisen. Wie diese Beschränkungen bei Auslandsreisen sollte auch der nahezu totale Bann auf Immigration in die UdSSR die ideologische Konformität fördern. Der Sowjetstaat wollte verhindern, dass seine Bürger Informationen von Ausländern erhielten, sei es über das Leben im Ausland oder über die Sowjetunion selbst. Zur Beschränkung des Informationsflusses, und um sicherzustellen, dass alle Sowjetbürger loyal zum Regime sind, war die Regierung bereit, auf die Vorteile einer zahlenstarken Immigration zu verzichten, selbst in der Nachkriegszeit, als das Land verwüstet war und von einem Zustrom von Gastarbeitern (wie dem in die BRD) profitiert haben könnte. Die Sowjetunion hat nie eine Politik verfolgt, die eine routinehafte Immigration von ausländischen Staatsangehörigen erlaubt hätte.

Regulierung von Mobilität in der Sowjetunion

Auch die innersowjetische Migrationspolitik unterschied sich im internationalen Vergleich. Wie viele andere europäische Gesellschaften damals und jetzt auch, verlangte die UdSSR eine Registrierung des Wohnsitzes ihrer Bürger. Anders als in liberalen kapitalistischen Gesellschaften diente das Meldeverfahren nicht der Information, sondern erforderte eine Genehmigung. In der Praxis setzte der Staat die Steuerung der Binnenmigration zu mehreren Zwecken ein. Zum einen lenkten die Behörden damit Arbeiter in jene Regionen und Unternehmen, in denen sie gebraucht wurden; sie begrenzten und steuerten die Abwanderung von Bauern, die in den Kolchosen gebraucht wurden, in die Städte; und sie beschränkten die Migration nach Moskau und in bestimmte andere Städte, die besser mit knappen Gütern oder Dienstleistungen versorgt waren. Ein zusätzlicher Grund für eine Steuerung der Binnenmigration war die Kontrolle über unliebsame Bürger, etwa über Angehörige bestimmter ethnischer Minderheiten (zu denen wiederum die Wolgadeutschen gehörten) oder über politisch unzuverlässige Individuen. Schlüsseldokumente für die Handhabung der Binnenmigration waren der sogenannte "Inlandspass" und die propiska (Wohnsitzgenehmigung).

Die sowjetische Migrationspolitik war zwar in vielerlei Hinsicht repressiv, bestand aber nicht ausschließlich aus Verboten. Der sowjetische Staat förderte Binnenmigration durch die Entwicklung von Infrastruktur und Beschäftigung sowie subventionierte Reisen und andere Formen von Sozialleistungen, die über den Arbeitsplatz erteilt wurden. Der sowjetische Staat überwachte die Transformation des Landes von einer mehrheitlich ländlichen Gesellschaft zu einer überwiegend städtischen und industrialisierten. Er stimulierte darüber hinaus Migrationsprozesse, durch die viele Teile des Landes in größerem Maße multiethnisch wurden, beispielsweise, indem Bürger aus dem europäischen Teil des Landes zur Ansiedlung in Sibirien und Zentralasien bewegt wurden. Rückblickend besteht der beste Ansatz zu einem Verständnis der sowjetischen Migrationspolitik in der Erkenntnis, dass sie auf etwas ausgerichtet war, dass ich als "Folgsamkeit gegenüber dem Regime" bezeichnet habe, und zwar durch Schaffung einer bestimmten Art Sowjetbürger, die sich in voller Harmonie mit den Bedürfnissen des politischen Systems und den Ansprüchen des Regimes befindet.

Neue Migrationsmuster im postsowjetischen Russland

In einigen meiner Veröffentlichungen habe ich die Änderungen in den Migrationsmustern und der jeweiligen Politik im frühen postsowjetischen Russland skizziert und analysiert. Zum einen öffnete die Abschaffung der sowjetischen Restriktionen für Auslandsreisen (eine Politik, die in der Verfassung von 1993 und nachfolgenden Gesetzen verankert wurde) bekanntermaßen die Schleusen für eine ständige oder aber vorübergehende Ausreise von Bürgern Russlands. Neben den "Diaspora-Minderheiten" sind Bürger mit unterschiedlichstem ethnischen oder sozialem Hintergrund in großen Zahlen emigriert. Viele andere, die ihren Hauptwohnsitz in Russland beibehielten, haben sich an ungehinderte Auslandsreisen zu geschäftlichen oder persönlichen Zwecken (einschließlich Tourismus) gewöhnt. Nach einer anfänglichen Welle während der Krisenjahre Anfang der 1990er ging die Emigration in den 2000er Jahren erheblich zurück, hat aber in letzter Zeit wieder zugenommen, vor allem durch Fachkräfte und aus einer Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Motiven, unter anderem wegen einer Unzufriedenheit mit Russlands politischer und wirtschaftlicher Entwicklungsbahn.

Zweitens ist Russland, und das ist weniger bekannt, jetzt das Zentrum eines der weltweit größten internationalen Migrationsnetzwerke. Dabei hat in der postsowjetischen Zeit Immigration beharrlich die Emigration überwogen und angesichts der niedrigen Geburtszahlen und der hohen Sterblichkeit in Russland ist es die wichtigste (und bisweilen einzige) Quelle für Bevölkerungswachstum gewesen. Trotz einer Zunahme der Immigration aus einigen asiatischen Ländern erfolgt der größte Teil der Immigration nach Russland aus anderen postsowjetischen Staaten. Viele Autoren unterscheiden zwei Phasen postsowjetischer Immigration nach Russland. Die erste Phase fiel grob betrachtet mit den 1990er Jahren zusammen, als diese Art Immigration zum größten Teil durch politische Wirren und ethnische Konflikte in anderen Teilen der ehemaligen UdSSR verursacht wurde und einen erheblichen Anteil ethnischer Russen aufwies, die nach Russland umsiedeln wollten. In der zweiten Phase, ungefähr nach der Jahrtausendwende, wurde die politisch motivierte dauerhafte Umsiedlung zu großen Teilen von vorübergehender Arbeitsmigration abgelöst, nun vor allem aus Zentralasien. Die meisten Beobachter sind der Ansicht, dass eine weitere Immigration ethnischer Russen aus anderen postsowjetischen Staaten wohl kaum in großem Umfang stattfinden wird. Angenommen wird auch, dass "nichteuropäische" Immigration (aus Zentralasien und in der Zukunft vielleicht zunehmend von außerhalb der ehemaligen UdSSR) ein permanentes Phänomen sein werde, auf das mit einer staatlichen Politik zur erleichterten Erlangung eines ständigen Wohnsitzes oder der Staatsbürgerschaft reagiert werden muss, und das das Entstehen einer stärker multikulturellen Gesellschaft erfordert.

Regionale Unterschiede

Die rechtlichen Änderungen der postsowjetischen Zeit haben auch den regulatorischen – lies: restriktiven – Charakter der Wohnsitzregistrierung formal abgeschafft. Bürger Russlands und ausländische Staatsangehörige, die sich legal in Russland aufhalten, haben nun theoretisch das umfassende Recht, sich im Land zu bewegen, zu übernachten und Besuche zu unternehmen, wo sie wollen. Dieser Politikwechsel hat in Kombination mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen und dem Ende der meisten Subventionen der Sowjetzeit zu einem massiven Anwachsen Moskaus geführt und (zusammen mit internationaler Migration) der Stadt und einigen anderen Teilen von Russland einen sehr viel stärker multikulturellen Charakter verliehen; die Konzentration ethnischer Gruppen aus Zentralasien und dem Kaukasus ist nun viel größer als zu Sowjetzeiten. Als logische Folge haben Moskau und einige andere Städte nun einen viel größeren Anteil von Einwohnern, die zumindest formal muslimisch sind. Anderenorts haben diese Tendenzen zu einer Umkehr der sowjetischen Bevölkerungsentwicklung geführt, etwa in Sibirien und dem Hohen Norden Russlands, die beide eine beträchtliche Abwanderung ihrer Bevölkerung erlebt haben.

Wenn auch Russlands Migrationspolitik zweifellos liberalisiert wurde, indem sie nicht mehr dermaßen reglementiert und restriktiv war, so war sie dennoch davon entfernt als liberale Migrationspolitik bezeichnet zu werden. Wie erwähnt, bestand für die Bewegungsfreiheit der Bürger Russlands der größte Gewinn darin, dass die Restriktionen bei der Ausreise wegfielen, was zumindest bis vor kurzem in der Praxis wie auch formal Bestand hatte. Bei der Binnenmigration wie auch bei der Immigration ist die Lage weniger eindeutig. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Regionalregierungen in Russland de facto – und von der Zentralregierung toleriert – eine vielfältige, restriktive Politik betreiben, durch die die tatsächliche Freizügigkeit sowohl von Ausländern als auch von Bürgern Russlands eingeschränkt wird. Die Motive für eine derartige Politik sind erneut teils wirtschaftlicher, teils (in mehrfacher Hinsicht) politischer Natur. Einige florierende Regionen – vor allem Moskau – haben versucht, die Registrierung neuer Residenten (und somit deren politische, soziale und sogar deren Vertragsrechte) zu beschränken, selbst wenn es sich um Bürger Russlands handelt. Das erfolgte zum Teil aus fiskalischen Überlegungen heraus: In Russland besteht zwischen den Regionen ein Ungleichgewicht bei öffentlichen Leistungen, und Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt reichen nicht aus, die Kosten hierfür vollständig abzudecken, insbesondere in wohlhabenderen Regionen. Manchmal gibt es ethnische Motive für solche Restriktionen.

Moskau und einige andere Regionen haben sich geweigert Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren, vor allem jenen aus dem Kaukasus und insbesondere Tschetschenen. Und schließlich geht es bei der Einschränkung der Registrierung einfach darum, die Subjekte einer Kontrolle zu unterstellen. Wenn Niederlassungsrechte beschnitten werden können, wird die Lage einer Person (sei sie ein Ausländer oder ein Bürger Russlands) angreifbarer und erhöht auf allen Ebenen die Macht des Staates über ihn oder sie. Darüber hinaus fördert eine restriktive Politik Korruption, und wird ihrerseits von letzterer geprägt. Schmiergelder können bei der Ausstellung notwendiger Dokumente verlangt werden, oder im Gegenteil dafür, dass die Immigrationsvorschriften nicht angewandt oder Kontrollen der Arbeitskräfte nicht durchgeführt werden. Im gleichen Zusammenhang ist der Unwillen vieler Vermieter zu sehen, Mietern eine Registrierung zu geben, weil sie Scherereien und Erpressung durch die Behörden fürchten. Es gibt zwar Hinweise, dass diese Praktiken im 21. Jahrhundert weniger extrem vorhanden sind, verschwunden sind sie jedoch nicht.



Phasen der postsowjetischen Migrationspolitik

Die Forschung unterteilt die russische Immigrationspolitik in verschiedene Phasen. Die 1990er Jahre zeitigten eine Politik im Staatsangehörigkeitsrecht, die nach allen internationalen Standards höchst großzügig war und im Wesentlichen auf eine freie Immigration postsowjetischer Staatsangehöriger nach Russland hinauslief. Daneben erfolgte die praktisch unkontrollierte Einreise von Bürgern postsowjetischer Staaten, die Arbeit suchten, was zum Teil auf die rechtlichen Unklarheiten hinsichtlich der Arbeitsrechte von nichtrussischen Staatsangehörigen zurückzuführen war. In den frühen 2000er Jahren allerdings wurde das Staatsangehörigkeits- und Immigrationsrecht revidiert, um die Einwanderung zurückzufahren und die Arbeitsrechte von Ausländern einzuschränken. Durch diese neue Politik wurde die Erlangung der Staatsbürgerschaft zu einem komplexen, mehrstufigen Prozess, bei dem zeitweilige und ständige Aufenthaltsgenehmigungen Voraussetzung für eine Beantragung der Staatsangehörigkeit waren. Durch die Gesetze wurde es darüber hinaus wahrscheinlicher, dass der vorübergehende Aufenthalt und die Beschäftigung von Gastarbeitern Gesetze verletzt werden. Die Bürger der meisten postsowjetischen Staaten konnten zwar weiterhin visafrei nach Russland einreisen – im Gegensatz, ist hier anzumerken, zu Menschen aus Lateinamerika die in die USA wollen, oder zu Personen aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die in die EU wollen –, doch gab es de jure oder de facto eine Reihe von Maßnahmen, durch die die Betroffenen tendenziell in die Illegalität getrieben werden, wenn sie auf Arbeitssuche eingetroffen sind. Eine dieser Politiken betraf die Schwierigkeit, eine Registrierung des Aufenthalts zu erlangen, eine Vorschrift, die sowohl für Ausländer galt, als auch für Bürger Russlands. Ein weiterer Aspekt bestand in dem Beharren darauf, dass von einem konkreten Arbeitgeber eine Einladung zu erlangen ist, wobei dem Arbeitsmigranten hierfür eine nur sehr begrenzte Zeit eingeräumt wird. Wiederum dürften viele Arbeitgeber nicht bereit sein, formale Arbeitsverträge abzuschließen, entweder, weil so eine Ausbeutung der Arbeiter erleichtert wird, oder aus Furcht vor Erpressung oder Druck seitens der Behörden.



Seit Mitte der 2000er Jahre hat sich die Migrationspolitik Russlands erneut gewandelt, mit weiterer Liberalisierung, stärkerer Restriktivität, fortgesetzten Verschiebungen bzw. einer Ungewissheit, die in unterschiedlichen Bereichen zu Tage trat. Einerseits beschloss die Zentralregierung Maßnahmen zur Legalisierung wenigstens einiger Arbeitsmigranten. Zu diesen Maßnahmen gehörten eine Erleichterung der "vorübergehenden Registrierung" für Gastarbeiter am Arbeitsort wie auch am Wohnort. Darüber hinaus wurde ein neues und international herausragendes System von "Patenten" geschaffen, über die Migranten praktisch periodisch Steuern für das Recht auf vorübergehende Beschäftigung in Russland zahlen. Eine solche Politik verweist auf ein implizites offizielles Eingeständnis, dass massenhafte Illegalität im Zusammenhang mit Einwanderung und Arbeitsmigranten zu verstärkter Unordnung und Korruption führt und die Bürger verärgert. Bemerkenswert ist auch, dass diese Veränderungen von professionellen Demographen und anderen Sozialwissenschaftlern vorgeschlagen wurden, und dass sich die russische Regierung als empfänglich für solche Ratschläge erwiesen hat. Andererseits sind einige Aspekte der Immigrationspolitik nicht liberalisiert worden, und es hat bei den begrenzten, gerade beschriebenen Veränderungen wieder einige Rückschritte gegeben. Die Registrierung des ständigen Aufenthalts und der Staatsangehörigkeit ist immer noch ein extrem komplizierter Prozess, was darauf hinweist, dass die russische Regierung sich immer noch nicht an die Aussicht auf eine dauerhafte Immigration gewöhnt hat, insbesondere jener durch Nichtslawen. Die Regierung hat auch ein kompliziertes und regional festzulegendes System von Beschäftigungsquoten eingeführt, die zum Teil den liberalisierenden Effekt zunichtegemacht haben, der sich aus dem Übergang von den früher zwingend erforderlichen Beschäftigungsangeboten zu Immigrationspatenten ergeben hatte.

Nationalismus und Informalität als Ursachen einer widersprüchlichen Politik

Die Erklärung für diese widersprüchliche Politik umfasst eine Reihe von Faktoren. Zum einen hat Informalität, wie beschrieben, einen kriminellen Wert für Offizielle aller Ebenen, um rechtswidrige Renten mit Hilfe von Korruption abzuzweigen, aber auch, um leichter Kontrolle über eine Person zu erlangen: Russland ist somit ein negatives Beispiel, das die Bedeutung durchsetzbarer Niederlassungs- und Migrationsrechte für die allgemeine Rechtstaatlichkeit illustriert. Caress Schenk hat auf die regionalen Beschäftigungsquoten verwiesen, mit denen – aus politischen wie wirtschaftlichen Gründen – ein gewisses Maß an Illegalität bei Gastarbeitern erreicht werden soll, wobei die politischen Gründe wiederum den allgegenwärtigen Unwillen auf allen Ebenen des Staates reflektieren, die Realität eines stärker multikulturellen und insbesondere verstärkt islamischen Russland zu akzeptieren. Zu beachten ist aber, dass dies nicht als pauschale Kritik an der Gesellschaft in Russland gemeint ist. Russland ist in der Tat immer eine multikulturelle Gesellschaft gewesen; und es ist in mancher Hinsicht systematischer multikulturell als andere Industriestaaten, beispielsweise in Politikbereichen wie dem offiziellen Schutz bestimmter Minderheitensprachen. Gleichwohl haben die Zentralregierung wie auch die Regierungen in vielen Regionen, so stellen es viele Wissenschaftler heraus, einen offiziellen russischen Nationalismus kultiviert, nämlich ein Verständnis der russischen Identität, das den Vorrang der russischen Kultur und der orthodoxen Kirche betont, und die ethnisch oder kulturell andersgearteten Bürgern kühl oder gar feindselig gegenübersteht (ein eigentümliches Beispiel für diesen offiziellen Nationalismus ist die Politik, mit der die Immigration der sogenannten "Landsleute" (sootetschestwenniki) gefördert werden soll; die "Landsleute" sind eine mehrdeutige Kategorie, die angeblich postsowjetische Staatsangehörige mit einer Affinität zur russischen Kultur umfasst, vielleicht aber in Wirklichkeit ethnische Russen meint). Eine umfassende Reform der Politiken zur Binnenmigration und zur Immigration würde von dem Staat auf allen Ebenen verlangen, sich zu einem offiziellen Multikulturalismus und zu Toleranz zu bekennen. Es würde darüber hinaus den Verzicht auf die allgegenwärtige Informalität bedeuten, die viele Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in Russland umfasst.

Beobachter wie Alena Ledeneva haben darauf verwiesen, dass diese Informalität – zum Teil manifestiert in Netzwerken offiziell tolerierter Korruption – in der Tat für das Überleben des Regimes von essentieller Bedeutung ist, da es Funktionäre auf regionaler und föderaler Ebene sowie Manager zementartig an den Kreml bindet. So lang das derzeitige Regime besteht, werden diese beiden Faktoren – der offizielle Einsatz von russischem Nationalismus und die allgegenwärtige Informalität –wohl weiterhin der Liberalisierung der Politik in den Bereichen Immigration und der Binnenmigration Grenzen setzen.

Die Ambivalenz und Fragilität der postsowjetischen Liberalisierung wird auf unterschiedliche Weise auch durch andere Entwicklungen in der russischen Politik illustriert. Seit 2008, als die wirtschaftliche Lage und die Beziehungen zum Westen sich stark eingetrübt haben, hat die Zentralregierung offensichtlich Überlegungen angestellt, ob die totale Ausreisefreiheit eine kluge Sache ist. So hat der Staat Angehörige der Polizei und des Militärs dazu verpflichtet, sich alle Auslandsreisen genehmigen zu lassen, selbst die zu touristischen Zwecken. 2015–2016, im Gefolge des Streits mit dem Erdoğan-Regime in Bezug auf die Syrien-Krise, erließ die Regierung ein de facto-Verbot für russischen Tourismus in die Türkei, die für Bürger Russlands ein wichtiges Ferienziel gewesen war. Dieser Eingriff in die persönlichen Reisemöglichkeiten ist in der postsowjetischen Zeit beispiellos. Im Zuge einer noch bedrohlicheren Entwicklung hat die Regierung eine neue Vorschrift erlassen, der zufolge alle Bürger Russlands, die auch über eine ausländische Staatsangehörigkeit verfügen oder ihren ständigen Wohnsitz im Ausland haben, dies den russischen Behörden melden müssen und eine Unterlassung strafrechtliche Folgen nach sich zieht. Wenn auch keiner dieser Schritte eine totale Abkehr von der postsowjetischen Ausreisefreiheit bedeutet, so weisen sie doch auf eine Bereitschaft hin diese, herunterzufahren; sie könnten ein offizielles Ausloten sein, wie viel Repression politisch möglich ist.

Ein weiterer Schritt in Richtung eines politischen Migrationsmanagements ist in der Verknüpfung von erleichterten Einwanderungsbedingungen und einer Mitgliedschaft in der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) zu sehen. Diese Organisation soll postsowjetische Staaten mit Russland integrieren und vermutlich deren Integration mit der Europäischen Union (oder gar eine Mitgliedschaft) ausschließen, also eine Entwicklung, die aus russischer Sicht nicht hinnehmbar ist. Bürger postsowjetischer Staaten wie Kirgistan, die der EAWU beigetreten sind, werden nun bevorzugten Zugang zum russischen Arbeitsmarkt haben, anders als Bürger von Nicht-Mitgliedsstaaten. Fairerweise ist zu sagen, dass dieses Instrument einer Konditionierung internationaler Migrationsrechte durch politische und internationale Integration auch in anderen Teilen der Welt kaum unbekannt sein dürfte: Tatsächlich stellen sie eine Parallele zu einer ähnlichen Politik der Europäischen Union dar. Fragwürdiger ist vielmehr der Einsatz von Methoden der Nötigung, um Staaten zum Beitritt zur EAWU zu bewegen, was weithin als ein Instrument russischer Kontrolle über die postsowjetische Region betrachtet wird. Interessant ist hier die Frage, in welchem Maße eine solche Nötigung durch einen autoritären Staat möglicherweise einer tatsächlich liberalen Migrationspolitik zum Aufstieg verhelfen könnte, die auf Achtung der Menschenrechte und Rechtstaatlichkeit beruht.

Diese Überlegung führt zu der grundlegenden Frage, was die postsowjetische Migrationspolitik Russlands im internationalen Vergleich heraushebt, oder eben auch nicht. Generell lässt sich sagen, dass die derzeitige Politik Russlands systemisch weniger Unterschiede zu den entsprechenden Politiken im Westen aufweist, als noch zu Sowjetzeiten: Der Staat hat zumindest formal bestimmte Arten der Kontrolle über die eigenen Bürger abgeschafft und er erkennt, dass in großer Zahl eine Einreise ausländischer Staatsbürger stattfinden wird. Darüber hinaus wäre es zu einfach zu sagen, dass die Politik Russlands (in jeder Hinsicht) "repressiver" sei, auch wenn hier weiterhin beträchtliche Unterschiede zwischen der russischen Politik und (zusammengefasst) der im Westen bestehen. Zutreffender wäre es, die Migrationsrechte hinsichtlich der Mobilität nach, innerhalb und nun wohl aus Russland als fragiler und schwächer als in den industrialisierten Demokratien zu bezeichnen. Informalität und fehlende Ordnung im Gegensatz zu schierer Repression sind heute die Markenzeichen der Migrationspolitik in Russland.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder







Quellen / Literatur

Light M.: Fragile Migration Rights: Freedom of Movement in Post-Soviet Russia, Abingdon, Oxon, New York, NY: Routledge 2016.

Schenk C.: Controlling Immigration Manually: Lessons from Moscow (Russia), in: Europe-Asia Studies, 65. 2016, Nr. 7, S. 1444–65.

Fussnoten

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Matthew Light erlangte seinen Doktortitel in Politikwissenschaft 2006 an der Yale-Universität. Seit 2008 ist er an der Universität Toronto tätig, wo er gegenwärtig Associate Professor für Criminology and Sociolegal Studies ist. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Migrationspolitik, Polizeiwesen und die Strafjustiz in der postsowjetischen Region.