Zusammenfassung
Obwohl die Russische Föderation von Vielen im Westen als ein Emigrationsland wahrgenommen wird, hat es seit der Unabhängigkeit 1991 eine beträchtliche Immigration nach Russland gegeben, meist aus anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Darüber hinaus hat das Land auch eine erhebliche Binnenmigration erfahren. Diese Migrationsprozesse haben die Größe und die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Russlands sowie deren Verteilung über die Regionen verändert. Die Politik zur Steuerung der Migration hat sich von dem äußerst strikt reglementierten System der Sowjetunion fortbewegt, ohne eine vollkommene Liberalisierung zu erreichen. Dieser Beitrag untersucht die Gründe für diese Entwicklung der Migrationspolitik, unter anderem die Weigerung des russischen Staates, Migrationsrechte voll durchzusetzen, die Unterordnung der Migrationspolitik unter geopolitische Ziele und die rhetorische Festlegung auf einen ethnisch russischen Nationalismus. Der jüngste politische Wandel deutet auf eine Bewegung hin zu einer größeren Steuerung der Auswanderung russischer Staatsangehöriger und der Annahme anderer Staatsangehörigkeiten. Darüber hinaus verknüpft die staatliche Politik Migrationsrechte mit einer politischen und wirtschaftlichen Integration zwischen Russland und anderen postsowjetischen Staaten.
Steuerung internationaler Migration in der Sowjetunion
Die Migrationsprozesse in der Sowjetunion (1917–1991) sind auf ganz andere Weise gesteuert worden als seinerzeit in den kapitalistischen Staaten des Westens, seien sie nun autoritär oder demokratisch verfasst gewesen. Die Sowjetunion war bereits ganz früh bestrebt, den Bevölkerungsaustausch mit der Außenwelt zu beschränken, sowohl in Bezug auf Emigration, als auch – was im Westen weniger bekannt ist – auf Immigration. Seit den ausgehenden 1920er Jahren bis zu den letzten Jahren der Sowjetherrschaft hat es erhebliche Restriktionen für eine Ausreise gegeben; eine Ausreise war mehr ein Privileg als ein Recht. Hauptzweck dieser Politik war es, ungenehmigte Emigration zu verhindern. Das wiederum spiegelte die stillschweigende Erkenntnis der Sowjetregierung wieder, dass viele Sowjetbürger gehen könnten, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen, weil das Leben in der UdSSR äußerst stark reglementiert war, es keine Möglichkeit gab, sich in der Zivilgesellschaft frei zusammenzuschließen, die politische Mitwirkung erheblich beschränkt war und der Lebensstandard niedriger als in den nichtkommunistischen Gesellschaften Europas sowie von ernsthaften Versorgungsschwierigkeiten bei Konsumgütern und von materiellen Härten geprägt war. Ausnahmen vom Emigrationsverbot gab es nur bei vereinzelten Dissidenten (etwa bei Solschenizyn), und bei einigen Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen mit Verbindungen zu anderen Staaten, die deren Umsiedlung ausgehandelt hatten (Deutsche und Juden). In einer späteren Phase der sowjetischen Geschichte wurde es Bürgern, denen man traute, erlaubt, das Land auf Zeit zu verlassen, z. B. als Tourist. Doch die wurden dann gründlich geprüft und durften gewöhnlich nur in Gruppen reisen. Wie diese Beschränkungen bei Auslandsreisen sollte auch der nahezu totale Bann auf Immigration in die UdSSR die ideologische Konformität fördern. Der Sowjetstaat wollte verhindern, dass seine Bürger Informationen von Ausländern erhielten, sei es über das Leben im Ausland oder über die Sowjetunion selbst. Zur Beschränkung des Informationsflusses, und um sicherzustellen, dass alle Sowjetbürger loyal zum Regime sind, war die Regierung bereit, auf die Vorteile einer zahlenstarken Immigration zu verzichten, selbst in der Nachkriegszeit, als das Land verwüstet war und von einem Zustrom von Gastarbeitern (wie dem in die BRD) profitiert haben könnte. Die Sowjetunion hat nie eine Politik verfolgt, die eine routinehafte Immigration von ausländischen Staatsangehörigen erlaubt hätte.
Regulierung von Mobilität in der Sowjetunion
Auch die innersowjetische Migrationspolitik unterschied sich im internationalen Vergleich. Wie viele andere europäische Gesellschaften damals und jetzt auch, verlangte die UdSSR eine Registrierung des Wohnsitzes ihrer Bürger. Anders als in liberalen kapitalistischen Gesellschaften diente das Meldeverfahren nicht der Information, sondern erforderte eine Genehmigung. In der Praxis setzte der Staat die Steuerung der Binnenmigration zu mehreren Zwecken ein. Zum einen lenkten die Behörden damit Arbeiter in jene Regionen und Unternehmen, in denen sie gebraucht wurden; sie begrenzten und steuerten die Abwanderung von Bauern, die in den Kolchosen gebraucht wurden, in die Städte; und sie beschränkten die Migration nach Moskau und in bestimmte andere Städte, die besser mit knappen Gütern oder Dienstleistungen versorgt waren. Ein zusätzlicher Grund für eine Steuerung der Binnenmigration war die Kontrolle über unliebsame Bürger, etwa über Angehörige bestimmter ethnischer Minderheiten (zu denen wiederum die Wolgadeutschen gehörten) oder über politisch unzuverlässige Individuen. Schlüsseldokumente für die Handhabung der Binnenmigration waren der sogenannte "Inlandspass" und die propiska (Wohnsitzgenehmigung).
Die sowjetische Migrationspolitik war zwar in vielerlei Hinsicht repressiv, bestand aber nicht ausschließlich aus Verboten. Der sowjetische Staat förderte Binnenmigration durch die Entwicklung von Infrastruktur und Beschäftigung sowie subventionierte Reisen und andere Formen von Sozialleistungen, die über den Arbeitsplatz erteilt wurden. Der sowjetische Staat überwachte die Transformation des Landes von einer mehrheitlich ländlichen Gesellschaft zu einer überwiegend städtischen und industrialisierten. Er stimulierte darüber hinaus Migrationsprozesse, durch die viele Teile des Landes in größerem Maße multiethnisch wurden, beispielsweise, indem Bürger aus dem europäischen Teil des Landes zur Ansiedlung in Sibirien und Zentralasien bewegt wurden. Rückblickend besteht der beste Ansatz zu einem Verständnis der sowjetischen Migrationspolitik in der Erkenntnis, dass sie auf etwas ausgerichtet war, dass ich als "Folgsamkeit gegenüber dem Regime" bezeichnet habe, und zwar durch Schaffung einer bestimmten Art Sowjetbürger, die sich in voller Harmonie mit den Bedürfnissen des politischen Systems und den Ansprüchen des Regimes befindet.
Neue Migrationsmuster im postsowjetischen Russland
In einigen meiner Veröffentlichungen habe ich die Änderungen in den Migrationsmustern und der jeweiligen Politik im frühen postsowjetischen Russland skizziert und analysiert. Zum einen öffnete die Abschaffung der sowjetischen Restriktionen für Auslandsreisen (eine Politik, die in der Verfassung von 1993 und nachfolgenden Gesetzen verankert wurde) bekanntermaßen die Schleusen für eine ständige oder aber vorübergehende Ausreise von Bürgern Russlands. Neben den "Diaspora-Minderheiten" sind Bürger mit unterschiedlichstem ethnischen oder sozialem Hintergrund in großen Zahlen emigriert. Viele andere, die ihren Hauptwohnsitz in Russland beibehielten, haben sich an ungehinderte Auslandsreisen zu geschäftlichen oder persönlichen Zwecken (einschließlich Tourismus) gewöhnt. Nach einer anfänglichen Welle während der Krisenjahre Anfang der 1990er ging die Emigration in den 2000er Jahren erheblich zurück, hat aber in letzter Zeit wieder zugenommen, vor allem durch Fachkräfte und aus einer Mischung aus wirtschaftlichen und politischen Motiven, unter anderem wegen einer Unzufriedenheit mit Russlands politischer und wirtschaftlicher Entwicklungsbahn.
Zweitens ist Russland, und das ist weniger bekannt, jetzt das Zentrum eines der weltweit größten internationalen Migrationsnetzwerke. Dabei hat in der postsowjetischen Zeit Immigration beharrlich die Emigration überwogen und angesichts der niedrigen Geburtszahlen und der hohen Sterblichkeit in Russland ist es die wichtigste (und bisweilen einzige) Quelle für Bevölkerungswachstum gewesen. Trotz einer Zunahme der Immigration aus einigen asiatischen Ländern erfolgt der größte Teil der Immigration nach Russland aus anderen postsowjetischen Staaten. Viele Autoren unterscheiden zwei Phasen postsowjetischer Immigration nach Russland. Die erste Phase fiel grob betrachtet mit den 1990er Jahren zusammen, als diese Art Immigration zum größten Teil durch politische Wirren und ethnische Konflikte in anderen Teilen der ehemaligen UdSSR verursacht wurde und einen erheblichen Anteil ethnischer Russen aufwies, die nach Russland umsiedeln wollten. In der zweiten Phase, ungefähr nach der Jahrtausendwende, wurde die politisch motivierte dauerhafte Umsiedlung zu großen Teilen von vorübergehender Arbeitsmigration abgelöst, nun vor allem aus Zentralasien. Die meisten Beobachter sind der Ansicht, dass eine weitere Immigration ethnischer Russen aus anderen postsowjetischen Staaten wohl kaum in großem Umfang stattfinden wird. Angenommen wird auch, dass "nichteuropäische" Immigration (aus Zentralasien und in der Zukunft vielleicht zunehmend von außerhalb der ehemaligen UdSSR) ein permanentes Phänomen sein werde, auf das mit einer staatlichen Politik zur erleichterten Erlangung eines ständigen Wohnsitzes oder der Staatsbürgerschaft reagiert werden muss, und das das Entstehen einer stärker multikulturellen Gesellschaft erfordert.
Regionale Unterschiede
Die rechtlichen Änderungen der postsowjetischen Zeit haben auch den regulatorischen – lies: restriktiven – Charakter der Wohnsitzregistrierung formal abgeschafft. Bürger Russlands und ausländische Staatsangehörige, die sich legal in Russland aufhalten, haben nun theoretisch das umfassende Recht, sich im Land zu bewegen, zu übernachten und Besuche zu unternehmen, wo sie wollen. Dieser Politikwechsel hat in Kombination mit der Privatisierung staatlicher Unternehmen und dem Ende der meisten Subventionen der Sowjetzeit zu einem massiven Anwachsen Moskaus geführt und (zusammen mit internationaler Migration) der Stadt und einigen anderen Teilen von Russland einen sehr viel stärker multikulturellen Charakter verliehen; die Konzentration ethnischer Gruppen aus Zentralasien und dem Kaukasus ist nun viel größer als zu Sowjetzeiten. Als logische Folge haben Moskau und einige andere Städte nun einen viel größeren Anteil von Einwohnern, die zumindest formal muslimisch sind. Anderenorts haben diese Tendenzen zu einer Umkehr der sowjetischen Bevölkerungsentwicklung geführt, etwa in Sibirien und dem Hohen Norden Russlands, die beide eine beträchtliche Abwanderung ihrer Bevölkerung erlebt haben.
Wenn auch Russlands Migrationspolitik zweifellos liberalisiert wurde, indem sie nicht mehr dermaßen reglementiert und restriktiv war, so war sie dennoch davon entfernt als liberale Migrationspolitik bezeichnet zu werden. Wie erwähnt, bestand für die Bewegungsfreiheit der Bürger Russlands der größte Gewinn darin, dass die Restriktionen bei der Ausreise wegfielen, was zumindest bis vor kurzem in der Praxis wie auch formal Bestand hatte. Bei der Binnenmigration wie auch bei der Immigration ist die Lage weniger eindeutig. Ich habe darauf hingewiesen, dass die Regionalregierungen in Russland de facto – und von der Zentralregierung toleriert – eine vielfältige, restriktive Politik betreiben, durch die die tatsächliche Freizügigkeit sowohl von Ausländern als auch von Bürgern Russlands eingeschränkt wird. Die Motive für eine derartige Politik sind erneut teils wirtschaftlicher, teils (in mehrfacher Hinsicht) politischer Natur. Einige florierende Regionen – vor allem Moskau – haben versucht, die Registrierung neuer Residenten (und somit deren politische, soziale und sogar deren Vertragsrechte) zu beschränken, selbst wenn es sich um Bürger Russlands handelt. Das erfolgte zum Teil aus fiskalischen Überlegungen heraus: In Russland besteht zwischen den Regionen ein Ungleichgewicht bei öffentlichen Leistungen, und Transferzahlungen aus dem Zentralhaushalt reichen nicht aus, die Kosten hierfür vollständig abzudecken, insbesondere in wohlhabenderen Regionen. Manchmal gibt es ethnische Motive für solche Restriktionen.
Moskau und einige andere Regionen haben sich geweigert Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen einen Aufenthaltsstatus zu gewähren, vor allem jenen aus dem Kaukasus und insbesondere Tschetschenen. Und schließlich geht es bei der Einschränkung der Registrierung einfach darum, die Subjekte einer Kontrolle zu unterstellen. Wenn Niederlassungsrechte beschnitten werden können, wird die Lage einer Person (sei sie ein Ausländer oder ein Bürger Russlands) angreifbarer und erhöht auf allen Ebenen die Macht des Staates über ihn oder sie. Darüber hinaus fördert eine restriktive Politik Korruption, und wird ihrerseits von letzterer geprägt. Schmiergelder können bei der Ausstellung notwendiger Dokumente verlangt werden, oder im Gegenteil dafür, dass die Immigrationsvorschriften nicht angewandt oder Kontrollen der Arbeitskräfte nicht durchgeführt werden. Im gleichen Zusammenhang ist der Unwillen vieler Vermieter zu sehen, Mietern eine Registrierung zu geben, weil sie Scherereien und Erpressung durch die Behörden fürchten. Es gibt zwar Hinweise, dass diese Praktiken im 21. Jahrhundert weniger extrem vorhanden sind, verschwunden sind sie jedoch nicht.