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Analyse: Kleines Karo – aber national: Die Botschaft des russischen Präsidenten an die Föderalversammlung am 1. Dezember 2016 | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Kleines Karo – aber national: Die Botschaft des russischen Präsidenten an die Föderalversammlung am 1. Dezember 2016

Hans-Henning Schröder

/ 14 Minuten zu lesen

Wladimir Putin umriss in seiner Ansprache Anfang Dezember die Leitlinien der russischen Politik: Neben der innen- und außenpolitischen Lage sprach er vor allem wirtschaftliche Aspekte an. Wichtige Problemfelder wurden jedoch ausgelassen, urteilt Hans-Henning Schröder.

Einmal im Jahr äußert sich Wladimir Putin in einer Rede an die Föderalversammlung zur Lage der Nation. Das Bild zeigt ihn bei der Ansprache des Jahres 2014. (© picture-alliance/dpa)

Zusammenfassung

Am 1. Dezember ist Präsident Putin mit der alljährlichen "Botschaft an die Föderalversammlung" aufgetreten. Die "Botschaft" des Jahres 2016 gab in vier Blöcken – Ideologie und Innenpolitik, Gesundheits- und Sozialpolitik, Wirtschaft und Wissenschaft, Außenpolitik – einen Überblick über die Tätigkeit der Regierung.

Die "Botschaft" war eine tour d’horizon, die alle Bereiche berührte, eine Reihe relevanter Probleme aber säuberlich aussparte. Politisch setzte die Rede allein auf den Appell an nationale Größe und nationale Einheit. Inhaltlich brachte sie wenig Neues. Die Reaktionen der Medien waren entsprechend: Die Website "politcom.ru" titelte "Die Botschaft der "kleinen Sachen"" und "Wedomosti" schrieb: "Keine Zeit für Sensationen".

"Stagnative Stabilität"

Russlands Herrschaftsarrangement ist Ende des Jahres 2016 stabil. Die politische Führung kontrolliert das Land und wird in der Bevölkerung weithin akzeptiert. Sie hat erfolgreich landesweite Wahlen durchgeführt und solide Mehrheiten in den Vertretungskörperschaften auf föderaler und regionaler Ebene organisiert. Die regionalen Administrationen arbeiten eng mit der Zentrale zusammen, und diese kann sich auf die Unterstützung durch die – wichtigsten –Massenmedien verlassen.

Allerdings gibt es auch Symptome, die auf verdeckte Probleme hinweisen. Die Dumawahlen erbrachten zwar eine deutliche Mehrheit für die regierungsnahe Partei "Einiges Russland", doch war die Wahlbeteiligung niedriger als sonst. In Moskau und St. Petersburg stimmten gerade 30 Prozent der Wahlberechtigten ab, von denen nur zwischen 30 bis 40 Prozent "Einiges Russland" wählten. Das heißt, dass sich in diesen beiden Metropolen lediglich 11–15 Prozent der Wahlberechtigten für die Regierungspartei haben mobilisieren lassen. Offenbar identifiziert sich in den Millionenstädten die Mehrheit der Bevölkerung nicht ohne weiteres mit der Partei, auf die sich die politische Führung stützen muss.

Die Schwäche des politischen Unterbaus könnte problematisch werden, wenn die Kritik an der Führung zunehmen sollte, was angesichts des negativen Wirtschaftswachstums und des Sinkens der Realeinkommen (vgl. Grafiken 1 und 2) möglich ist. Die russische Bevölkerung verfügt im Vergleich mit anderen Ländern in Europa pro Kopf nur über geringe Mittel – selbst in China, der Türkei, Lettland und Estland ist das Pro-Kopf-Vermögen größer als in Russland. Und dieses Vermögen ist auch noch extrem ungleich verteilt (vgl. Grafiken 3 und 4). In dieser sozialen Konstellation ist gesellschaftlicher Konflikt angelegt. In der Tat wird der Unterschied zwischen Arm und Reich in der Öffentlichkeit als gravierendes Problem wahrgenommen (vgl. Grafiken 5 und 6). Dennoch ist im Moment die Protestbereitschaft in der russischen Bevölkerung gering, und es gibt keine organisierte Opposition, die das politische System in Gefahr bringen könnte.

Die Tageszeitung "Wedomosti" hat für diesen Zustand, bei dem die Wirtschaft auf der Stelle tritt, die politische Lage aber trotz latenter sozialer Spannungen sicher vom Zentrum kontrolliert wird, die treffende Formel von der "stagnativen Stabilität" geprägt.

Die "Botschaft" im Überblick

Die russische Politik hat es im Dezember 2016 also mit einer stabilen Lage in Politik und Gesellschaft zu tun, muss aber mit Turbulenzen in den nächsten Jahren rechnen. Darauf könnte die "Botschaft an die Föderalversammlung" eingehen, doch die Erfahrung der Vorjahre hat gezeigt, dass man eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Politik nicht zu erwarten braucht. Dennoch vermittelt die Ansprache eine Vorstellung davon, was die Führung der Administration und der Gesellschaft sagen will – und welche Probleme sie lieber verschweigt.

Die Rede dauerte diesmal 68 Minuten und war damit elf Minuten länger als im Vorjahr. Sie gliederte sich in vier Blöcke: Der erste befasste sich mit innenpolitischen Fragen, der zweite erörterte Einzelbereiche der Sozial- und Gesellschaftspolitik, der dritte ging auf Entwicklungen in Wirtschaft, Geschäftsleben und Wissenschaft ein, und der vierte thematisierte die Außenpolitik.

Der Präsident leitete die "Botschaft" mit einem Block zur inneren Entwicklung Russlands ein. Kern war das Bekenntnis zu "patriotischen Werten" und dem Zusammenhalt des Volkes. Unter diesem Blickwinkel behandelte er die Wahlen und die Rolle der Regierungspartei, er berührte auch kurz das Thema Zivilgesellschaft, um dann auf aktuelle Kontroversen im kulturellen Milieu einzugehen.

Der soziale Block der "Botschaft" behandelte zunächst demographische Fragen und Probleme des Gesundheitswesens. Im Anschluss daran ging der Präsident auf Bildung und Forschung ein und auf die Rolle von karitativen Nichtregierungsorganisationen.

Mit Anmerkungen zur Ökologie und der Straßeninfrastruktur leitete Putin zum Abschnitt Wirtschaft über. Er zählte einige Erfolge auf, forderte aber, die Lösung der grundlegenden Probleme der Volkswirtschaft anzugehen, u. a. durch eine Strukturreform der Industrie und die Förderung des Unternehmertums. Weitere Themen war die Leistungsfähigkeit des Bankensektors, die Digitalisierung und der Ausbau der Wissenschaft.

Den letzten Block der "Botschaft" widmete der Präsident der internationalen Position Russlands. Er stellte eine wachsende Aggressivität anderer Regierungen im Umgang mit Russland fest, bot aber dennoch Zusammenarbeit an, allerdings forderte er einen gleichberechtigten Dialog. Er thematisierte die Integration des Eurasischen Raumes, die Beziehungen zu China und Indien, und formulierte vorsichtig Erwartungen auf eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA, die mit dem Wahlsieg Trumps verbunden waren. Russlands militärische und geheimdienstliche Aktivitäten im Ausland erwähnte er lobend. Mit einem Aufruf an das russische Volk, Selbstvertrauen zu zeigen und für die Zukunft zu arbeiten, schloss er seine Rede.

Die "Botschaft" war eine tour d’horizon, die alle Bereiche berührte, eine Reihe unleidlicher Fragen aber aussparte. Inhaltlich brachte sie wenig Neues. Die Reaktionen der Medien waren entsprechend: die Website "politcom.ru" titelte "Die Botschaft der "kleinen Sachen"" und "Wedomosti" schrieb: "Keine Zeit für Sensationen".

Wirtschaftslage und Handlungsprogramm

Das Thema der Stunde war zweifellos die Wirtschaftspolitik, auch wenn dies in der "Botschaft" erst an dritter Stelle behandelt wurde. Denn von der Überwindung der Wachstumsschwäche der Wirtschaft hängt die Weiterentwicklung der Beziehung zwischen "Macht" und "Volk", zwischen dem Führungskern und der Bevölkerung ab.

Die Aussagen, die der Präsident zur Wirtschaftslage machte, waren zutreffend, blieben aber eher im Allgemeinen. Putin stellte zu Recht fest, dass der Wachstumseinbruch der Jahre 2014–2016 zwar auch auf äußere Faktoren zurückzuführen sei, die Probleme im Kern aber selbst gemacht seien: Es fehle Kapital, technologisches know how, qualifiziertes Personal, der unternehmerische Wettbewerb sei unterentwickelt, der Markt verzerrt. Positiv hob er hervor, dass sich der Rückgang der Wirtschaftsleistung verlangsamte, die Reserven der Zentralbank zugenommen haben und die Inflation deutlich unter den Vorjahreswerten blieb. Das war eine nüchterne Bewertung der Stärken und Schwächen. Für die Zukunft kündigte Putin an, dass man systematisch und genau Entwicklungsziele definieren werde, um Schritt für Schritt die Grundprobleme der russischen Wirtschaft zu lösen.

Was der Präsident dann konkret anzubieten hatte, war eher dünn: Er pries die Fortschritte im Agrarsektor, musste aber zugeben, dass diese durch die Abschottung des russischen Agrarmarktes gegenüber der EU erreicht worden waren, also durch eine protektionistische Handelspolitik. Er lobte die positive Entwicklung der Rüstungsexporte und forderte den Rüstungssektor auf, vermehrt zivile Erzeugnisse auf den Markt zu bringen – ein Konzept, das schon in der Sowjetzeit gescheitert war. Die Unterentwicklung der verarbeitenden Industrie war auf diese Weise nicht auszugleichen. Immerhin konnte der Präsident auf das rasche Wachstum des IT-Sektors verweisen, dessen Exporterlöse 2016 mit 7 Mrd. US Dollar die Hälfte des Werts der Rüstungsexporte erreichte. Er forderte, dass man auch die Exporte der verarbeitenden Industrie erhöhen müsse. Die Regierung solle einen Plan erarbeiten, damit die russische Wirtschaft 2019–20 rascher wachse als die Weltwirtschaft, und um "die Position Russlands in der Weltwirtschaft zu verstärken". Wie dies zu erreichen sei, ließ er offen. Ein Konzept, wie die Produktion der verarbeitenden Industrie gesteigert werden kann, um die Abhängigkeit Russlands von Rohstoffexporten zu senken, entwickelte er in seiner "Botschaft" nicht.

Auch zu der Frage, wie das Unternehmensklima verbessert werden kann, hatte er wenig zu sagen. Immerhin forderte Präsident Putin die Sicherheitsorgane auf, bei der Verfolgung von Wirtschaftsverbrechen die ehrlich arbeitenden Unternehmer nicht unter Druck zu setzen. Damit wiederholte er eine Aussage aus dem Vorjahr, die offenbar nicht gefruchtet hatte. Diesmal sprach er offen an, dass falsche Beschuldigungen fabriziert würden, um Unternehmer unter Druck zu setzen. In der Tat gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen erfolgreiche Unternehmer durch falsche Beschuldigungen vor Gericht gezogen und ihre Unternehmen auf kaltem Wege enteignet wurden. Konkrete Schritte, um dies zu unterbinden, kündigte Putin allerdings nicht an.

Betreffs der Lage der Banken erklärte der Präsident, dass das russische Bankensystem inzwischen in der Lage sei, den Rückgang der Kredite aus dem Ausland zu ersetzen. Er lobte die Säuberung des Bankensystems durch die Zentralbank und die Entwicklung des außerbanklichen Finanzsektors.



Allerdings ging er in diesem Zusammenhang nicht darauf ein, dass das Investitionsvolumen seit 2014 zurückgegangen war, und die Zahlen erst im dritten Quartal 2016 wieder aufwärts zeigten.

Ein weiteres Thema, das der der Präsident anschnitt, war die Innovationsfähigkeit der russischen Industrie und die Anpassung an die neue digitale Wirklichkeit. Er berichtete über die Anstrengungen, die Wissenschaft zu fördern, und verwies auf die "Strategie für die wissenschaftliche Entwicklung Russlands", die jetzt unterzeichnet worden sei. Wie auch in den anderen Passagen zur Wirtschaftspolitik blieb Putin im Ungefähren und ging nicht auf den dramatischen Rückstand des Landes bei Innovationen ein. Die Länderstatistik des Europäischen Patentamts zeigt, dass Russland bei Patentanmeldungen –



ein Indiz für die Innovationsfähigkeit einer Volkswirtschaft – weit hinter den entwickelten Industrieländern zurückgeblieben ist.

Hier besteht also ein ganz erheblicher Reformbedarf. Putin bot in seiner Rede aber kein innovationspolitisches Konzept an.

Der Präsident hat also in seiner "Botschaft" durchaus wichtige Probleme der russischen Wirtschaft benannt, er blieb allerdings unkonkret und ließ viele Themen aus. Er ging nicht auf die Privatisierung von Staatsunternehmen ein. Angesichts des Skandals um die Privatisierung von Baschneft, in dessen Verlauf sowohl der Großunternehmer Jewtuschenkow wie auch Wirtschaftsminister Uljukaew von den Sicherheitsorganen verhaftet wurden, ist diese Zurückhaltung unverständlich. Putin hatte auch nichts zu den off shore-Aktivitäten russischer Konzerne zu sagen. 2012 hatte er noch eine Politik der Deoffshorisierung gefordert; die "Panama Papers", die auch Russland betreffen, waren im Frühjahr 2016 bekannt geworden. Kurz, Putin ließ viele wichtige Themen aus, und er formulierte keine glaubwürdige Strategie, wie die Wachstumsschwäche der Wirtschaft überwunden werden konnte.

Sozialpolitik, Bildung, Zivilgesellschaft und Wissenschaft

Auch die sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen behandelte der Präsident in der "Botschaft" nur in Ausschnitten. Er begann mit der demographischen Entwicklung, bei der Russland mit einer Anhebung der Geburtenrate gewisse Fortschritte erzielt hatte, und ging dann auf die Probleme im Gesundheitswesen ein. Er berichtete von der Entwicklung eines Systems zur Weiterbildung, mit dem die unzureichende Ausbildung mancher Ärzte behoben werden sollte, von der Notwendigkeit, in einem großräumigen Land wie Russland auch die Möglichkeiten der Telemedizin einzusetzen. Putin sprach auch die Kontrolle des Arzneimittelmarkts an und den Ausbau der Luftrettung. All das waren wichtige Projekte, jedoch eher Einzelfragen. Auf die Gesundheitspolitik im Allgemeinen ging er nicht ein.

Von diesem Thema wechselte Putin übergangslos zum Bildungswesen. Er kündigte den weiteren Ausbau an und verbreitete sich über die Aufgabe der Schule, schöpferische, selbständig denkende Menschen zu erziehen und jegliche Talente zu fördern. Ein klares bildungspolitisches Konzept wurde in der "Botschaft" nicht entwickelt.

Etwas länger behandelte der Präsident den Ausbau ehrenamtlicher Initiativen. Der Entwicklung der Zivilgesellschaft in Form von "Nichtkommerziellen Organisationen" (NKOs – das sind praktisch Nichtregierungsorganisationen, NGOs) in der sozialen Sphäre widmete er längere Passagen. Der Ehrenamtlichkeit in der Sozialarbeit maß er in der "Botschaft" große Bedeutung zu. Dies entspricht der in den letzten Jahren zu beobachtenden Tendenz, unpolitische NGOs, die karitative Arbeiten übernehmen, von Staats wegen zu unterstützen und ihnen auch Mittel zur Verfügung zu stellen. Diese Maßnahmen zielen offenbar darauf, die Zivilgesellschaft, soweit sie nicht systemkritisch ist, zu integrieren.

Zum Moratorium bei den Rentenzahlungen, den 2015 gesunkenen Realeinkommen und der ungleichen Vermögensverteilung verlor der Präsident kein Wort.

"…für Russland" – nationale Rhetorik als gesellschaftspolitische Agenda

Dass diese gravierenden Probleme, die den Alltag der Bevölkerung belasten, dem Redner aber wohl bewusst waren, lässt sich an den weltanschaulichen Passagen ablesen, die die "Botschaft" einleiteten. Dort beschwor der Präsident die Einheit des Volkes, seine Bereitschaft, auch unter schwierigen Bedingungen zusammenzustehen und sich um die "patriotischen Werte" zu vereinen. "Die Bereitschaft für Russland zu arbeiten, die herzliche, echte Sorge um Russland, das ist das Fundament dieses Zusammenschlusses." Gerechtigkeit, Wahrheit, Vertrauen, Respekt, Verantwortlichkeit, hohe Moral, Selbstverwirklichung – die Redenschreiber hatten alle diese ideologisch hoch aufgeladenen Begriffe in zwei Absätzen der Rede untergebracht.

Die nationale Rhetorik, die bereits in den ersten Minuten der "Botschaft" massiv eingesetzt wird, beschwört ein nationales Gemeinschaftsgefühl, der Sprecher unterstellt die moralisch-kulturelle Überlegenheit des eigenen Standpunkts und warnt vor einem "schwachen Staat". Denn dieser erlaube Eingriffe von außen und führe zu Abenteurertum, Umsturz und Anarchie. Russland, so die Botschaft, wolle das nicht: "Wir sind ein einiges Volk, wir sind ein Volk und wir haben nur ein Russland".

Nach dem Appell an nationale Geschlossenheit thematisiert Putin einige der öffentlichen Kontroversen der letzten Zeit. Ohne Namen zu nennen, kritisiert er aggressive Ausfälle und Vandalismus, die sich gegen Meinungsäußerungen von Intellektuellen richteten. Keiner, so der Präsident, dürfe es jemandem verbieten, frei zu denken und offen seine Position zu vertreten. Man kann wohl davon ausgehen, dass Putin sich u. a. auf die Raikin-Debatte bezieht (s. Interner Link: Russland-Analysen, Nr. 324, "Aus russischen Blogs"). Zwar kritisiert er die Angriffe der nationalen Rechten auf Künstler wie Raikin, doch er macht zugleich deutlich, dass es im Kern immer darum gehen müsse, die Nation und deren Einheit in den Vordergrund zu stellen. Insofern ist die Versöhnung zwischen "Liberalen" und "Nationalen", zwischen den Kritikern des Status quo und den Vertretern nationaler Politik, die Putin erbittet, nur scheinbar – Putin und sein Umfeld unterstützen inhaltlich die zweite Gruppe. Sie tritt für "traditionelle Werte", für Nation und Familie ein, sie plädiert nur für Einhaltung der Regeln einer zivilisierten Diskussion.

Indem der Präsident seine Zuhörer derart auf nationale Traditionen einschwört, setzt er sich von den Werten ab, die in der Charta der UN (1945), der Schlussakte von Helsinki (1975) und der Charta von Paris (1990) fixiert sind. Er definiert einen nationalen Wertekonsens, der die russische Gesellschaft gegenüber Demokratisierungsanforderungen von außen – z. B. durch OSZE und Europarat – immunisieren soll. Es fällt schwer, diesen Aufruf zur Einigkeit des "Volkes" und den Appell an nationale Gefühle anders zu interpretieren als den Versuch, jeden Protest gegen Ungerechtigkeit und Verschlechterung der Lebensbedingungen von vornherein zu delegitimieren.

Das Lob der Einigkeit, die der Redner auch auf die Dumawahlen bezieht, ignoriert bewusst die laufenden politischen Prozesse. Daher kommentiert Putin weder die niedrige Wahlbeteiligung im September noch die Vielzahl von Ablösungen und Rücktritten von Politikern und hochrangigen Beamten in den letzten Monaten. Insofern bleibt auch der innenpolitische Teil der "Botschaft" unbefriedigend.

Nebensache Außenpolitik

Das gilt ebenso für die Ausführungen zur Außenpolitik. Der Krieg in Syrien wird nur einmal kurz erwähnt, auf die Situation in der Ukraine geht der Präsident überhaupt nicht ein. Von der Krim als Problem russischer Außenpolitik ist nicht die Rede. Europa und die EU werden nicht erwähnt – obwohl Russland nach wie vor über 40 Prozent seines Außenhandels mit der EU abwickelt. Die OSZE und die Zukunft europäischer Sicherheit ist Putin keinen Satz wert. Er stellt Russland als Opfer von Druck und Desinformationskampagnen dar und fordert einen Dialog auf Augenhöhe. Als Hauptrichtungen russischer Außenpolitik definiert die "Botschaft" die Vertiefung der Beziehungen in der Eurasischen Gemeinschaft und im asiatisch-pazifischen Raum. Gegenüber den USA formuliert Putin ganz vorsichtig: Er verzichtet auf Polemik und signalisiert seine Bereitschaft zu einer gleichberechtigten Partnerschaft mit der Trump-Administration. Eine Zusammenarbeit von Russland und den USA bei der Lösung globaler Probleme entspreche, so der Präsident, den Interessen der ganzen Welt. Hier scheint das Selbstbild durch, das immer noch in den Köpfen russischer Politiker herumspukt. Sie sehen sich noch immer als "die andere Supermacht", die in Kooperation mit den USA die Weltprobleme löst. Dass die Welt sich seit 1991 nachhaltig verändert hat, dass international neben den USA nun auch China einen bestimmenden Einfluss hat, dass Russland wirtschaftlich hinter China, den USA, Japan und dem Euro-Raum nur über begrenzte Möglichkeiten verfügt (das russische Bruttoinlandsprodukt ist in etwa auf dem Niveau Italiens), das hat die Führungsgruppe um Putin entweder nicht wahrnimmt, oder sie glaubt, diese Schwäche durch aggressiven Einsatz militärischer Mittel kompensieren zu können.

Vabanque – Hoffen auf Trump und den Ölpreis

Die "Botschaft" des Jahres 2016 entwickelt kein glaubwürdiges gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Konzept für die nächsten Jahre. Politisch setzt die Rede allein auf den Appell an nationale Größe und nationale Einheit.

Das ist angesichts der tatsächlichen Lage erstaunlich. Die dritte Putin-Administration ist in schwieriges Fahrwasser geraten. Die Volkswirtschaft, die in hohem Maße von der Entwicklung auf den Weltmärkten abhängig ist, stagniert derzeit, der Wille zu strukturellen Reformen ist nicht erkennbar. Der letzte Versuch, Medwedews Reformansatz im Jahre 2009, der die vier "I" – Investitionen, Innovation, Infrastruktur, Institutionen – propagierte, ist gescheitert. Die Putin-Administration hat die Ideen der Vorgängerregierung ignoriert – sie nennt die drängenden Probleme noch nicht einmal beim Namen. Die Überwindung des Gegensatzes von Arm und Reich, eine Erblast der Jelzin-Zeit und der Transformation vom Plan zum Markt in den neunziger Jahren, wird nicht diskutiert. Die latenten sozialen Spannungen in der russischen Gesellschaft werden seit 2011/2012 zunehmend durch nationale Rhetorik überspielt. Außenpolitisch ist man bei dem Versuch, in der Ukraine wie in Syrien Prestigeerfolge mit innenpolitischen Rückwirkungen zu erzielen, Risiken eingegangen.

Doch weder im Innern noch im internationalen Raum wird man die jetzige Position lange durchhalten können, wenn sich die Rahmenbedingungen nicht bald ändern. Es scheint, dass man stillschweigend auf das Anziehen der Ölpreise und eine Wende der amerikanischen Außenpolitik unter Trump setzt.

Ein neuerlicher Anstieg der Ölpreise würde zu einer Entspannung der ökonomischen und sozialen Probleme in Russland selbst führen und das Regime mittelfristig stabilisieren. Ein Politikwechsel in den USA, der Russland im Nahen Osten und in Europa größere Spielräume ermöglichen würde, könnte unter Umständen zu einem "Jalta-2" führen, einer Abmachung bei der sich die EU und die USA aus der russischen Interessensphäre zurückziehen und Russland freie Hand im postsowjetischen Raum geben würden. Beide Entwicklungen würden die Risiken rechtfertigen, die die Putinsche Führung 2014 und 2015 eingegangen ist.

Wenn diese beiden Fälle aber nicht eintreten, dann ist die Putin-Administration im Innern und in der Außenpolitik mit großen Problemen konfrontiert. Urteilt man nach der "Botschaft" gibt es gegenwärtig kein Konzept, wie man damit umgehen könnte. Mehr noch, die Putinsche Führung befindet sich offenbar im Umbau, eine Reihe von Schlüsselpositionen sind neu besetzt worden. Ein klares Muster ist noch nicht zu erkennen. Der Präsident selber macht derzeit eher einen lustlosen Eindruck. Das schlägt sich auch in der "Botschaft" wieder, die bei aller nationalen Rhetorik "zusammengeschustert" wirkt und wichtigen Fragen ausweicht. Warum der Präsident darauf verzichtet, die Probleme zu benennen und politische Lösungen zu formulieren, ist unklar. Mag sein, dass es daran liegt, dass eine Wachablösung in der Führungsriege im Gange und noch nicht abgeschlossen ist, so dass die neue Elitenkohorte noch kein Konzept hat. Vielleicht will man die Gesellschaft auch nicht mit den realen Problemen konfrontieren, so lange das nationalistische Placebo wirkt. Und vielleicht hat man ja Glück mit Trump und dem Ölpreis – dann werden sich einige russische Probleme von selbst lösen.

Lesetipps

Presidential Address to the Federal Assembly December 1, 2016, 13:10 The Kremlin, Moscow. Externer Link: http://en.kremlin.ru/events/president/news/53379 [Die Botschaft and die Föderalversammlung in Englisch/ russische Version: Externer Link: http://kremlin.ru/events/president/news/53379]

Fussnoten

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Prof. Dr. Hans-Henning Schröder lehrte am Osteuropa-Institut der FU Berlin "Regionale Politikanalyse mit Schwerpunkt Osteuropa". Er ist der Herausgeber der Russland-Analysen, die er 2003 gemeinsam mit Heiko Pleines gegründet hat.