Am 18. September 2016 haben in Russland über 5.000 Wahlen stattgefunden, darunter die Wahl der Abgeordneten der Staatsduma, in sieben Regionen die Wahl des Oberhauptes, die Wahlen von 39 Regionalparlamenten, in 11 regionalen Hauptstädten die Wahl des Stadtparlaments sowie weitere Kommunalwahlen.
Vertreter der Bewegung "Golos" haben eine Langzeitbeobachtung wie auch eine kurzfristige Wahlbeobachtung durchgeführt. In 40 Regionen wurde eine gesellschaftliche Beobachtung des Verfahrens der Stimmabgabe, der Stimmauszählung in den Wahllokalen und der Feststellung in den übergeordneten Wahlkommissionen durchgeführt. Wir waren in den Regionen Altai, Krasnodar, Krasnojarsk, Perm und Stawropol, den Republiken Baschkortostan, Dagestan, Karelien, Marij-El und Tatarstan, den Städten Moskau und St. Petersburg sowie den Gebieten Astrachan, Wladimir, Wologda, Woronesch, Iwanowo, dem Moskauer Gebiet, den Gebieten Nishnij Nowgorod, Nowgorod, Nowosibirsk, Orjol, Pskow, Rostow, Rjasan, Samara, Saratow, dem Swerdlowsker Gebiet, den Gebieten Twer, Tscheljabinsk, Tomsk, Kaluga und Jaroslawl sowie dem Leningrader Gebiet mit einer Wahlbeobachtung präsent.
"Golos" erhält darüber hinaus über andere Kanäle Informationen aus den Regionen, unter anderem über die Hotline 8 800 333-33-50, die "Karte der Verstöße" Externer Link: www.kartanarusheniy.org, das Internet, Wahlteilnehmer und Partner.
"Golos" lässt sich in seiner Arbeit von den weltweit anerkannten Grundsätzen der Wahlbeobachtung leiten und wahrt als eine der Grundvoraussetzungen für eine unabhängige und objektive Wahlbeobachtung strikt seine politische Neutralität.
Der Wahlkampf
Der Einsatz administrativer Wahltechnologien hat sich vom Wahltag selbst auf frühere Phasen des Wahlprozesses verschoben. Die Ergebnisse der Wahlen wurden bei der überwiegenden Zahl der Wahlen durch die Gesetzgebung, durch Entscheidungen und das Verhalten der amtierenden Regierungen und Wahlkommissionen in der Phase der Nominierung und Registrierung der Kandidaten wie auch in der Wahlkampfphase vorbestimmt. In einer solchen Situation, angesichts eines eingeschränkten politischen Wettbewerbs, steht der Ausgang der Wahlen im Voraus fest und erfolgt am Wahltag lediglich dessen formale "Legitimierung".
Die Verfahren zur Bildung der Wahlkommissionen haben nicht deren Unabhängigkeit gewährleistet. Im Gegenteil: Voreingenommene Leiter von Wahlkommissionen sind durch im Wahlverfahren wenig bewanderte Beamten ersetzt worden, die in enger Verbindung mit der regionalen Exekutive stehen.
Die Sammlung der zur Registrierung von Wahlvorschlägen notwendigen Unterschriften ist diskriminierender Natur. In der vom Gesetz vorgeschriebenen Frist die Anzahl von 200.000 Unterschriften zu sammeln, ist praktisch unmöglich. Bei der Bewertung der Registrierung der Kandidatenlisten der Parteien ist der Umstand hervorzuheben, dass erstmals in der Geschichte der Wahlen zur Staatsduma keine Partei über Unterstützerunterschriften registriert wurde. Ungeachtet des Umstandes, dass im Vergleich zu den letzten Wahlen 2011 die Zahl der Kandidatenlisten sich von 7 auf 14 verdoppelt hat, kann nur bedingt von einer qualitativen Verbesserung des allgemeinen Wettbewerbs gesprochen werden. Viele Parteien, die aufgrund ihrer Mandate in Regionalparlamenten zur Wahl zugelassen wurden, sind keine unabhängigen politischen Akteure mit einer bestimmten Ideologie und verfügen nicht über ein reales Netz regionaler Parteigliederungen. Viele von ihnen stellen polittechnologische Projekte dar, die mit Unterstützung von Regierungsstrukturen geschaffen wurden und in Bezug auf die Opposition als Diskreditierung und als "Spoiler" aktiv sind.
In den Direktwahlkreisen liegt der formale Wert von 9 Kandidaten pro Mandat ungefähr bei dem von 2003, doch kamen die meisten Kandidaten von "kleinen" Parteien, hatten kaum Ressourcen und machten praktisch keinen Wahlkampf. In den Wahlkreisen sind insgesamt 22 selbstnominierte Kandidaten registriert worden, von denen die meisten "technische" Kandidaten waren. Es wurde kein einziger Kandidat einer Partei registriert, für die nicht vergünstigte Bedingungen gelten. Unter anderem haben folgende, bekannte Bewerber, die sich selbst nominiert hatten, die Hürde der Registrierung als Kandidat nicht überwinden können: Andrej Borissow, Roman Wantschugow, Alexandr Sakondyrin, Jewgenij Ischtschenko, Michail Krupin, Alij Totorkulow, Mucharbij Tcharkachow, Maxim Schewtschenko sowie der Bewerber der Partei der Renaissance der Dörfer, Dordschi Badmajew. Wie früher gehörten neben den für gewöhnlich intransparenten Abgleichen mit den Datenbanken des Innenministeriums Bewertungen von Schriftgutachtern zu den wichtigsten Instrumenten bei der Aussortierung ungültiger Unterschriften. Für die Bewertungen wurde keinerlei ernstzunehmende Begründung verlangt.
Die Aufnahme von Personen in die Kandidatenlisten, die Staats- oder kommunale Wahlämter bekleiden, aber nicht die Absicht haben, Abgeordnete zu werden (sogenannten "Lockvögeln") ist zu einer der negativen Erscheinungen von Wahlen in Russland geworden. Die aktuellen Wahlen von 2016 waren da keine Ausnahme. Bei den Wahlen zur Staatsduma war auf der Kandidatenliste von "Einiges Russland" der Vorsitzende der Regierung und 19 Oberhäupter von Regionen zu finden, auf der Liste der KPRF der jüngst gewählte Gouverneur des Gebietes Irkutsk.
Die Einmischung von Amtsträgern, Behörden und Regierungsstellen in die Arbeit der Wahlkommissionen, in den Prozess der Auswahl und Nominierung der Bewerber sowie in die Tätigkeit einiger politischer Parteien ist zu einem festen Merkmal bei der Organisierung und Durchführung von Wahlen in den Regionen Russlands geworden.
Im Laufe der gesamten Wahlkampagne und deren Vorbereitung sind grundlegende Prinzipien der Gleichbehandlung missachtet worden. Zugunsten der Partei "Einiges Russland" wurden staatliche und gesellschaftliche Ressourcen eingesetzt: Gebäude, Räumlichkeiten, Fahrzeuge, Medien, die sich in staatlichem oder kommunalem Besitz befinden. Zu Wahlveranstaltungen mit Kandidaten der Partei sind Studenten und Mitarbeiter öffentlicher Einrichtungen mobilisiert worden. Sowohl während der innerparteilichen Vorwahlen als auch während der eigentlichen Wahlzeit wurden mit Hilfe von Hausverwaltungen und lokalen Selbstverwaltungen usw. Informationen über "Einiges Russland" verbreitet.
Während des Wahlkampfes haben Beamte aller Ebenen wie auch Leiter von Organisationen und Unternehmen unter Ausnutzung ihrer Dienststellung Wahlwerbung für "Einiges Russland" gemacht sowie Untergebene und von ihnen abhängige Personen dazu genötigt, im Sinne eines Wahlsieges zu wirken. Die Partei verfügt auch über einen privilegierten Zugang zu den Medien, während gleichzeitig die Berichterstattung in den Medien über den Wahlkampf und die Arbeit der anderen Parteien wenig informativ war, insbesondere im letzten Monat vor den Wahlen.
Die neue Zusammensetzung der Zentralen Wahlkommission hat versucht, die Situation im Handsteuerungsmodus zu ändern, doch muss bislang konstatiert werden, dass ungeachtet des Umstandes, dass die Bemühungen nicht erfolglos waren und sich in gewissem Sinne positiv auf die Situation ausgewirkt haben, keinerlei institutionelle Änderungen erfolgt sind, die systematisch Missbräuche administrativer Ressourcen verhindern würden.
Der Wahltag
In den Jahren seit den Wahlen von 2011 hat die Regierung verschiedene Schritte mit dem Ziel unternommen, die gesellschaftliche Kontrolle der Wahlen zu schwächen und auf ein Minimum zu reduzieren: Es wurden fünf Organisationen der Bewegung "Golos" zwangsweise in das Register sogenannter "ausländischer Agenten" aufgenommen; es wurden 2014 diskriminierende Gesetzesänderungen verabschiedet, die denjenigen mit einem solchen Status die Arbeit bei Wahlen und eine ausländische Finanzierung verbieten; es wurde für Wahlbeobachter und Journalisten der Zugang zu den Wahllokalen erschwert; es wurden Organisationen und Mitarbeiter von "Golos" durch die Steuer- und die Polizei- und Justizbehörden verfolgt; und es erfolgten Medienattacken in landesweiten Medien. Erst durch die neue Führung begann sich die Haltung der Zentralen Wahlkommission gegenüber gesellschaftlichen Wahlbeobachtern und unabhängigen Experten im letzten halben Jahr zu ändern, während der Druck auf "Golos" von Seiten der anderen Behörden weitergeht.
Am Wahltag ist die Anzahl der unabhängigen Wahlbeobachter im Vergleich zu den Wahlen von 2011 auf die Hälfte gesunken.
Die Ergebnisse der Wahlbeobachtung vom 18. September belegen, dass der Einsatz gesetzeswidriger Methoden am Wahltag selbst fortgeführt wurde, wenn auch in etwas geringerem Maße als noch 2011.
In einer Reihe von Wahllokalen sind unmittelbare Fälschungen festgestellt worden: Einwurf mehrerer Stimmzettel; Stimmabgabe per "Karussell" sowie Verstöße aufgrund von Druck von Vorgesetzten auf untergebene Wahlberechtigte; rechtswidrige Wahlwerbung; Herankarren von Wählern; Verletzung der Rechte von Wahlbeobachtern, Mitgliedern von Wahlkommissionen und Medienvertretern; Verstöße gegen Vorschriften beim Stimmauszählungsverfahren.
Bei der Hotline der Bewegung "Golos" (8 800 333-33-50) und dem Dienst "Karte der Verstöße" (www.karta narushaniy.org) gingen 1798 Berichte und Meldungen über mögliche Verstöße ein. Die eingegangenen Meldungen wurden an die Zentrale Wahlkommission weitergeleitet.
Zu den am weitesten verbreiteten Meldungen am Wahltag gehören insbesondere Verstöße bei der Stimmabgabe aufgrund eines Wahlscheins, Stimmabgabe außerhalb des Wahllokals ("zu Hause") rechtswidrige Stimmabgabe (342), Verfahrensverstöße (400), Verletzung der Rechte von Wahlbeobachtern, Mitgliedern von Wahlkommissionen und Medienvertretern (290), rechtswidrige Wahlwerbung (181); Verstöße gegen die Vorschriften bei der Feststellung des Wahlergebnisses, Fälschung von Wahlergebnissen (162), Verstöße bei der Einrichtung des Wahllokals (138), Nichteintragung ins Wählerverzeichnis, Verweigerung der Stimmabgabe (134) Nötigung von Wählern, Verletzung des Wahlgeheimnisses (109).
Von Einwürfen mehrerer Stimmzettel in einer Reihe von Wahllokale sind aus folgenden Regionen Meldungen eingegangen: Moskau, Gebiet Rostow, Moskauer Gebiet, Region Stawropol, Gebiet Woronesch, Republik Baschkortostan, Gebiet Samara, Gebiet Kostroma, Republik Tatarstan, Region Krasnojarsk, Gebiet Rjasan, St. Petersburg, Gebiet Kaliningrad, Gebiet Saratow, Gebiet Tscheljabinsk, Republik Dagestan. In Rostow am Don, im Gebiet Nischnij Nowgorod und der Region Krasnojarsk sind Einwürfe mehrerer Stimmzettel durch die offizielle Videoüberwachung in den Wahllokalen festgehalten worden.
Meldung über "Karusselle" sind hauptsächlich aus Moskau und der Region Altai eingegangen.
Massenhafte Stimmabgabe aufgrund von Wahlscheinen waren in Moskau zu beobachten. Zum Transport wurden Busse eingesetzt. Aus 70 Wahllokalen gingen Beschwerden ein, dass dort Wähler in großen Gruppen erschienen seien. Bereits vor dem Wahltag hatten sich Bürger beschwert, dass sie von Seiten des Arbeitgebers zur Beantragung eines Wahlscheins gedrängt würden. Es lässt sich mit Grund bezweifeln, dass diese Bürger freiwillig zur Wahl gingen.
Aus einer Reihe Regionen gab es Berichte über rechtswidrige Wahlwerbung. Hier wären Moskau, das Moskauer und das Swerdlowsker Gebiet hervorzuheben.
Im Unterschied zu den Wahlen 2011 ist die Zahl der Verstöße hinsichtlich des Zugangs von Beobachtern zu den Wahllokalen wie auch hinsichtlich der Fälle, in denen sie rechtswidrig aus dem Wahllokal verwiesen werden, erheblich zurückgegangen.
Eine künstliche Verzögerung des Verfahrens der Stimmauszählung, der Unterzeichnung der Ergebnisprotokolle und der Herausgabe von Kopien der Protokolle erfolgte in einer Reihe von Wahllokalen in Moskau, St. Petersburg, im Moskauer Gebiet und in Saratow.
"Golos" hat am Wahltag die verschiedenen Beispiele von Verstößen dieser Art in seinen Publikationen, in der Wahltagchronik, den Pressemitteilungen der Regionalen Abteilungen, den Videobotschaften aus dem Callcenter, und der "Karte der Verstöße" veröffentlicht.
Schlussfolgerungen
Auch wenn das Niveau der Verstöße bei diesen Wahlen niedriger war als im Jahr 2011, ist die Zahl festgestellter Verstöße während des Wahlkampfes als groß zu bezeichnen.
Die Wahlen wurden durch den ungestraften Einsatz administrativer Technologien diskreditiert, was sich negativ auf den Verlauf der Wahlen niedergeschlagen hat, diese zu nicht freien und nicht gleichen macht und letztlich den Ausgang verfälscht. In den Medien dominierte nach wie vor "Einiges Russland". Administrative Ressourcen wurden weiterhin in allen ihren traditionellen Formen eingesetzt (indirekte Wahlwerbung für "Einiges Russland" und regierungsfreundliche Kandidaten, Behinderung des Wahlkampfes oppositioneller Parteien oder Kandidaten usw.). Andererseits hat es weniger grobe, direkte Fälschungen gegeben, als im Jahr 2011. Das Niveau des missbräuchlichen Einsatzes administrativer Ressourcen war in den Regionen unterschiedlich.
Die Bewegung "Golos" kommt bei der Bewertung der Wahlen von 2016 zu dem Schluss, dass die Wahl der Abgeordneten der siebten Staatsduma der Föderalen Versammlung der Russischen Föderation weit davon entfernt ist, wirklich frei und fair genannt zu werden.
Die verringerte Zahl der Wahllokale, in denen unabhängige Beobachter präsent waren und der Umstand, dass dabei einzelne Fälle von Einwürfen zusätzlicher Stimmzettel, "Karusselle" (mehrfache Stimmabgabe in mehreren Wahllokalen), Stimmabgabe unter Druck sowie andere Verstöße festgestellt wurden, belegen, dass diese Methoden nicht beseitigt sind und aktiv eingesetzt wurden. Die Abstimmung vom 18. September 2016 unterscheidet sich dabei positiv von den Wahlen 2011, da es weniger Verletzungen der Rechte von Wahlbeobachtern (Verweis aus dem Wahllokal, Behinderung der Bewegungsfreiheit im Wahllokal, Verhinderung von Foto- und Videoaufnahmen) und eine umgehende und beharrliche Reaktion durch die Zentrale Wahlkommission Russlands gegeben hat. Gleichwohl ist es wegen der Verstöße und Mängel während des Wahlkampfes nicht gelungen, die Apathie der Wahlberechtigten zu überwinden.
Vor dem Land liegt ein langer Weg der Reform der Wahlgesetzgebung, der Neujustierung des Wahlsystems sowie der Wiederherstellung des Vertrauens in Wahlen.
Übersetzung aus dem Russischen: Hartmut Schröder