Am 7. Juli hat Präsident Wladimir Putin ein umstrittenes "Antiterror"-Gesetzespaket unterzeichnet, das die Duma am letzten Sitzungstag vor den Wahlen im September im Eiltempo verabschiedetet hatte. Die Gesetzesänderungen verschärfen die meisten Paragraphen des Strafgesetzbuches für extremistische und terroristische Delikte und führen neue Strafen ein, so zum Beispiel für das Nicht-Anzeigen von schweren Verbrechen. Das "Antiterror"-Gesetzespaket war von der Vorsitzenden des Sicherheitsausschusses Irina Jarowaja und dem Vorsitzenden des Sicherheits- und Verteidigungsausschusses des Föderationsrats,Viktor Osjorow, entworfen und mit den Stimmen der Fraktionen "Einiges Russland" und "Gerechtes Russland" gebilligt. Die Kommunistische Partei und die LDPR stimmten dagegen. Das Gesetzespaket von Jarowaja und Osjorow (in Russland auch als Jarowaja-Paket bekannt) wurde auch von einigen "systemischen" Politikern kritisiert. Vor allem die Gesetzesänderungen zur Vorratsdatenspeicherung sorgten für Empörung, da sie den Geheimdiensten uneingeschränkten Zugang zu Telefonaten, E-Mails, Datenübertragung in sozialen Netzwerken und Messengerdiensten gewährt. Vertreter von Mobilfunk- und Internetanbietern sowie einige Beamte des Telekommunikationsministeriums warnten zudem vor einer Verdoppelung der Preise, da die Unternehmen dem neuen Gesetz zufolge die Kosten für die Speicherung des Datenverkehrs für einen Zeitraum von bis zu 6 Monaten tragen sollen. Die Autorin des Gesetzespakets weist in einem Interview mit dem russischen Nachrichtensender "Rossija 24" alle Vorwürfe zurück und betont, es seien viele falsche Informationen über das Gesetz im Umlauf gewesen. Die Gegner werfen dem Kreml hingegen vor, das Gesetz über Massendatenspeicherung schränke nicht nur die Rechte der Bürger ein, sondern sei auchaus technischen und wirtschaftlichen Gründen unmöglich umzusetzen. Zu diesem Thema äußerten sich unter anderem der Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow, der Chefredakteur von "Inliberty" Andrej Babitski, der Vorsitzende des Vereins "Offiziere Russlands" Anton Zwetkow und die Oppositionspolitiker Leonid Wolkow ("Vereinigung für Internetfreiheit") und Alexej Nawalnyj ("Stiftung für Korruptionsbekämpfung"). Die meisten kremlnahen Experten und Politologen hielten sich bei diesem Thema auffällig zurück.
Jarowaja: Es wurden viele falsche Informationen und Lügen über das Gesetz verbreitet
"Das Gesetz schlägt nicht vor, Informationen zu speichern. Verstehen Sie das bitte. Ich möchte, dass das die Bürger Russlands zu hören bekommen. Das Gesetz gibt der Regierung der Russischen Föderation nur das Recht, sich innerhalb von zwei Jahren entscheiden zu können: Soll etwas gespeichert werden oder nicht? In welchem Umfang? Welchen Teil der Informationen? Das heißt, das Gesetz reguliert diese Fragen überhaupt nicht. Das Gesetz legt nur die Befugnisse der Regierung fest, damit die sich entscheidet. Dabei beschränken wir die Regierung bei der Entscheidungsfindung dadurch, dass wir sagen: Wenn Sie Prozedere, Fristen, Bedingungen der Speicherung festlegen werden, darf die Entscheidung einen Zeitraum von 0 bis 6 Monaten betreffen. Das heißt, das können 12 oder 24 Stunden sein. Also sind das Fragen, die man berechnen und technisch sicherstellen muss. […]
Deswegen ist eine andere Frage interessant. Ich habe z. B. darauf geachtet, wer die Quelle der Fehlinformationen ist. Das ist sehr interessant. Das beantwortet einiges. […]
Das war Herr Gudkow, Ponomarjow, der Medschlis der Krimtataren, das war Herr Durow. Es ist für mich völlig klar, dass unsere Zielsetzung natürlich nicht mit deren Zielsetzung übereinstimmt. Weil das jene Leute sind, die in die USA fahren, um unser Land zu diskreditieren, und sich tatsächlich Mühe geben, um in Russland Sicherheitsfragen abzuwerten – wir haben eine andere Aufgabe. Und hier besteht eindeutig ein Unterschied der prinzipiellen Interessen. Deswegen glaube ich, dass diese systematische Desinformation, die organisiert wurden, um bei den Menschen die Illusion zu erzeugen, dass etwas teurer werden soll, dass es einen Zugang zu privater Information geben soll – das ist absolut nicht wahr.[…]"
Irina Jarowaja am 5.7.2016 in einem Interview für "Rossija 24"; Externer Link: http://www.vestifinance.ru/articles/72602.
Gudkow: Willkommen in der neuen Welt mit teurem Internet, Gefängnissen für Kinder, totaler Überwachung und Haftstrafen fürs Nicht-Anzeigen.
"Das war’s; Putin hat das Gesetzespaket von Jarowaja/Osjorow unterzeichnet. Sei gegrüßt, schöne neue Welt mit teurem Internet, Gefängnissen für Kinder, totaler Überwachung und Haftstrafen fürs Nicht-Anzeigen.
Wer hatte daran gezweifelt, dass es so kommen wird – die "Sonderabgeordnete" Jarowaja bringt nicht einfach so Gesetze ein.
Ich sage nur eins: Wenn Sie nicht wollen, dass solche Gesetze entstehen, wenn Sie wollen, dass dieses Gesetz abgeschafft wird, dann gehen Sie zur den Wahl. Eine andere Möglichkeit, das Leben im Lande in Ordnung zu bringen, haben wir nicht."
Dmitrij Gudkow am 7.7.2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/dgudkov/posts/1166227776751994.
Babizkij: Träumerei von nationaler Sicherheit
"Das Gesetz über die Speicherung der Daten von Internetnutzern gehört zu denjenigen Gesetzen, die man nur als irgendein abgefahrenes Experiment deuten kann. Es ist derart grotesk, unbegründet und unerfüllbar, dass selbst die an alles gewöhnten Bürger Russlands sicher sind, dass es schon irgendwie gut gehen wird. Vielleicht wird der Präsident es nicht unterschreiben oder er wird es unterschreiben, und es geht dann im Kreml verloren,oder es wird sich von selbst in Luft auflösen. Es ist doch Unsinn, das ganze Gelaber, das die Einwohner des Landes untereinander austauschen, jahrelang anzuhäufen. Es ist doch unmöglich, 20 Millionen FSB-Offiziere irgendwo herzubekommen, um in dieser Riesen-Lawine digitaler Informationen nach Gefahren für die nationale Sicherheit zu suchen. Unmöglich ist es auch, im Jahr 2016 die Telekommunikationsbranche in einem Land von 17 Millionen Quadratkilometern einfach so zu vernichten. Der Grad des Wahnsinns dieses Gesetzes ist derart groß, dass die Abgeordneten mit demselben Erfolg über einen Text hätten abstimmen können, der in Altbirmesisch verfasst ist; die praktischen Folgen wären die gleichen.
Nichts aber lässt in dem Gesetz das Spiel eines übergeschnappten Hirns, eine freundschaftliche Charade oder eine soziale Performance vermuten. Es ist das ehrliche Arbeitsergebnis von Menschen, die für unsere Sicherheit verantwortlich sein sollen. Der Gesetzesentwurf wurde von der Vorsitzenden des entsprechenden Ausschusses eingebracht und – da sind sich die Experten einig – nicht ohne Hilfe der Leitung der Geheimdienste entworfen. Die denken ganz ehrlich, dass auf diese Weise die Sicherheit gewährleistet werden kann.
Gleichzeitig wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, das aus dem Schoß der Sicherheitsdienste stammt: das Verbot eines Einsatzes von genmanipulierten Organismen. In der Begründung werden keine Gründe für die Notwendigkeit einer Verabschiedung des Gesetzes angegeben, sondern nur, dass es in der Folge einer längst vergangenen Sitzung des Sicherheitsrats im Jahre 2014 entworfen wurde. Das Gesetz hatte ein schweres Los, wurde aber letztendlich angenommen – in den letzten Tagen werden alle Träume der "Silowiki"-Lobby Wirklichkeit. […]
Es ist sehr schlecht, dass die "Silowiki" gegen eine nicht existierende Gefahr kämpfen, vor allem deshalb, weil sie dadurch nicht gegen reale Gefahrenv orgehen können. Vielleicht möchten die Bürger Russlands ja, dass es im Land weniger Gewalttaten und Terroranschläge, keine Korruption und Revolutionen gibt. […] Wenn Russland, Gott bewahre, eine Revolution drohen sollte, könnten die Sicherheitsdienste diese nicht verhindern. Sie wären mit dem Krieg gegen die Tomaten beschäftigt.
Andrej Babitskij am 1.7.2016 bei "Wedomosti"; http://www.vedomosti.ru/opinion/columns/2016/07/01/647558-grezi -natsionalnoi-bezopasnosti.
Zwetkow: Es ist nicht so schlimm, wenn Mobilfunkanbieter für die Sicherheit der Bürger zahlen
"Das Gesetz ist richtig und "Arbeit, um Vorsprung zu gewinnen"; es ist eine Antwort auf die modernen Herausforderungen und Bedrohungen. Zweifellos läuft eine intensive PR- und Lobby-Kampagne von Mobilfunkanbietern, die keine zusätzlichen Kosten tragen möchten. Man kann sie verstehen: Ihre Sache ist es, Geld zu verdienen. Andererseits ist es nichts Schlimmes, wenn sie einen Teil ihres Gewinns unmittelbar für die Speicherung von Daten aufwenden, die wichtig sind, um die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten. […]
Anton Zwetkow am 7.7.2016 in einem Interview der "Iswestija"; Externer Link: http://izvestia.ru/news/621300.
Wolkow: Das ist ein Schritt gegen Messenger
"Putin hat nicht nur das Jarowaja-Paket unterschrieben, er hat außerdem den FSB der Russischen Föderationangewiesen (ich zitiere) "ein Verfahren zur Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien zur Datenübermittlung im Internet auszuarbeiten, wobei ein Verzeichnis der zu zertifizierenden Technologien zu erstellen ist, sowie das Verfahren zur Übergabe der Schlüssel an die für die Sicherheit in der Russischen Föderation zuständige Behörde festzulegen." (also an den FSB).
Sie geben ganz offen zu, worin das Ziel des Jarowaja-Pakets besteht. Es ist vor allem ein Feldzug gegen Messenger-Dienste, ein Versuch, ein vollständiges System zur Überwachung der Korrespondenz über Messenger und soziale Netzwerke zu schaffen. Dafür muss ein bestimmtes "neues" Zertifizierungssystem für Verschlüsselungstechnologien geschaffen und das Sammeln der Schlüssel organisiert werden (das ist technisch unmöglich, aber wen interessiert das schon!).
Leonid Wolkow am 7.7.2016 auf Facebook; Externer Link: https://www.facebook.com/leonid.m.volkov/posts/1125592744130024.
Nawalnyj: Unterschriften gegen Verrat und Sabotage
"Das Jarowaja-Paket ist nicht einfach nur eine Sammlung schlechter und schädlicher Gesetzesentwürfe. Es ist ein verräterischer Akt gegen unser Land und eine Sabotage gegen die Wirtschaft, die Bürger und die Unternehmen.
Durch das Gesetzespaket wird Telekommunikation teurer und schlechter. Die Unternehmer verlieren Einnahmen, die Mitarbeiter Geld – wir alle werden tiefer in die Taschegreifen müssen.
Und das ist nicht nur die Überlegung eines Couch-Analytikers; das ist die Meinung der Unternehmen selbst, darunter auch von Staatsunternehmen.
Die Telefonate und die private Korrespondenz aller werden komplett aufgezeichnet und zum Objekt eines einfachen Zugriffs sowohl durch die Gauner aus den Geheimdiensten als auch durch normale Gauner, die Ihnen aus kommerziellen Motiven oder einfach aus Neugier nachspionieren wollen.
Deswegen muss man sich gegen das "Jarowaja-Paket" einsetzen, dagegen demonstrieren und Unterschriften sammeln.[…]"
Alexej Nawalnyj am 11.7.2016; Externer Link: https://navalny.com/p/4950/.