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Aus russischen Blogs: Freude und Enttäuschung nach dem Sieg der Krimtatarin beim ESC | Russland-Analysen | bpb.de

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Aus russischen Blogs: Freude und Enttäuschung nach dem Sieg der Krimtatarin beim ESC

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Das Siegerlied des diesjährigen Eurovision Song Contests sorgte für eine politisch aufgeladene Debatte, nicht zuletzt in Russland, welches den dritten Platz bei dem Musikwettbewerb belegte.

Die ukrainische ESC-Gewinnerin Dschamala performt den Siegtitel "1944" im Palast Ukrajina (© picture-alliance/dpa)

In der Nacht zum 15. Mai hat die ukrainische Sängerin Dschamala mit dem Lied "1944" über die Deportation der Krimtataren durch Stalin den "Eurovision Song Contest" in Stockholm gewonnen. In der Ukraine hat der Sieg der Krimtatarin politische Bedeutung bekommen. Nach der Rückkehr in Kiew wurde Dschamala von Präsident Petro Poroschenko empfangen und mit dem Titel "Volkskünstlerin der Ukraine" geehrt. Die Kürung der Siegerin erfolgte in Stockholm durch ein zweiteiliges Verfahren, bei dem die Punkte der Juroren und die der Fernsehzuschauer getrennt voneinander verkündet und am Ende zusammengezählt wurden. Der russische Popstar Sergej Lasarew erreichte dabei in der Abstimmung durch die Fernsehzuschauer die meisten Stimmen und die australische Sängerin Dami Im erhielt die höchste Note der professionellen Juroren. In der Gesamtwertung lag dann aber die Ukrainerin an erster Stelle. Viele Fans des Popmusik-Wettbewerbs waren aus diesem Grund mit dem ESC-Ergebnis unzufrieden. Mehr als 300.000 Menschen haben im Internet eine Protestpetition unterschrieben. Besonders negativ wurde der Sieg der Ukrainerin in der "patriotischen" Öffentlichkeit Russlands aufgefasst. Der Blogger Alexander Gornyj von der Krim spricht auf der Seite von "Echo Moskwy" von einer "billigen Provokation" durch Europa. Konstantin Kossatschow, Senator und Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten, bedauert eine "antirussische politische Orientierung" der internationalen Juroren und betont, das ESC-Ergebnis sei nichts weniger als eine Niederlage für die Ukraine, für Europa und für den Minsker Prozess. Der Kolumnist der Boulevard-Zeitung "Komsomolskaja Prawda", Andrej Wasin, fragt sich, warum Dschamala über die Deportation gesungen hat und dabei die Kollaboration der Krimtataren mit Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg nicht erwähnt. Der Politologe Alexander Schmeljow äußert auf Facebook seine Hoffnung, der Sieg der Ukrainerin könne zu einem Bewusstseinswandel der Russen bezüglich der Ukraine beitragen. Die Journalistin Marianna Maksimowskaja, die im Sommer 2014 nach der Schließung ihrer kritischen Nachrichtensendung "Woche" auf REN-TV das Fernsehen verlassen hat, weist auf Facebook darauf hin, dass Sergej Lasarew die höchste Note von den ukrainischen Fernsehzuschauern bekam und Dschamala die höchste von Russland, was vor allem eine eindeutige Niederlage der Propaganda bedeute.

Maksimowskaja: Die Propaganda hat verloren

"Nein, das Leben ist definitiv wundersamer als man es sich ausmalen könnte! Selbst im Alptraum hätten sich die Propagandisten nicht vorstellen können, dass die Juroren aus Russland und der Ukraine einander keinen Punkt geben, die Zuschauer der verfeindeten Länder beim europäischen Wettbewerb sich aber gegenseitig die höchsten Noten geben. So kam es aber! Das ist eigentlich alles, was ich persönlich zurzeit von der Politik wissen möchte."

Marianna Maksimowskaja am 15. Mai auf Externer Link: Facebook

Wasin: Warum hat Dschamala nicht von den Kollaborateuren unter den Krimtataren gesungen, die es im Zweiten Weltkrieg gegeben hat?

"Lasst uns aber den Sieg der ukrainischen Sängerin Dschamala, die über die Deportation der Krimtataren im Jahr 1944 gesungen hat, noch von einer anderen Seite betrachten.

Zunächst zum Lied. Der Text geht so: Es waren einmal Krimtataren auf der Krim (als ob es dort keine anderen Völker gegeben hätte) und dann kamen die Sowjets und ließen alle deportieren. Ich will weiß Gott nicht Stalin rechtfertigen und das ganze Volk der Krimtataren anschwärzen. Aber vor dem Mai 1944, von dem Dschamala gesungen hat, gab es auch eine massenhafte Fahnenflucht von Krimtataren aus der Roten Armee, und freiwillige Meldungen bei den faschistischen Legionen, als die Deutschen auf der Halbinsel herrschten… Hätte man nicht der historischen Genauigkeit halber eine Strophe diesem Thema widmen müssen? […]"

Andrej Wasin am 15. Mai bei Externer Link: kp.ru

Gornyj: Billige Provokation

"[…] Europa ist bezüglich der Tragödie im Donbass blind, reagiert aber lebhaft auf das, was man gegen Russland "schaukeln" kann. Lasarew hätte ein Lied über die Tragödie im Donbass singen sollen, darüber, wie in unserer Zeit die ukrainischen Freiwilligen-Bataillone "Asow" und "Ajdar" usw. friedliche Städte und ihre Bevölkerung bombardiert und vernichtet haben. Wie das alles vom derzeitigen ukrainischen Regime gedeckt wurde und das mit europäischem OK. Wir haben das aber nicht gemacht, wir zogen mit geöffnetem Herzen in den Wettbewerb; aber man hat uns wieder in die Seele gespuckt, in die russische Seele, die schon derart viele Beleidigungen und Anschuldigungen erfahren hat, dass es auf Jahre im Voraus reicht. Wir aber meckern nicht, wir politisieren nicht, wir leben einfach und können verzeihen.

Ich bin überzeugt, dass Russland den nächsten Wettbewerb, der in der Ukraine stattfindet, boykottieren sollte. […]

Für die Krim ist es eine besondere Geschichte. Ich habe heute keine jubelnden Tataren gesehen, und warum? Sie leben ruhig auf der Krim und schauen mit Zuversicht in die Zukunft. Natürlich sollte man aus der Geschichte lernen und einfach weiterleben, aber nicht in den Herzen der Tataren Schmerz schüren.

Die Leute auf der Krim, mit denen ich mich gestern unterhalten habe, haben den Ausgang des ESC so zusammengefasst: billige Provokation.

Inzwischen ist in der Ukraine alles vorbereitet, um Dschamala mit dem Titel "Volkskünstlerin der Ukraine" auszuzeichnen. […] Und Jazenjuk hat vor Freude einen hysterischen Anfall bekommen, und prophezeit dabei eine baldige Rückkehr der Krim zur Ukraine. Das ist schwierig zu kommentieren… Die Menschen haben den Bezug zur Realität verloren… Die Krim ist für immer in den Heimathafen zurückgekehrt. […]"

Alexander Gornyj am 16. Mai bei Externer Link: Echo Moskwy

Kossatschow: Die Ukraine hat verloren, Europa hat verloren, alle haben verloren

"[…] Verloren hat die Musik, weil offensichtlich nicht die beste Komposition gewonnen hat. Das heißt, die Komponisten, Künstler und ihre Teams haben sich die Mühe umsonst gemacht.
Verloren hat der Wettbewerb, weil anstatt eines fairen Wettbewerbs politische Orientierungen triumphiert haben.

Verloren hat Europa. In den Köpfen der Europäer hat wohl nicht die vereinigende "Ode an die Freude", sondern ein offener "Kalter Krieg" gewonnen.

Verloren hat der Minsker Prozess; und übrigens auch die Bemühungen des Teams von Präsident Poroschenko. Das hatte es ohnehin schwer gehabt, eine notwendige Mehrheit zur Verabschiedung der vorrangigen Punkte von Minsk auf die Beine zu stellen: der Gesetze über die Dezentralisierung, eine Amnestie usw. Jetzt gibt es noch weniger Anreize: Warum sollte man Gesetze ändern, Vereinbarungen treffen, wenn "Europa mit uns" ist; "Der Westen wird uns helfen"?

Genau deswegen hat die Ukraine verloren. Und keineswegs nur ihr leidgeprüftes Budget. Denn das Wichtigste, was das Land und die Nation jetzt wie die Luft zum Atmen braucht, ist Frieden. Gewonnen hat aber der Krieg. Bis zum bitteren Ende.

Deswegen hat das Ergebnis der Eurovision nicht nur einfach enttäuscht. Wer für Dschamala stimmte, hat im Grund genommen für die Fortsetzung von Kiews Repressionen gegen das eigene Volk gestimmt. Auch Jazenjuk hat sich hervorgetan: "Die Ukraine gewinnt und wird gewinnen, die Krim wird ukrainisch!" […]"

Konstantin Kossatschow am 15. Mai auf Externer Link: Facebook

Schmeljow: Hoffentlich wird der Sieg von Dschamala zum Bewusstseinswandel der einheimischen "Spießer" bezüglich der Ukraine beitragen

"Ich schaue keine Eurovision, überhaupt ist mir Pop-Musik egal, aber das Leiden der Revanchisten verschafft mir Genugtuung […]. Diese Ereignisse sind für den Bewusstseinswandel der vaterländischen "Spießer" (Menschen, die kein großes Interesse an der Politik haben) von großer Bedeutung, für diejenigen, denen man die ganzen letzten zwei Jahre erzählt hat, die Ukraine sei ein failed state, "diesen Staat gibt es nicht mehr", "dort herrscht überall Chaos und Anarchie"…, um somit jede mögliche Gemeinheit gegenüber diesem Territorium zu rechtfertigen. Vielleicht werden die "Spießbürger" aufgrund besonderer "unpolitischer Fakten" […] damit beginnen, darüber nachzudenken, dass solche Erzählungen mit der Realität nichts zu tun haben […]"

Alexander Schmeljow am 15. Mai auf Externer Link: Facebook

Ausgewählt und eingeleitet von Sergey Medvedev, Berlin

(Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)

Die Russland-Analysen werden von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen und der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde erstellt. Die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb veröffentlicht sie als Lizenzausgabe.

Fussnoten