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Dokumentation: openDemocracy: Warum wir keine Artikel über Putin publizieren | Russland-Analysen | bpb.de

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Dokumentation: openDemocracy: Warum wir keine Artikel über Putin publizieren

Maxim Edwards Tom Rowley Natalia Antonova Mikhail Kaluzhsky

/ 6 Minuten zu lesen

Laut der Internetplattform "openDemocracy" versteift sich die westliche Berichterstattung über Russland auf den Präsidenten Wladimir Putin. Um Russland besser zu verstehen sollte man sich mehr mit den unterschiedlichen Regionen auseinanderzusetzen.

Der russische Präsident Wladimir Putin im Fokus einer Kamera. (© picture-alliance/dpa)

Mainstream-Medien im Westen und in Russland sind auf den russischen Präsidenten fixiert. Wir erläutern, warum wir es nicht sind. Falls Sie es nicht bemerkt haben sollten: Wir publizieren keine Artikel über Wladimir Putin. Zumindest nicht regelmäßig. Im vergangenen Jahr hat "openDemocracy – Russia and Beyond" (oDR) nur drei Artikel über Russlands führenden Mann veröffentlicht. Wenn Sie diese Ziffer mit denen der meisten Websites vergleichen, die zu den Entwicklungen im postsowjetischen Raum publizieren, oder gar mit denen der inländischen Nachrichtenportale, ist das sehr wenig.

Hierfür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst sind in der Presse – sei es die Londoner oder die Moskauer – mehr als genug Beiträge über das Tun und die Vorstellungen von Wladimir Putin zu finden. Die Regionen Russlands hingegen werden weitgehend ignoriert oder bevormundet. Putin ist wichtig. Über die vergangen 15 Jahre hinweg hat er eine dominierende Position in Russlands politischer Ökonomie eingenommen (und ist ihm eine solche Rolle gegeben worden). Der Name "Putin" ist symbolisch geladen mit Stabilität, einem wiedererwachenden Russland. Der Effekt ist, dass man Russland ohne ihn nicht verstehen kann.

Wir bei oDR sind daran interessiert davon zu berichten, was von den Mainstream-Medien (sowohl in Russland als auch außerhalb des Landes) liegen gelassen wird.

1. Wir meinen, die Konzentration auf Putin verdeckt einen Mangel an Kenntnis.

In ihrem Buch "The Putin Mystique" beschreibt Anna Arutunyan eine Begegnung mit dem russischen Präsidenten. "Ich hatte seinen starren, trostlosen Aluminium-Blick ganze dreißig Sekunden lang zu ertragen. Ich fand dort keine Seele, überhaupt nichts "interessantes" ", erinnert sie sich. "Tatsächlich war das Eheste was ich sah, als er mich einige Momente wie ein Tapetenmuster angestarrt hatte, nachdem sein gelangweilter, ungeduldiger Blick durch den ganzen Raum gehuscht war, eine Reflexion von dem, was auch immer ich sehen wollte."

Das Buch "The Putin Mystique" endet nicht mit seiner Hauptfigur. Die Autorin konzentriert sich stattdessen auf ein politisches System, das eine Sakralisierung der Staatsmacht und ihrer Personifizierung möglich macht. Kurz gesagt, Russlands endemische Korruption und ein tief verwurzelter patrimonialer Staat sind der felsenfeste Grund, auf dem das System ruht. Und den gab es schon vor Putin. Putin mag kein Präsident sein, der bloß reagiert, wie es Michail Sygar in seinem jüngsten Buch "Endspiel" schreibt – er hat Glauben, Überzeugungen und einen Regierungsstil – aber er ist eher Schlichter in einem komplexen System von checks und balances in den Eliten als ein klassischer "Diktator". Korruption ist schließlich nicht nur ein soziales und wirtschaftliches Übel, es ist auch eine Form des Eliten-Managements. Die Entscheidungsprozesse des Kreml sind mehr als undurchsichtig. Manchmal sind prognostische Vermutungen von außen nützlich, sie schaffen aber auch ein falsches oder verzerrtes Bild davon, wie Russland funktioniert.

Artikel mit dem Thema "was hat Putin gerade vor" zeugen eher von mangelnder denn von überreicher Kenntnis. In diesem Sinne geht die Konzentration der Medien auf Putin nicht nur der PR-Politik des Kreml auf den Leim, sondern repliziert fast schon orientalistische Formen des Wissens um Russlands "östliche Despotie". Die gesamte Verantwortung für politisches Scheitern oder Erfolg kann nicht auf einer einzigen Person ruhen. Russische Staatsmedien haben westliche Journalisten wegen deren Obsession für Putin heftig gescholten; wir pflichten ihnen gern bei, wenn auch aus anderen Gründen.

2. Wir meinen, dass an Russland mehr dran ist, als Personenpolitik

Die Image-Politik (s. z. B. Externer Link: http://www.theatlantic.com/photo/2011/09/vladimir-putin-action-man/100147/), die Photo-Sessions (s. Externer Link: http://www.businessinsider.com/43-pictures-vladimir-putin-tough-2013-9?IR=T), das zeitweilige Verschwinden (s. Externer Link: http://europe.newsweek.com/putins-disappearance-what-was-all-about-315443), all diese Aufmerksamkeit für Putin verdeckt eine mächtigere und beunruhigendere Realität eines Landes, das von einer bröckelnden Infrastruktur heimgesucht wird, was auf Korruption und Gleichgültigkeit zurückgeht, eines Landes, das von tiefster Ungleichheit geprägt ist (s. Externer Link: http://www.rferl.org/content/russia-billionaire-wealth-inequality/25132471.html). Dies allein mit Putin in Verbindung zu bringen, bedeutete, die Story darüber zu verfehlen, wie es hierzu gekommen ist.

Es gibt sicherlich eine reiche Palette an Umständen, die Putins Politikstil beeinflusst haben und beeinflussen, angefangen von nationalistischen Philosophen wie Alexander Dugin und Ivan Iljin bis hin zu seinen bittersüßen Erfahrungen als KGB-Offizier in der dahindämmernden DDR. Putins Vertikale der Macht ist allerdings von bemerkenswert selbsterhaltender Natur; von ganz oben gesendete Signale werden von übereifrigen Bürokraten und Verwaltern gedeutet. Ein Führer, der allein durch korrupte Berater in die Irre geleitet werden kann – selbst aber in seinem Regieren (es handelt sich unweigerlich um einen er!) nicht fehlgehen kann, das ist Teil einer langen, unwürdigen Tradition russischer Staatskunst. Der Mann an der Spitze kann die Anerkennung für deren Erfolge einstreichen und hält genug Distanz zu ihren Fehlern. Wir möchten stattdessen die fortgesetzten verschlungen Versuche der russischen Elite aufzeigen, die in ihrem Streben nach einem korrupten wie autoritären Staatskapitalismus den demos von einer politischen Teilhabe fernzuhalten. Wir müssen von den Möglichkeiten berichten, so dürftig sie auch sein mögen, die es zur horizontalen Mobilisierung gegen willkürliche Macht gibt. Noch dringlicher ist es, die russische Regierung weiterhin für deren systematische Verletzung von Rechten zur Verantwortung zu ziehen, seien es nun soziale und wirtschaftliche, politische oder Menschenrechte.

3. Wir meinen: Die Konzentration der Mainstream-Medien auf Putin lenkt von der Bevölkerung Russlands ab

Seit seiner Gründung ist das Projekt "oDR" der Berichterstattung über politische Entwicklungen verpflichtet gewesen, sowohl von unten als auch aus den Regionen. oDR ist weniger an augenblicklichen Wahrnehmungen interessiert, als vielmehr daran, wie die Dinge langfristig zum Tragen kommen.

Für uns unterminiert die ständige Konzentration auf Putin die Handlungsfähigkeit und Dynamik im politischen und sozialen Spektrum Russlands und übergeht die alltäglichen Erfahrungen und Entwicklungsbahnen, sei es im Zentrum oder in den Regionen. Diese Wissenslücke steht einem Verständnis dessen entgegen, wie die russische Elite innerhalb Russlands Legitimität erzeugt, indem mit Hilfe sozialer Trennlinien in und zwischen Regionen manipuliert wird, wie Natalja Subarewitsch in einem jüngst erschienenen Artikel erläutert (s. Externer Link: N. Zubarevich: Four Russias: the new political reality, 1. 2. 2016).

Die Entbehrungen der Menschen, die in der russischen Region leben, sind seit langem eher als ethnographisches denn als politisches Thema beschrieben worden. Innerhalb des Moskauer Gartenrings ist das weitverbreitete "patriotische" Verständnis von "schweren Zeiten" als etwas zum russischen Provinzleben Dazugehörendes (warum sollten die auch etwas Besseres erwarten?) ein Spiegelbild der "neuen Kremlologie". Beide Sichtweisen sprechen den einfachen Bürgern Russlands, die versuchen, über die Runden zu kommen, ihre Handlungsfähigkeit ab.

Vor diesem Hintergrund arbeiten wir regelmäßig mit Aktivisten und Journalisten aus ganz Russland zusammen, um Geschichten zu veröffentlichen, die sonst nicht aufgegriffen werden, etwa die Verwerfungen, von denen lokale Gemeinschaften in Kalmykien durch eine internationale Pipeline heimgesucht werden (s. Externer Link: https://opendemocracy.net/od-russia/badma-biurchiev/at-bottom-of-power-vertical), oder die Versuche, alte, heilige Hügel Baschkortostans vor einem Verkauf zur Mineraliengewinnung zu bewahren (s. Externer Link: https://opendemocracy.net/od-russia/artur-asafyev/these-hills-are-ours)

Der Blog "The Russian Reader", eine weitere Initiative dieser Art, zeigt, dass solche Geschichten aus der "Peripherie", falls richtig in den Kontext gesetzt, letztlich gar nicht so "peripher" sind. Das zunehmende Engagement und die Arbeiterproteste in den Regionen deuten darauf hin, dass die Geduld der Menschen nicht unerschöpflich ist (s. Externer Link: http://www.rbc.ru/politics/04/02/2016/56b343509a7947e65b8e0435), egal welche patriotischen Leckerbissen ihnen zugeworfen werden. In der Tat ging die Hauptwucht des Schlages, den Russlands Elite gegen die eigene Bevölkerung geführt hat, vor allem auf Bevölkerungsschichten außerhalb Moskaus und St. Petersburgs nieder.

Da Russlands Wirtschaft weiterhin abwärts trudelt, wird die Berichterstattung über die Regionen von entscheidender Bedeutung sein, um zu verstehen, was mit der Welt der Arbeit und Demokratie in Russland geschehen ist. Putin hat zwar das seine dazu beigetragen, aber wir sollten seine Verdienste auch nicht überbewerten.

Übersetzung aus dem Englischen: Hartmut Schröder

Dieser Artikel ist zuerst am 4. März 2016 auf Englisch bei openDemocracy (Sparte Russsia and Beyond – oDR) erschienen; Externer Link: https://www.opendemocracy.net/od-russia/maxim-edwards-thomas-rowley/why-we-don-t-publish-articles-about-putin.

Wir danken oDR für die freundliche Genehmigung, den Artikel auf Deutsch zu publizieren. Externer Link: openDemocracy ist eine unabhängige globale Medienplattform, die in der Woche bis zu 60 Artikel veröffentlicht, die sich kritisch mit der Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten u. a. in Großbritannien, Lateinamerika und Eurasien auseinandersetzen.

Lesetipps

  • Arutunyan, Anna: The Putin Mystique. Inside Russia’s Power Cult, Newbold on Stour: Skyscraper Publications 2014.

  • Sygar, Michail: Endspiel. Die Metamorphosen des Wladimir Putin, Köln: Kiepenheuer&Witsch 2015.

Fussnoten

Maxim Edwards ist verantwortlicher Redakteur bei oDR. Er schreibt zu Nationalismus sowie interethnischen und interreligiösen Beziehungen mit einem Schwerpunkt auf die postsowjetischen Staaten. Seine Artikel sind unter anderem bei "Al-Jazeera", "Al Monitor", "Souciant" und "The Forward" erschienen.

Tom Rowley ist Lead Editor bei oDR. Er beendet derzeit an der Universität Cambridge seine PhD-Arbeit über Andersdenken in der Sowjetunion.

Natalia Antonova arbeitet als Redakteurin bei oDR. Sie ist in Kiew geboren und in North Carolina aufgewachsen und arbeitet als Kommentatorin und Dramaturgin.

Mikhail Kaluzhsky ist Lead Editor für Russisch bei oDR. Er ist der Autor von "Repressirowannaja Musyka" (2007) und Projekten des dokumentarischen Theaters. Von 2012 bis 2014 war er als Kurator des Theaterprogramms des Moskauer Sacharow-Zentrums tätig.