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Notizen aus Moskau: 4, nein 1, nein 2 Russland! | Russland-Analysen | bpb.de

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Notizen aus Moskau: 4, nein 1, nein 2 Russland!

Jens Siegert

/ 8 Minuten zu lesen

Russland ist ein Vielvölkerstaat. Noch vor Jahren galt die russische Gesellschaft als sozial und regional stark fragmentiert. Doch die expansive Außenpolitik der letzen Jahre scheint zu einer Annäherung der unterschiedlichen Schichten geführt zu haben.

Ministerpräsident Wladimir Putin vor einer russischen Landkarte. (© picture-alliance/dpa)

Noch vor weniger Jahren galt es als ausgemacht, dass die russische Gesellschaft sich zunehmend sozial und regional fragmentiert: in Modernisierungsgewinner und Modernisierungsverlierer; in (groß-)städtische Mittelschichten und abgehängte Landbevölkerung; in ein modern-postmodernes, profanes und ein vormodern-patriarchalisches, in Teilen tief religiöses Russland.

Den öffentlich größten Widerhall dazu hatte wohl die von Natalja Subarewitsch im Herbst 2011 aufgestellte These von den Vier Russland, die nur noch wenig miteinander gemein haben und zudem immer weiter auseinander streben: die modernen Megapolen Moskau und St. Petersburg sowie andere Millionenstädte (in denen bei den Wahlen 2011 und 2012 eher gegen Putin gestimmt wurde); die veralteten Industriezentren und die sogenannten Monostädte (in denen eher für Putin gestimmt wurde, weil Staatstransfers ihren bescheidenen Wohlstand sicherten); die Kleinstädte und Dörfer, aus denen die jungen Menschen fortgehen und in denen die Alten früh sterben (hier gab und gibt es kaum noch Hoffnung); die nationalen Republiken und Gebiete, deren oft eher archaische soziokulturelle Strukturen sich vom Rest des Landes erheblich unterscheiden (und die, vorwiegend als Loyalitätsbezeugung, mehrheitlich für diejenigen stimmen, die in Moskau an der Macht sind).

Das war vor weniger als fünf Jahren. Seither ist alles ganz anders geworden, denn kurz darauf passierten zwei Dinge: zuerst der Protestwinter 2011/2012 und die daraufhin von Putin entfachte konservativ-nationalistische Wende, dann 2013/2014 der demokratische Aufstand auf dem Kiewer Maidan und die anschließende Annexion der Krim durch Russland. Wladimir Putin, dessen Zustimmungswerte in Umfragen seit 2010 bis dahin langsam aber sicher immer weiter gesunken waren (wenn auch, zugegebenermaßen von einem sehr hohen auf ein immer noch recht hohes Niveau), drehte den Trend zu seinen Gunsten. Ja, es gelang ihm am Anfang der Die-Krim-ist-unser-Euphorie sogar den ihm und seiner Politik ablehnend gegenüberstehenden (deutlich kleineren) Teil der Gesellschaft zu spalten und einige der früheren Kritiker auf seine Seite zu ziehen. Anstelle von 15 bis 20 Prozent Opposition gab es im Frühjahr 2014, jedenfalls Umfragen zufolge, nur noch 5 bis 10 Prozent, die Putins Politik insgesamt, also Innen- wie Außenpolitik, ablehnten.

Natalja Subarewitsch begann davon zu sprechen, dass ihre These der sozioökonomischen und territorialen Spaltung des Landes grundsätzlich zwar immer noch stimme, aber, wenn man so wolle, "vorrübergehend tot" sei. Die Vier Russland seien ein "rationalistisches und langfristiges Modell", das aber in der gegenwärtigen Situation besonderer nationaler Mobilisierung außer Kraft gesetzt worden sei (Externer Link: http://www.novayagazeta.ru/politics/66622.html). Aus Vier Russland habe es Putin also verstanden, erst einmal wieder eins zu machen.

Allerdings war auch das Modell der Vier Russland schon nicht ganz vollständig. Denn zu dieser Teilung des Landes kam auch vor fünf Jahren schon eine zwar in vielen Bereichen feststellbare, aber trotzdem nicht vollständig deckungsgleiche soziokulturelle Spaltung. Man könnte sie als eine Spaltung in ein modern-aufgeklärtes und ein vormodern-patriarchales Russland bezeichnen. Auf der einen Seite diejenigen, wohl eine Mehrheit, denen die Moderne mit ihren freiheitlichen Zumutungen und der persönlichen Verantwortung für das eigene Schicksal Schmerz und Pein verursacht. Auf der anderen Seite diejenigen, klar in der Minderheit, die in eben dieser offenen Gesellschaft den einzigen Weg des Landes aus den Verstrickungen der diktatorischen und gewaltsamen Vergangenheit und Gegenwart sehen (Externer Link: ausführlich darüber in diesen Notizen).

Wie die Kascha, der Brei im Kopf vieler Menschen aus der ersten Gruppe aussieht, habe ich vor einem halben Jahr in einer Art Gedankenstrom zu fassen versucht (Externer Link: http://russland.boellblog.org/2015/11/18/kascha-oder-am-anfang-war-die-sowjetunion/). Heute soll es weniger um dessen Inhalt gehen (obwohl auch der zur Illustration gezeigt werden wird). Wichtiger scheint mir, dass diesem Weltbild (wenn ich das mal so nennen darf) der größeren Hälfte der Menschen in Russland, ein völlig (ja: völlig!) anderes Weltbild der kleineren Hälfte gegenübersteht. Mehr noch: Diese beiden Vorstellungen davon, wie die Welt ist, wie sie funktioniert, also was passiert ist und was passiert, sind schlichtweg inkompatibel. Sie schließen sich zu großen Teilen aus.

Der St. Petersburger Politologe Dmitrij Trawin unterscheidet diese beiden Russland in eine "imperiale Mehrheit" und eine "demokratische Minderheit". Erstere beziehe ihre Informationen (ihr Wissen davon, was in der Welt vor sich geht und vor sich gegangen ist) vorwiegend aus dem Fernsehen. Letztere dagegen sehe die Welt durch das "Prisma Internet" (Externer Link: http://www.rosbalt.ru/blogs/2016/03/04/1495280.html).

Die russische Fernsehwelt sieht demnach etwa so aus: Russland stand in den 1990er Jahren am Rande des Zerfalls. Schuld daran waren äußere (in erster Linie die USA) und innere Feinde (eine fünfte Kolonne). Oligarchen hatten das Land unter sich aufgeteilt und beförderten zusammen mit den Liberalen seinen Zerfall, weil es sich so besser ausbeuten ließ. Dazu gingen sie ein Bündnis mit der NATO ein, die sich bis an die Grenzen und in die natürlichen Einflusszonen Russlands ausweitete.

Dann tauchte zum Glück Wladimir Putin auf. Er entmachtete die Oligarchen und vernichtete die tschetschenischen Terroristen. Als Folge wurde das Leben schnell besser. Gehälter wurden wieder bezahlt und stiegen sogar an. Russland erhob sich von den Knien (dies ist zwar eine Phrase, aber eine sehr ernstzunehmende, oft zitierte und viel geglaubte), reformierte die Armee und holte (zumindest teilweise) zurück, was Russland rechtmäßig gehört: Abchasien, Südossetien, zuletzt die Krim.

Der Westen, die USA haben nun wieder vor Russland Respekt, ja sogar Angst, weshalb sie, gemeinsam mit den Arabern und den Türken, den Ölpreis zum Absturz brachten. Außerdem versuchen sie Russland mit ökonomischen Sanktionen dazu zu bringen, seinen selbstbewussten und an den eigenen Interessen orientierten Kurs wieder aufzugeben. Das wird aber nicht klappen, da die USA und der Westen insgesamt auf dem absteigenden Ast sitzen, während Russland zu den aufstrebenden Ländern dieser Welt zählt, was man auch an seiner Zugehörigkeit zur BRICS genannten Gruppe führender Schwellenländer sehen kann. Ja, die USA sind immer noch stark. Aber Russland ist nicht schwächer und das einzige Land der Welt (mit der Ausnahme von China vielleicht, das sich aber (noch?) zurückhält), das den Mut und die Kraft hat, dem amerikanischen Vormachtstreben die Stirn zu bieten. Auch deshalb wird Russland inzwischen fast überall auf der Welt wieder hoch geachtet.

Aus dem Internet ergibt sich dagegen ein ganz anderes Bild des Landes: Ein Zerfall Russland hat niemals gedroht. Lediglich Tschetschenien wollte Ende der 1990er Jahre Russland verlassen. Schon Jelzin hat aber Seperatismustendenzen in einigen nationalen Republiken durch eine kluge Politik des "Herrsche und Teile" unter Kontrolle gebracht, indem er zum Beispiel den Tataren und Baschkiren einen großen Teil ihrer Öleinnahmen im Gegenzug zu ihrer Loyalität ließ. Nichts Anderes macht Putin übrigens heute mit Tschetschenien, nur dass zu den Öleinnahmen dort noch riesige Summen aus dem Staatshaushalt kommen.

In Tschetschenien hat Putin aber nur einen Scheinfrieden geschaffen. Der Preis dafür, dass Tschetschenien formal in Russland gehalten wird, bestand darin, es de facto zum Ausland zu machen. Dort leben fast nur noch Tschetschenen. Für alle anderen ist es unsicher. Selbst die russische Polizei und der Geheimdienst können in Tschetschenien nicht ohne Zustimmung des dortigen Führers Ramsan Kadyrow arbeiten.

Mit den Oligarchen hat Putin nicht aufgeräumt. Die meisten der in den 1990er Jahren angehäuften oligarchischen Vermögen sind weiter in den Händen der gleichen Leute. Die Auseinandersetzungen erst mit Boris Beresowskij und Wladimir Gussinskij und dann die Verhaftung von Michail Chodorkowskij haben nichts mit einer Änderung des polit-ökonomischen Systems in Russland zu tun, sondern dienten ausschließlich der Machtsicherung. Mehr noch: Neben die alten Oligarchen sind zahlreiche neue getreten, meist Leute aus dem Geheimdienst oder dem Freundeskreis Putins. Auf sie trifft das Label Oligarch sogar noch eher zu, da viele von ihnen politische und wirtschaftliche Macht vereinen.

Der wirtschaftliche Aufschwung der 2000er Jahre hat also nichts mit einem angeblichen Kampf gegen die Oligarchen zu tun oder ist einem sozialeren und gemeinnützigeren Wirtschaftssystem entsprungen, sondern ausschließlich der günstigen Ölpreiskonjunktur geschuldet. Die Modernisierung der russischen Wirtschaft wurde verschlafen, wenn nicht bewusst sabotiert. Die Folge sind eine Herrschaft der Bürokratie und eine damit verbundene überbordende Korruption, die das Land im Würgegriff hält. Angesichts der, wie es nun ausschaut, andauernd niedrigeren Ölpreise droht dem Land eine langanhaltende wirtschaftliche Rezession, die noch viel gefährlicher werden könnte als die Krise von 1998.

Auch die Bedrohung durch die NATO ist aus den Fingern gesaugt. Nicht die NATO hat sich nach Osten ausgedehnt, sondern die mitteosteuropäischen Länder haben bei der NATO Schutz gesucht, weil sie Russland nicht trauen. Und sie haben, wie Georgien, die Krim und die Ostukraine zeigen, recht gehabt und getan. Die Annexion der Krim hat zudem Russlands Einfluss in seiner Umgebung nicht gestärkt, sondern umgekehrt insbesondere die Ukraine und Georgien, zwei traditionell Russland gegenüber sehr freundlich gesinnte Länder, auf Dauer von Russland entfremdet. Auch wenn weder der EU- noch der NATO-Beitritt dieser beiden Länder in den kommenden Jahren auf der Tagesordnung stehen, so haben sie sich doch angesichts der russischen Aggression dauerhaft Richtung Westen orientiert. Auch alle anderen Nachbarn sind vorsichtiger geworden. Russland steht weitgehend allein da.

Nun sind solche Spaltungen nichts Besonderes für große Gesellschaften. Das ist in den USA so. In Europa, zum Beispiel in Frankreich und in Polen. Und seit neuestem deutet sich so etwas sogar in Deutschland an. Was heißt nun diese ja nicht neue, aber heute dominante und vom Staat betriebene Spaltung für Russland?

Das Interesse des Kremls ist klar. Er hat durch die Vertiefung der ohnehin schon vorhandenen Spaltung seine Macht im Land zu festigen verstanden. Die für den Machterhalt gefährlichen Tendenzen einer zunehmenden sozioökonomischen und regionalen Spaltung des Landes, wie sie Natalja Subarewitsch in ihren Vier Russland so eingängig gefasst hat, konnten in den Hintergrund gedrängt werden. Sie sind aber nicht verschwunden. Um die Zweiteilung des Landes entgegen dieser mittel- und langfristig grundlegenderen Entwicklung aufrecht erhalten zu können, bedarf es weiter einer ständigen Mobilisierung gegen äußere und innere Feinde. Die NATO und der Westen insgesamt, die Faschisten in der Ukraine, eine aus dem Ausland bezahlte fünfte Kolonne im Land, zuletzt die Türkei füllten bisher diese Rolle aus. Die verkündeten Siege über diese Feinde wärmten die Herzen einer nach Erfolgen und Anerkennung dürstenden Nation. Nach dem angekündigten (Teil)Rückzug russischer Truppen aus Syrien dürfen wir nun also gespannt sein, welche (neuen oder alten) Feinde die Machthaber im Kreml als nächstes aus dem Hut zaubern. Ohne demokratische Reformen gibt es hier kein Zurück.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.

Fussnoten

Jens Siegert ist Diplompolitologe und leitete bis 2015 das Länderbüro Russland der Heinrich Böll Stiftung in Moskau. Davor arbeitete er in Moskau als Korrespondent für Radiostationen, Zeitschriften und Zeitungen im deutschsprachigen Raum.