Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Notizen aus Moskau: Zwei Schritte zurück, ein halber nach vorn | Russland-Analysen | bpb.de

Russland-Analysen Wirtschaftsmodell und Eliten (25.10.2024) Veränderungen in den Beziehungen zwischen Staat und Unternehmen angesichts des Krieges und der Sanktionen Ranking: Russen auf der Forbesliste der Milliardäre weltweit 2024 Analyse: Rätselhafte Todesfälle in der russischen Elite vor dem Hintergrund des russischen Überfalls auf die Ukraine Chronik: Hinweis auf die Online-Chronik Propaganda / Nawalnyj (19.02.2024) Analyse: It’s fake! Wie der Kreml durch Desinformationsvorwürfe die Diskreditierung von Informationen in ein Propagandainstrument verwandelt Kommentar: Der Kampf um die Deutungshoheit. Deutsche Medien zu Ukraine, Krim-Annexion und Russlands Rolle im Jahr 2014 Von der Redaktion: dekoder-Special "Propaganda entschlüsseln" Kommentar: Erste Gedanken zum Tod und zum Leben Alexej Nawalnys Statistik: Politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung in Russland Chronik: 23. Januar – 09. Februar 2024 Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen und Übergangsjustiz (16.12.2023) Analyse: Russland vor Gericht bringen: Strafverfolgung völkerrechtlicher Verbrechen Dokumentation: Die Brüsseler Erklärung Analyse: Optionen der Übergangsjustiz für Russland dekoder: "Das unbestrafte Böse wächst" dekoder: "Ist es nicht Patriotismus, wenn alle Kinder zu uns gehören?" Chronik: 01. November – 14. Dezember 2023 Getreidehandel in Kriegszeiten / Wasserwege (06.12.2023) Analyse: Russlands Getreideexporte und Angebotsrisiken während des Krieges gegen die Ukraine Analyse: Russland setzt den Getreidehandel als Waffe gegen die Ukraine ein Analyse: Die strategische Bedeutung des russischen Wolga-Flusssystems Chronik: 23. – 29. Oktober 2023 Hat das Putin-Regime eine Ideologie? (15.11.2023) Von der Redaktion: 20 Jahre Russland-Analysen Analyse: Macht und Angst Die politische Entwicklung in Russland 2009–2023 Kommentar: Russlands neuer Konservatismus und der Krieg Kommentar: Chauvinismus als Grundlage der aggressiven Politik des Putin-Regimes Analyse: Verschwörungstheorien und Russlands Einmarsch in die Ukraine Kommentar: Die konzentrischen Kreise der Repression dekoder: Ist Russland totalitär? Chronik: 03. – 20. Oktober 2023 LGBTQ und Repression (30.09.2023) Analyse: Russlands autoritärer Konservativismus und LGBT+-Rechte Analyse: Russlands Gesetz gegen „Propaganda für Homosexualität“ und die Gewalt gegen LGBTQ-Personen Statistik: Gewalt gegen LGBTQ+-Menschen und Vertrauen in Polizei und Gerichte unter LGBTQ+-Menschen in Russland Dokumentation: Diskriminierung von und Repressionen gegen LGBTQ+-Menschen in Russland Kommentar: Wie sehr geht es bei der strafrechtlichen Verfolgung von "Rehabilitierung des Nazismus" um politische Repressionen? Von der Redaktion: Ausstellung: "Nein zum Karpfen" Chronik: 31. Juli – 04. August 2023 Chronik: 07. – 27. August 2023 Chronik: 28. August – 11. September 2023 Technologische Souveränität / Atomschlagdebatte (20.07.2023) Von der Redaktion: Sommerpause, на дачу – und eine Ankündigung Analyse: Die Sanktionen machen sich bemerkbar: Trübe Aussichten für die russische Chipindustrie Analyse: Kann Russlands SORM den Sanktionssturm überstehen? Kommentar: Russisches Nuklearroulette? Die Atomschlagdebatte in der russischen Think-Tank-Fachöffentlichkeit Dokumentation: Die russische Debatte über Sergej Karaganows Artikel vom 13. Juni 2023 "Eine schwerwiegende, aber notwendige Entscheidung. Der Einsatz von Atomwaffen kann die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren" Umfragen: Die Einstellung der russischen Bevölkerung zu einem möglichen Einsatz von Atomwaffen Chronik: 13. Juni – 16. Juli 2023 Chronik: 17. – 21. Juli 2023 Wissenschaft in Krisenzeiten / Prigoshins Aufstand (26.06.2023) Kommentar: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – Ein "Virolog:innen-Moment" für die deutsche Osteuropaforschung? Kommentar: Osteuropaforschung im Rampenlicht: ein Drahtseilakt zwischen Wissenschaft und Aktivismus Kommentar: Ein Moment der Selbstreflexion für Russlandstudien Kommentar: Wissenschaft im Krieg: Die Verantwortung der Regionalstudien und was daraus folgt Kommentar: Verträgt sich politisches Engagement und Wissenschaft? Zur öffentlichen Position des Fachs Osteuropäische Geschichte dekoder: Mediamasterskaja: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen dekoder: Prigoshins Aufstand gegen den Kreml: Was war das? dekoder: Prigoshins Aufstand: eine Chronologie der Ereignisse Chronik: 15. Mai – 12. Juni 2023 Deutschland und der Krieg II / Niederlage und Verantwortung (26.05.2023) Kommentar: Ostpolitik Zeitenwende? Deutschland und Russlands Krieg gegen die Ukraine Kommentar: Deutsche Wirtschaft und der Krieg Kommentar: Deutschland, der Krieg und die Zeit Kommentar: Nach einem Jahr Krieg: Deutschland im Spiegel der russischen Medien Kommentar: Der Ukrainekrieg: Kriegsängste, die Akzeptanz von Waffenlieferungen und Autokratieakzeptanz in Deutschland Umfragen: Die Haltung der deutschen Bevölkerung zum Krieg gegen die Ukraine: Waffen, Sanktionen, Diplomatie Statistik: Bilaterale Hilfe für die Ukraine seit Kriegsbeginn: Deutschland im internationalen Vergleich Notizen aus Moskau: Niederlage Chronik: 24. April – 14. Mai 2023 Auswanderung und Diaspora (10.05.2023) Analyse: Politisches und soziales Engagement von Migrant:innen aus Russland im Kontext von Russlands Krieg gegen die Ukraine Dokumentation: Ukraine-Krieg: Bislang nur wenig humanitäre Visa für gefährdete Russen Statistik: Asylanträge russischer Bürger:innen in Deutschland Analyse: Emigration von Wissenschaftler:innen aus Russland: Kollektive und individuelle Strategien Dokumentation: Schätzungen zur Anzahl russischer Emigrant:innen nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine Chronik: 01. März – 23. April 2023 Sanktionen (27.03.2023) Analyse: Die Wirkung von Krieg und Sanktionen auf Russlands Volkswirtschaft im Jahr 2022 Statistik: Russlands Wirtschaft Analyse: Russische wirtschaftliche Anomalie 2022: Ein Blick aus Unternehmensperspektive Umfragen: Wahrnehmung von Sanktionen durch die russische Bevölkerung Chronik: 01. – 28. Februar 2023 Feminismus / Kriegswahrnehmung / Gekränktes Imperium (13.03.2023) Analyse: Feminist_innen machen in Russland Politik auf eine andere Weise Statistik: Kennzahlen und Indizes geschlechterspezifischer Ungleichheit Analyse: Nicht Befürworter:innen und nicht Gegner:innen: Wie verändert sich bei der Bevölkerung in Russland mit der Zeit die Wahrnehmung des Krieges in der Ukraine? dekoder: Die imperiale Formel ist: Russland hat keine Grenzen Repression und stiller Protest / Die Botschaft des Präsidenten (06.03.2023) Analyse: "Nein zum Karpfen": Stiller Protest im heutigen Russland Dokumentation: Repressionen wegen Antikriegs-Akten in Russland seit 2022 dekoder: Die Schrecken des Kreml Analyse: Ein langer Krieg und die "Alleinschuld des Westens". Präsident Putins Botschaft an die Föderalversammlung am 23. Februar 2023 Kriegsentwicklung / Kirchen im Ukrainekrieg (23.02.2023) Analyse: Unerwartete Kriegsverläufe Analyse: Die Invasion der Ukraine nach einem Jahr – Ein militärischer Rück- und Ausblick Kommentar: Die Unterstützung der NATO-Alliierten für die Ukraine: Ursachen und Folgen Kommentar: Der Krieg und die Kirchen Karte: Kriegsgeschehen in der Ukraine (Stand: 18. Februar 2023) Eliten (16.02.2023) Analyse: Ansichten der russischen Eliten zu militärischen Interventionen im Ausland Analyse: Zusammengeschweißt und gefesselt durch Illegitimität Ranking: Die politische Elite im Jahr 2022 Meinungsumfragen im Krieg (02.02.2023) Kommentar: Sind Meinungsumfragen im heutigen Russland sinnvoll? Kommentar: Diese vier Fragen sollten Sie sich stellen, bevor Sie Meinungsumfragen darüber lesen, was Russ:innen über den Krieg denken Kommentar: Es gibt noch immer keine öffentliche Meinung – der Krieg in der Ukraine und die Diktatur in Russland lassen uns das besser erkennen Kommentar: Die Meinungsumfragen des Lewada-Zentrums auf der Discuss Data Online-Plattform. Zur Diskussion um die Aussagekraft der Daten Kommentar: Telefonische Umfragen im autoritären Russland: der Ansatz von Nawalnyjs Stiftung für Korruptionsbekämpfung Kommentar: Annäherungen an eine Soziologie des Krieges Kommentar: Methodologische Probleme von russischen Meinungsumfragen zum Krieg Kommentar: Befragungen von Emigrant:innen: Herausforderungen und Möglichkeiten dekoder: "Die öffentliche Meinung ist ein Produkt von Umfragen" Dokumentation: Umfragen zum Krieg (Auswahl) Chronik: 01. – 31. Januar 2023

Notizen aus Moskau: Zwei Schritte zurück, ein halber nach vorn Denkmäler, vaterländische Legenden und Gedenken an die Opfer politischer Repression

/ 11 Minuten zu lesen

Zurück in die Sowjetunion! Die Richtung der russischen Geschichtspolitik scheint klar zu sein. Doch das Bild ist uneindeutiger als es manche westliche Medien gerne darstellen. Immer wieder (wenn auch selten) gibt es Gegenbewegungen, die Verbrechen der Sowjetzeit von offizieller Seite aus verurteilen. Jens Siegert beleuchtet dieses eigentümliche Nebeneinander von Zurück und Vor.

Dsershinskij-Büste im Hof der Petrowka-Straße 38 in Moskau. (© HHS)

Eigentlich scheint alles klar zu sein mit der russischen Geschichtspolitik: mit Volldampf zurück in die Sowjetunion. Trotz dieser zwar deutlichen und beunruhigenden Bewegungsrichtung, passieren immer wieder, wenn auch eher selten als oft, Dinge, die dazu nicht zu passen scheinen. Um dieses Zurück (mehr) und Vor (weniger) soll es heute anhand von ein drei Beispielen gehen. Ich fange mit den beiden finsteren an.

Schon seit vielen Jahren gibt es immer mal wieder Initiativen zur Wiedererrichtung des Denkmals von Felix Dsershinskij, dem Gründer der Tscheka und der Symbolfigur der sowjetischen und auch noch der heutigen russischen politischen Polizei. Dsershinskijs Statue (übrigens ein durchaus fein gelungenes Werk des sowjetischen Bildhauerstars Jewgenij Wutetitsch) war direkt nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow am 22. August 1991 von seinem Sockel auf dem Lubjanka-Platz (der damals noch Dsershinskij-Platz hieß), vor dem damaligen KGB- und heutigen FSB-Hauptquartier im Moskauer Zentrum geholt worden.

Das Partizip "geholt" ist durchaus bewusst gewählt, denn der von einer Gruppe "Verteidiger des Weißen Hauses" (des damaligen Parlamentssitzes, vor dem Boris Jelzin sich den Putschisten auf einem Panzer entgegen gestellt hatte) versuchte Sturz wurde in letzter Minute verhindert, und zwar vom damaligen Vizebürgermeister und späteren langjährigen Bürgermeister Jurij Luschkow. Luschkow überzeugte die ebenso siegestrunkene wie entschlossene Menge, dass ein unkontrolliertes Fallen der 11 Tonnen schweren Figur eine unverantwortliche Gefahr für den durchlöcherten Moskauer Untergrund mit seinen sich kreuzenden Metrolinien und zahlreichen Geheimgängen darstelle. Flugs ließ er einen Kranwagen heranschaffen, der den Stein-Dsershinskij an den Haken nahm und akkurat in der Nähe der Neuen Tretjakowgalerie gegenüber dem Gorkipark ablegte. Dort steht er in einem sowjetischen Skulpturenpark noch immer, jederzeit zur Rückkehr auf seinen seither leeren Platz bereit.

Solange Luschkow Bürgermeister von Moskau war (also von 1992 bis 2010), blieb es beim Gerede. All diese Initiativen verliefen im Sande. Auch der Kreml mischte sich nicht ein. Hinter dem halb geöffneten Bühnenvorhang lugt aber trotzdem immer wieder die ungebrochene Popularität hervor, die Dsershinskij notorisch in russischen Geheimdienstkreisen und auch bei Polizei und Staatsanwaltschaften hat. So steht seit Jahren eine Dsershinskij-Büste im Hof der "Petrowka 38", der Zentrale der Moskauer Polizei, von der Straße aus deutlich sichtbar, aber hinter Schranke, Zaun und Durchlasskontrolle. Auch wenn man das Gebäude der für das Moskauer Stadtzentrum zuständigen Innenbehörde betritt, schaut ein goldener Dsershinskij-Kopf – ganz offensichtlich neueren Datums – zwischen den Türen streng auf den Besucher. Das sind, wenn man spitzfindig sein will, trotz eines (eingeschränkten) Publikumsverkehrs keine öffentlichen Räume. Jedenfalls sind es Orte ohne besondere Symbolik. Mit dem Lubjanka-Platz wäre das anders.

Wirklich ernst mit Dsershinskij wurde es nun erstmals in diesem Frühjahr. Die Fraktion der Kommunisten im Moskauer Stadtparlament beantragte ein Referendum, bei dem eine von drei Fragen an die Moskauer lauten sollte, ob denn Dsershinskij in die Mitte des Lubjanka-Platzes zurückkehren solle. So weit, so normal. Neu war jedoch, dass die Stadtregierung die erste Stufe zum Referendum, das Sammeln von Unterschriften zuließ. Wie kaum anders zu erwarten, kamen in der engen gesetzlichen Frist (eng eben deshalb gezogen, um jedes Referendum staatlicherseits verhindern zu können) genügend Unterschriften zusammen. Erst dann geschah Seltsames: Die Kommunisten zogen ihr Referendum zurück. Es ist wenig wahrscheinlich, dass ihnen ihre Referendumsidee so plötzlich nicht mehr gefallen hat. Aber warum von oben (und das konnte nur der Kreml sein) Druck ausgeübt worden ist, bleibt unklar. Ein wenig wirkt das wie Angst vor der eigenen Courage. Denn kaum jemand zweifelt daran, dass die Dsershinskij-Rückkehr, hätte das Referendum stattgefunden, eine Mehrheit gefunden hätte.

Die massive staatliche Propaganda der vergangenen Jahre (die sich seit der Annexion der Krim im März 2014 noch einmal verstärkt hat) von Russland als einer von Feinden umzingelten, belagerten Festung, in deren Inneren zudem angeblich eine "fünfte Kolonne" gegen das eigene Land wühlt, hat eine Stimmung geschaffen, die geradezu nach harten Händen ruft. Nun lassen sich Stimmungen politisch nutzen, sie lassen sich aber auch, wenn nötig, ignorieren. Der mögliche Schaden ist meist propagandistisch begrenzbar. Ein handfestes Referendumsergebnis wäre eine andere Sache. Es hätte mehr als nur symbolische Bedeutung, sollte das Volk der Wiedererrichtung Dsershinskijs zustimmen. Das wäre eine implizite Zustimmung, ja fast eine Aufforderung zu politischer Repression.

Soweit wir wissen können, haben "Liberale", die diesem Begriff auch nur entfernt entsprechen, im Kreml oder dem Kreml nicht mehr viel zu sagen. Die Ausein­andersetzung darüber, wohin der Weg geht, findet schon länger vor allem zwischen denjenigen statt, die mehr Repression und Konfrontation (mit dem Westen, mit der Opposition) für angebracht halten (teils aus pragmatischen, teils aus ideologischen Gründen), und denjenigen, die lieber die bisherige Strategie beibehalten, der zufolge der Staat nur soviel Repression anwendet, wie nötig (wobei das "wie nötig" selbstverständlich Gegenstand ständiger Abwägung und Auseinandersetzung ist). Das Signal, das eine Zustimmung zur Wiedererrichtung des Dsershinskij-Denkmals in einem Referendum aussenden würde, wäre Wasser auf die Mühlen der härteren Hardliner. Man darf deshalb annehmen, dass das Referendum abgesagt wurde, um Handlungsspielräume zu erhalten. Denn erstens ist das besser als mit dem Knüppel zuzuschlagen und zweitens dürfte das Signal, dass man könnte, wenn man nur wollte, auch so angekommen sein (drittens, könnte man hinzufügen, hat der Mord an Nemzow schon genug Angst verbreitet).

Eine andere Frage ist, warum solche Figuren wie Dsershinskij oder, noch prominenter, Stalin und das politische Repressionssystem der Sowjetunion insgesamt überhaupt solch eine Renaissance erleben. Die Köpfe dieser unangenehmen Gestalten tauchen sozusagen zwangsläufig, ein wenig sogar hinter dem Rücken ihrer Zauberlehrlinge, aus dem brodelnden Gebräu der Geschichtssuppe auf, die der Kreml seit Jahren braut. Das hat vor allem zwei Gründe. Den ersten hat Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial schon im Dezember 2008 in seinem Vortrag über das "Erinnern an den Stalinismus" hervorragend herausgearbeitet (https://www.boell.de/de/navigation/europa-nord amerika-5709.html): Im kollektiven Gedächtnis des Landes geht es immer nur um die Opfer, nicht um die Verbrecher. Der Staat rehabilitiert die Opfer politischer Verfolgung, aber er sagt nichts Verbindliches über die Täter. Roginskij nennt das eine "geteilte Erinnerung". Dadurch kann der stalinistische Terror schlecht gefunden werden, während Stalin selbst gleichzeitig ein großer Staatsmann bleibt, der das Land modernisiert und als Oberbefehlshaber zum Sieg im "Großen Vaterländischen Krieg" geführt hat.

Der zweite Grund liegt in der Konzeption einer ausschließlich "positiven Geschichte", die der Kreml unter Putin seit Jahren propagiert. Um dem Land seinen "nationalen Stolz" wieder zu geben, es von "den Knien wieder aufzurichten", so die These, müssten die Menschen stolz auf Russland sein. Das gehe aber nur, wenn die russische Geschichte – einige empfehlen: "vorübergehend" – als eine Geschichte von moralisch gerechtfertigten Siegen des russischen Staates dar- und vorgestellt wird. Damit werden aber auch die Unholde und Mörder in ihr reingewaschen und die Fehlwege und Katastrophen ignoriert. Dann hat Iwan IV., der "Schreckliche", das Moskauer Reich nur den Bojaren entrissen, aber später mit der Opritschnina kein Terrorregime errichtet. Dann hat Peter I., der "Große", nur das russische Imperium begründet und das Land zu einer der fünf europäischen Großmächte gemacht, dafür aber nicht in Kriegen und beim Bau von St. Petersburg ein Drittel der russischen Männer (hier fehlt mir ein ausreichend passendes Verb) "hingeopfert". Dann war auch Stalin kein blutrünstiger Diktator (jedenfalls nicht nur oder nicht in erster Linie) und der Hitler-Stalin-Pakt war kein Abkommen mit einem anderen blutrünstigen Diktator zur verbrecherischen Aufteilung Europas, sondern Stalin tat eben das, was "geboten" (und damit moralisch gerechtfertigt) war, um Russland das Überleben zu ermöglichen.

Damit komme ich zum zweiten finsteren Beispiel, einer Lügengeschichte, die vielleicht angesichts dieser großen historischen Linien unbedeutend erscheint, die aber, wie ich meine, sehr gut verdeutlicht, wohin das alles führt. Es geht um einen der wichtigsten Heldenmythen des "Großen Vaterländischen Kriegs", um die sogenannten "Panfilowzy". Dabei handelt es sich um die 316. Schützendivision, einen Verband der Roten Armee (der Befehlshaber war Generalmajor Iwan Panfilow), die im November 1941 etwa 100 Kilometer vor Moskau einen deutschen Angriff abwehrte. Eine kleine Untereinheit von 28 Mann, so will es der sowjetische Mythos, habe dabei in vierstündigem Kampf 18 deutsche Panzer "vernichtet"; dabei seien alle 28, bis auf den letzten Mann, gefallen.

In der Sowjetunion lernte jedes Schulkind, die Heldentaten der "Panfilowzy" zu bewundern, auch den Spruch, mit dem auf den Lippen sie angeblich in den sicheren Tod gingen: "Russland ist groß, aber Zurückweichen geht nicht – hinter uns liegt Moskau". Doch schon bald gab es Zweifel, ob sich die Geschichte wirklich so zugetragen hat, wie es dann später in den sowjetischen Schulbüchern stand. Einer der vermeintlichen den Heldentod Gestorbenen wurde bereits 1947 in aller stalinistischer Stille zu 15 Jahren Gulag verurteilt, weil er mit den Deutschen kollaboriert habe. Auch andere der "28 Panfilowzy" fanden sich später unter den Lebenden. Nun sollte man nicht allzu viel auf die Urteile sowjetischer Gerichte (und dann noch unter Stalin!) geben, aber der 1947 verurteilte Mann lebte noch, obwohl er doch eines Heldentodes gestorben sein musste. Schon 1948 bekam Stalin einen militärstaatsanwaltschaftlichen Bericht dazu. Der landete im Archiv, das geheim war, wie alle sowjetischen Archive.

Der Zugang zu (staatlichen) Archiven ist zwar heute in Russland erneut ein großes Problem (nach einer doch recht offenen Phase von den 1990er bis etwa Mitte der 2000er), aber die falsche Geschichte der "Panfilowzy" ist bereits in der Perestrojka Ende der 1980er Jahre öffentlich geworden. Unlängst nun, Anfang Juni, erinnerte Sergej Mironow, Direktor des Russischen Staatsarchivs, damit gleichsam oberster Archivar des Landes und darüber hinaus ein Wissenschaftler von untadeligem Ruf, auf einem Weltkongress der Russischsprachigen Presse in Moskau in einem Vortrag an diese Propagandageschichte. Es kam zu einem heftigen Disput im Saal, da viele der versammelten Journalisten von ihren seit der Kindheit verehrten Helden nicht lassen mochten.

Der Vorfall erzürnte auch den russischen Kulturminister Wladimir Medinskij, im Vorleben Autor zahlreicher historisierender Schriften wissenschaftlich höchst zweifelhafter Qualität. In der Regierungszeitung "Rossijskaja Gaseta" dekretierte er, für die "epischen Sowjethelden" hätten die gleichen Maßstäbe zu gelten wie für christliche Heilige (Externer Link: http://www.rg.ru/2015/08/26/pravda.html). Kurz: Propaganda und Legende, das Transzendente, der geglaubte und den Glauben stützende Kern, die Glaubenswahrheit also ist wichtiger als historische Genauigkeit. Geschichte ist, so muss man schließen, aus Sicht der heutigen Herrscher Russlands eben keine Wissenschaft, sondern lediglich eines der Schlachtfelder im (geo)politischen Kampf. Und um den zu gewinnen, das propagiert der Kreml schon seit Jahren, muss Negatives weggelassen und darf nur "positive Geschichte" geschrieben werden. Denn nur so werde das russische Volk die Kraft aufbringen, in diesem (Überlebens-)Kampf zu bestehen.

Nun zur anderen, der lichteren Seite. Sie fällt momentan weniger auf, wohl auch, weil sie kein Mainstream ist. Von der russischen (und mehr noch in der internationalen) Öffentlichkeit fast unbemerkt, wurde Mitte August nach fast fünf Jahren Diskussion die staatliche "Konzeption zur Verewigung des Gedenkens an die Opfer politischer Repression" verabschiedet (Externer Link: http://government.ru/docs/19296/).

Das Dokument geht auf eine Anregung von Menschenrechtler, Künstler, Musiker, Schauspieler und Historiker (unter ihnen übrigens der schon erwähnte oberste Archivar Sergej Mironenko) und anderen öffentlich bekannten Personen aus dem Umfeld des präsidialen Menschenrechtsrats im Jahr 2010 zurück. In einem offenen Brief an den damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedew hatten sie um Unterstützung für die Errichtung eines zentralen Erinnerungskomplexes an die Opfer staatlicher sowjetischer Repression in Moskau gebeten. Ergebnis war, staatlich korrekt, eine Kommission, die seither an der "Konzeption" gearbeitet hat. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre, insbesondere seit dem Protestwinter 2011/2012 und des darauf folgenden national-konservativen Kurses unter dem neuen alten Präsidenten Putin hatten allerdings wenig Hoffnung gelassen, dass aus der Arbeit noch etwas Vernünftiges herauskommen werde. Und wenn doch, dann wohl eher nicht im Vernunftverständnis der Initiatoren. Es kam anders.

In der regierungsoffiziellen "Konzeption" heißt es nun: "Russland kann nicht in vollem Umfang Rechtsstaat werden und eine führende Rolle in der Weltgemeinschaft spielen, ohne das Andenken an die Millionen seiner Bürger zu verewigen, die Opfer politischer Verfolgung geworden sind." Und weiter: Es sei "unzulässig, zu versuchen, die Repressionen mit den Notwendigkeiten der Zeit zu rechtfertigen oder sie überhaupt als Tatsache unserer Geschichte zu leugnen". Zudem fordert die "Konzeption" freien Zugang zu den staatlichen Archiven, um die staatliche Verfolgung umfassend zu erforschen. Dabei beschränkt sie sich nicht, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, auf die Stalinzeit, sondern bezieht sich ausdrücklich auf die gesamten über 70 Jahre sowjetischer Herrschaft.

Am 26. August durfte dann einer der Initiatoren, der Außenpolitikexperte Sergej Karaganow, in der Rossijskaja Gaseta (ja, der gleichen Regierungszeitung in der Kulturminister Medinskij eine "positive Geschichte gefordert hat, und ja, genau der Karaganow, der Putins Wende nach Osten unterstützt) die "Konzeption" vorstellen (Externer Link: http://www.rg.ru/2015/08/27/pamyat.html). Unter der Überschrift "Verabschieden wir uns vom Bürgerkrieg" lobte Karaganow nun den Beitrag von Memorial zur "Konzeption" und die Arbeit von Memorial insgesamt (dem gleichen Memorial, aus dessen Netzwerk mehrere Organisationen vom Justizministerium erst kürzlich zu "ausländischen Agenten" erklärt worden sind, und dem unlängst die Kontrolle über das selbst aufgebaute, einzige Gulag-Museum "Perm-36" in einer Schmierenkomödie durch den Staat entwunden wurde). Er fand zudem zustimmende Worte zur vom Journalisten Sergej Parchomenko initiierten (und selbstverständlich von Memorial unterstützten) Kampagne "Die letzte Adresse", bei der, nach dem Beispiel der deutschen "Stolpersteine", kleine Kupferplatten mit den Namen von Erschossenen und Ermordeten an den Häusern angebracht werden, aus denen sie vom Geheimdienst verhaftet worden waren.

Auch Arsenij Roginskij, Vorstandsvorsitzender von Memorial, lobte die "Konzeption" in der "Nowaja Gaseta" (http://www.novayagazeta.ru/society/69685.html). Sie sei, nach dem Rehabilitierungsgesetz von 1991 (an dem Roginskij seinerzeit mitgeschrieben hat) "das beste offizielle Dokument zum sowjetischen politischen Terror". Erstmals äußere sich der russische Staat ("wenn man dem Dokument glauben darf") eindeutig und unmissverständlich ablehnend dazu. Zwar gehe von der "Konzeption" keine unmittelbare Handlungsanweisung an staatliche Stellen aus, aber alle, die sich wirklich um eine Aufarbeitung der totalitären russischen Repressionsgeschichte bemühten, hätten nun etwas Offizielles an der Hand, auf das sie sich beziehen könnten, dem Staat gegenüber, in Archiven und Bibliotheken, als Lehrer in Schulen und Dozent in den Universitäten oder auch einfach nur als irgendjemand in der Öffentlichkeit.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Putin hört damit nicht auf, den Hitler-Stalin-Pakt zu rechtfertigen. Die Krimtataren bleiben Opfer nicht nur von Stalins Vertreibung, sondern leiden weiter unter einer schleichenden zweiten Vertreibung seit der Annexion der Krim. Kulturminister Medinskij wird weiter Filme verbieten, weil sie seinen verqueren Ansichten widersprechen und angeblich "die Geschichte verfälschen". Vielleicht kehrt Dsershinskij bald doch noch auf den Lubjanka-Platz zurück. Und auch neue Stalindenkmäler sind nicht ausgeschlossen. Das liegt wohl vorerst, wie man so schön sagt, im Trend der Zeit. Aber es macht das Leben doch zumindest ein klein wenig erträglicher, wenn solch ein Trend wenigstens einen kurzen Augenblick nicht unumkehrbar scheint.

Diesen und andere Texte finden Sie auf Jens Siegerts Russlandblog Externer Link: http://russland.boellblog.org/.

Fussnoten