Der 13. September 2015 war der letzte Wahltag vor dem Ende der Legislaturperiode und den Dumawahlen im September 2016. In 21 Föderationssubjekten ("Bundesländern") gab es Wahlen für die regionalen Spitzenämter (Gouverneur, Oberhaupt, Präsident). In allen Fällen setzten sich die Kandidaten der Partei "Einiges Russland" durch, nur in Irkutsk blieb der Bewerber der Regierungspartei unter der 50%-Marke und musste in die Stichwahl. Auch in den Wahlen zu den Regional- und Kommunalparlamenten erreichte "Einiges Russland" durchweg deutliche Mehrheiten. Vertreter der "systemischen Opposition" (Shirinowskijs LDPR, Sjuganows KPRF und Mironows "Gerechtes Russland") schnitten deutlich schlechter ab, gelangten aber immerhin in die Parlamente, während die "nichtsystemische Opposition" – darunter auch die liberalen und demokratischen Parteien – in der Regel an der Fünfprozenthürde scheiterte. Im Vorfeld war sie massiv behindert worden. Meist hatten die Wahlbehörden bereits ihre Versuche, sich als Kandidaten registrieren zu lassen, aus formalen Gründen scheitern lassen. Kurz, in allen Regionen war die Situation "unter Kontrolle" und so wurde auch ein erwartbares Ergebnis erzielt. Dass die Wahlbeteiligung in Tatarstan und Kemerowo bei 84 % bzw. 92 % lag und der Stimmenanteil der Kandidaten von "Einiges Russland" bei 94 % und 96 % – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Der Leitartikel der "Nesawisimaja Gaseta" vom 15. September bezeichnete die Wahlen 2015 als "langweilig, vorhersehbar und inhaltsleer" (Externer Link: http://www.ng.ru/editorial/2015-09-15/2_red.html). In der Tat demonstrierten die Wahlen vor allem, dass die "Machtvertikale" funktioniert und der zentrale Apparat die Fähigkeit hat, bis in die Regionen und Kommunen hinein Kontrolle auszuüben. Das ist nichts Neues. Russland ist eine "elektorale Autokratie" – ein autoritäres System, das sich über Wahlen legitimiert, und das in der Lage ist, zu den gewünschten Wahlergebnissen zu kommen. Bei den Regionalwahlen 2013 hatte die Putin-Administration noch relativ große Spielräume gewährt. In Moskau erhielt Alexej Nawalnyj bei den Bürgermeisterwahlen dann 27,24 % der abgegebenen Stimmen, und in Petropawlowsk und Jekaterinburg wurden Oppositionskandidaten zu Bürgermeistern gewählt. 2014 und 2015 aber war es mit dieser Liberalität vorbei. Die Administration kontrolliert den politischen Prozess und erstickt Versuche, kritisches Potential politisch zu organisieren, bereits im Vorfeld.
Sie tut dies, obwohl die Situation im Lande stabil zu sein scheint. Das Protestpotential ist verschwindend gering, eine erdrückende Bevölkerungsmehrheit vertraut Präsident Putin, dem auch der Verdienst an positiven Entwicklungen zugeschrieben wird. Allerdings zeichnet sich in den Umfragen ab, dass die Stimmung umzuschlagen droht. Anders als 2014 geben 2015 44 % der Befragten Putin die Schuld an der Verschlechterung der sozialen Lage. Bei der Frage, wessen Interessen das Regime vertritt, nimmt der Prozentsatz derjenigen zu, die die "silowiki" (Geheimdienstler und Militärs), Oligarchen und hohe Bürokraten als Nutznießer des Systems sehen.
Die Bevölkerung ist beunruhigt durch die negativen Wirtschaftsaussichten, die steigenden Preise, die sinkenden Reallöhne und die nach wie vor grassierende Korruption. Damit beginnt auch Putins hohe Akzeptanz in der Bevölkerung Schaden zu nehmen. Das Regime ist nicht unmittelbar gefährdet, doch könnten im Laufe des nächsten Jahres Kritik und Protest zunehmen, wenn sich die soziale Situation nicht bessert. Da im nächsten September Dumawahlen anstehen, bei denen die Bevölkerung einer möglichen Missstimmung an der Wahlurne Luft machen könnte, bemüht sich die Putin-Administration, die politischen Prozesse im Zentrum und in den Regionen unter Kontrolle zu halten. Ereignisse wie die Moskauer Massendemonstrationen nach den Fälschungen bei den Dumawahlen 2011 wird man nicht wieder zulassen. Die Instrumente, um jegliche Form politischer Opposition bereits im Vorfeld zu ersticken, hat man bei den Regionalwahlen 2015 noch einmal erfolgreich erproben können. Insofern wird die Putin-Administration dem September 2016 gelassen entgegenblicken.
Allerdings wirft der Termin der vorgezogenen Dumawahlen schon jetzt erste Schatten voraus. Wenn im September 2016 Parlamentswahlen stattfinden, dann müssen Kandidaten im Herbst und Winter 2015 ausgewählt, Programme und Kampagnenpläne Anfang 2016 vorbereitet werden. Es ist nicht klar, ob die Regierung unter Ministerpräsident Dmitrij Medwedew nach dieser Wahl weiter amtieren wird. Bei einer verschlechterten Wirtschaftslage wären Medwedew und seine Minister geeignete Sündenböcke. Mögliche Nachfolger müssten sich jetzt schon in eine Startposition manövrieren. In dieser Situation neigen Publizisten und Kommentatoren dazu, alle Vorgänge in Zusammenhang mit möglichen Verschiebungen innerhalb der Machtelite zu interpretieren. Der Rücktritt Wladimir Jakunins, des Vorstandsvorsitzenden der Russischen Eisenbahnen, eines mächtigen Unternehmers, der als enger Vertrauter Putins gilt und für seine rechtskonservativen Ansichten bekannt ist, wurde mit Überraschung zur Kenntnis genommen. Dass sich seine Pläne, eine Führungsposition im Föderationsrat zu übernehmen, rasch zerschlugen, führte zu Spekulationen über die Gründe seiner Entmachtung. Hinzu kommt die Korruptionsaffäre in der Republik Komi: Dort ging das Strafermittlungskomitee gegen die Angehörigen einer "kriminellen Vereinigung" vor, die angeblich seit vielen Jahren im großen Maßstab Haushaltsmittel umgeleitet und ins Ausland verschoben hatten. Als Haupttäter wurde Wjatscheslaw Gajser ausgemacht, das Oberhaupt der Region (in etwa "Ministerpräsident"). Die Tatsache, dass es Gajser traf, der bisher als ausgesprochen erfolgreich galt und in Rankings regionaler Führungspolitiker stets in der Spitzengruppe rangierte, wurde als weiteres Signal wahrgenommen, dass in der Machtelite "irgendetwas vor sich geht".
Solche Reaktionen signalisieren Unsicherheit. Und in einer Phase, in der die Putin-Administration sich möglicherweise neu ordnet und von der Sorge geplagt wird, dass die Unzufriedenheit im Lande zunehmen und in Protest übergehen könnte, sind freie, gleiche, geheime, unmittelbare und allgemeine Wahlen nicht gerade das, was die Führung benötigt. Allerdings hat der Ablauf der Regionalwahlen gezeigt, dass man den Wahlprozess beherrscht, und dass man wohl nicht zu befürchten braucht, es könnte plötzlich echte Demokratie ausbrechen.