Professor Dietrich Geyer hat lange Jahre das Institut für Osteuropäische Geschichte in Tübingen geleitet und als einer der führenden Osteuropahistoriker in Deutschland die Entwicklung dieses Faches entscheidend mitgeprägt. Seinen Vortrag über Ostpolitik und Geschichte hielt er im Rahmen der Vorlesungsreihe zum 16. Internationalen Historikerkongreß am 29. August 1985. Im Jahre 1985, als Dietrich Geyer in Stuttgart sprach, war die Welt noch in Ost und West gespalten. Die Stationierung von Mittelstreckenraketen durch die UdSSR und der "Doppelbeschluss" der NATO hatte der Konfrontation der Blöcke neue Schärfe verliehen. In Reaktion waren in der Bundesrepublik und der DDR Friedensbewegungen entstanden, die sich gegen Wettrüsten und die nukleare Bedrohung wandten. Indes war im Frühjahr 1985 in Moskau Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPSU gewählt worden. Im Laufe der folgenden Jahre leitete der neue Generalsekretär eine politische Wende ein, die die Ost-West-Konfrontation überwand und Ende 1991 zur Auflösung der Sowjetunion führte. Wir drucken im folgenden mit Erlaubnis des Autors einen Auszug aus seinem Vortrag ab, denn es scheint uns, dass seine Analyse auch heute von Bedeutung ist.
[…] Konzentrieren werde ich mich auf Ostpolitik als Teil der deutschen Bewußtseinsgeschichte, das heißt: ich frage nach Spuren, die der Umgang mit den Ostproblemen im Bewußtsein der Deutschen hinterlassen hat, nach Vorstellungen und Begriffen, auch nach fixen Ideen, die die Deutschen in der Auseinandersetzung mit diesen Problemen von sich selber und von den anderen gewonnen haben.
Ein solcher Tatbestand von langer Dauer wird sofort deutlich, wenn man sich klar macht, daß Ostpolitik (von welchem deutschen Standort her auch immer) in neuerer Zeit vor allem Rußlandpolitik gewesen ist. Deutsche Ostpolitik war seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert vor allem auf Rußland zentriert, und das war eine folgenreiche Sache – freilich keine, die von den Deutschen alleine abhängig gewesen wäre. In dieser Fixierung drückt sich die Konstanz, die Kontinuität der russischen Großmacht aus, die Dauerhaftigkeit des Russischen Imperiums auch über den Umbruch der Revolutionen hinweg, bis zu den Metamorphosen hin, die dieses Imperium in den letzten siebzig Jahren unter kommunistischer Herrschaft erfahren hat.
Zur dominierenden Kraft im Osten Europas (im Norden, wie man damals noch sagte) war der Moskauer Staat unter Peter dem Großen aufgestiegen – dank der neuen Staatsmaschine, dank des neuzeitlichen petrinischen Militär- und Steuerstaats, dank der russischen Siege im Nordischen Krieg. Zu den Voraussetzungen des russischen Machtaufstiegs gehörte das Ende der schwedischen Vormacht an der Ostsee und gehörte vor allem auch die russische Hegemonie in Polen: Polen-Litauen, diese weiträumige Adelsrepublik im Osten, hatte den Zarenstaat bisher an der Peripherie Europas festgehalten. Mit dem Verfall dieser spätmittelalterlichen Reichsbildung, mit dem Niedergang Polens, begann die Dauerpräsenz Rußlands in der europäischen Politik und in den deutschen Angelegenheiten zumal
Die russische Dauerpräsenz in Deutschland ist für das 18. Jahrhundert in den Einzelheiten hier nicht darzustellen. Ich erinnere nur daran, daß im Nordischen Krieg die Truppen Peters in Pommern und Sachsen, in Mecklenburg und Holstein standen. Ich erinnere an den Siebenjährigen Krieg, an die russische Okkupation Ostpreußens und an die Besetzung von Berlin 1760, an das Miraculum des Hauses Brandenburg, an die russischen Eingriffe in den preußisch-österreichischen Dauerkonflikt, an die Intervention Katharinas der Zweiten in den bayrischen Erbfolgekrieg und sofort. Ich denke an die machtvolle Rolle, die russische Armeen in Deutschland spielten, seit das revolutionäre Frankreich über seine Grenzen trat und Napoleon weite Teile Europas umzustürzen begann. Wenig später dann, in den Befreiungskriegen und in der Restaurationszeit, ist Russland in Deutschland in wechselnden Rollen aufgetreten: Alexander I., gefeiert als der Befreier der Völker, als "Liberator der braven Deutschen". Sein Bruder und Nachfolger, Kaiser Nikolaj I., galt zwischen dem Polenaufstand und der Olmützer Punktation, zwischen 1830 und 1850, für alle Liberalen und Demokraten als Inbegriff der Reaktion und Despotie, für die Konservativen war er Hüter der monarchischen Legitimität, Unterpfand dafür, daß Deutschland nicht in Chaos und Anarchie versinke. Rußland als Element der deutschen Binnengeschichte, als Bestandteil der Begriffe, die die Deutschen von sich selber und von den anderen hatten: in diesem einschneidenden Sinn ist Rußland erst verhältnismäßig spät ins Bewußtsein des breiteren Publikums in Deutschland eingetreten, dann freilich geschah das nachhaltig und dauerhaft. Nach den Befreiungskriegen waren es die Jahre des sogenannten Vormärz, sodann die 1848er Revolution mit ihren Nachwirkungen, von denen stärkste Anstöße ausgegangen sind. Erst jetzt, während der Restaurationszeit, wurde das Zarenreich, in Abwehr oder Zuwendung, zum Dauerthema öffentlicher Debatten. Russophobie und Russophilie, Russenhaß und Russenliebe, gewannen Bekenntnischarakter, fungierten als Erkennungszeichen, erhielten einen innerdeutschen Gebrauchswert, der der nüchternen Analyse wenig zuträglich war. Denn nicht Rußland, sondern eine ausgedachte Ordnung wurde vorgeführt, Rußland als Metapher für Grundfragen der Verfassungs- und Gesellschaftsform in Deutschland
Faustregel war: Wer die Russen schmäht, wer an ihnen keinen guten Faden läßt, wer in Rußland die Inkarnation von Despotie und Barbarei erkennt, das Bollwerk der Reaktion, in Kaiser Nikolaj den Gendarm Europas, den "Henker der edlen polnischen Nation" und so fort – der gehört ins Lager der Freiheit, der bürgerlichen wie der deutschen Freiheit, der will das Vaterland bewahrt sehen vor der Herrschaft der Knute und vor Sklaverei, der steht für die Volksrechte ein, für das Recht der Nation, kämpft gegen die Mächte der Beharrung, der Finsternis, gegen Fürstenwillkür und Untertanengeist, mit anderen Worten: gegen die "russische Partei" mitten unter uns. Und auf der anderen Seite der Barrikade galt: Wer Rußland und die Russen verteidigt, wer gar Lobenswertes an ihnen findet, der gehört (im Verständnis eben dieser Verteidiger) ins Lager der monarchischen Legitimität, der gottgewollten Ordnung, der bewahrenden, der konservativen Kräfte, zu denen also, die gegen den "falschen Schein" der Freiheit sind, gegen die dämonischen Mächte der Revolution, gegen Chaos und Anarchie, gegen die Despotie der Masse, gegen Doktrinäre, Demagogen, Franzosenfreunde, gegen "entdeutschte", "verwälschte" und "halbverjudete Philister". So las man’s in der Kreuzzeitung 1853.
Kein Zweifel freilich, daß in der binnendeutschen Rußlanddebatte der Haß stärker als die Liebe war. Nicht konservative Russensympathie, sondern liberale und demokratische Russophobie prägte die Maßstäbe und die Begriffe. Und diese waren auf schärfste Kontraste angelegt. Hier, in Deutschland, die Tugenden der Bürgerwelt: Kultur, Zivilisation, Fortschritt, Freiheit, Herrschaft des Rechts; dort, in Rußland, die Merkmale asiatischer Barbarei, orientalische Despotie, Willkür, Eroberungsgeist, Expansion – kulturverschlingende Expansion in Permanenz; hier, in Deutschland: Individualität, Ehrbarkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Reinlichkeit, Enthaltsamkeit und dergleichen; dort, in Rußland: Grausamkeit, Triebhaftigkeit, Trunksucht, Schmutz und ähnliche gräßliche Eigenschaften mehr. Viele Einzelteile dieser Klischees ließen sich aus der älteren Literatur zusammensetzen, schon aus der Rußlandliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, auch aus der der Aufklärung und natürlich aus der antirussischen Publizistik der französischen Revolution. Der junge Joseph Görres hatte 1798 die Gefahr der russischen Welt-Despotie beschworen, und viele taten es ihm nach, Rußland ein barbarischer Koloß – "aus Schnee, Eis und Blut zusammengeknetet"
Und überall berief man die Beweiskraft der Geschichte: Man verwies auf den Einfall Ivans des Schrecklichen in Livland, auf die Moskowiterfurcht damals, verwies auf den vermeintlichen Endzweck russischer Machtpolitik, auf das angebliche Testament Peters des Großen (eine Erfindung polnischer Emigranten), auf Projekte Katharinas der Zweiten, auf den ungehemmten Expansionstrieb der Russen, einen auf Weltherrschaft versessenen Drang – Expansion als Naturgesetz russischer Geschichte. Solche klischierten Vorstellungen, zum Geschichtsgesetz hochstilisiert, geistern durch die Kremlastrologie noch heute. Ein deutscher Professor hat vor 1914 einmal ausgerechnet, daß Rußland seit Peter dem Großen pro Tag um 90 Quadratkilometer gewachsen sei
An Material, aus dem die Waffen der Russophobie geschmiedet wurden, fehlte es also nicht. Aber anders als im 18. Jahrhundert, das noch auf den aufgeklärten Herrscher setzte, wurde jetzt, im 19., zwischen Herrschaftsform und Volkscharakter nicht mehr unterschieden. Es gab kein anderes, kein besseres Rußland, gab keine Hoffnung, es sei denn den Krieg: den Entscheidungskampf zwischen Freiheit und Despotie, Rußland und Europa, Ost und West, zwischen Germanentum und Slawentum. Dieser entscheidende Kampf schien mit dem Krimkrieg angebrochen zu sein, und die öffentliche Stimmung drängte denn auch auf den Kriegseintritt Preußens und Österreichs an der Seite der Westmächte. Das Bild von der Einheit zwischen Zar und Volk galt im Übrigen auch im konservativen Milieu. Die Konservativen, die "Berliner Ukasuisten und Knutologen", machten aus Rußland das Idealbild einer Welt, die, wie sie meinten, heil geblieben sei, die Revolution, Pauperismus, Proletarisierung, Sozialismus, Kommunismus, die "eiternden Geschwüre" des modernen Europa nicht zu fürchten habe. Das patriarchalische Rußland hielt August Frhr. von Haxthausen in seinen berühmten Rußlandstudien (1847/52) für den Inbegriff unbeschädigten Lebens, gegründet auf Familie und Gemeinde, auf das zutiefst religiöse Bauernvolk, auf Volksleben, Volksinstinkt und auf die Vollgewalt des Zaren. Rußland habe dem verderbten Westen viel zu sagen
Diese Ansicht war schon in der Idee der Heiligen Allianz, im Ausstrahlungsfeld Alexanders des Ersten, aufgekommen. Ich erinnere an Jung-Stilling und Franz von Baader; sie hatten sich auf die besondere religiös-politische Sendung der Ostkirche bezogen und Erlösungshoffnungen mit ihr verknüpft. Die Faszination, die von der russischen Religiosität ausging, nährte sich auch später noch, bis in unser Jahrhundert hinein, von Zivilisationsmüdigkeit, Krisenbewußtsein, von der Sehnsucht nach Sinn. Dem entsprach die Bewunderung für die Ursprünglichkeit des russischen Natur- und Seelenmenschen. Der Mythos von der russischen Seele (auch der slawischen Seele) hat hier seinen Ort. Auf diese Gefühlslagen, die Ausdruck des Orientierungsnotstands deutscher Intelligenz gewesen sind, wirkten dann vor allem Tolstoj und Dostojevskij ein. Rußland weckte Sehnsucht nach neuer Offenbarung und Geborgenheit. Man denke an das Rußlanderlebnis von Rainer Maria Rilke; er ging dann in Worpswede im Russenhemd und in Tatarenstiefeln und sagte: "proschtschaj" statt Lebwohl
Weil Europa verdorben und am Ende sei, hat auch Friedrich Nietzsche Rußland gepriesen: Rußland, das Land der Zukunft, "die einzige Macht, die … Dauer im Leibe hat, die warten kann, die etwas noch versprechen kann – Rußland, der Gegensatzbegriff zur erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität," – diese Macht müsse "Herr Europas und Asiens" werden. Solche Verheißung setzte auf die unverbrauchten "jungen Volker", auf die "Barbaren des 20. Jahrhunderts", und das ging fort über den Ersten Weltkrieg hinweg. Spuren finden sich bei Oswald Spengler, Max Scheler, finden sich bei Moeller van den Bruck und im Tatkreis, im Milieu der konservativen Revolution und des Nationalbolschewismus von Weimar
Derlei Bekundungen der Attraktivität blieben in Deutschland freilich überwiegend literarisch und philosophisch, das heißt: sie blieben im Wesentlichen folgenlos. Ungleich stärker war die Tradition der Negativklischees, war – über alle Gegensätze hin – die Konsens stiftende Kraft der Rußlandfeindschaft. Das wirkliche Rußand wurde dafür eigentlich gar nicht gebraucht. Die Urteile hatten sich längst verselbständigt, hatten symbolischen Charakter angenommen.
[…] Ich bin auf diese alten Rußland- und Slawenklischees deshalb so ausführlich eingegangen, weil sie über die Generationen hin haften geblieben sind. Dabei hatten sich doch, spätestens seit der Gründung des Bismarckschen Reiches, die machtpolitischen Verhältnisse von Grund auf verändert. Die Gewichte hatten sich gewissermaßen umgekehrt: Deutschland war zu einem Machtfaktor ersten Ranges geworden, Rußland dagegen war seit der Krimkriegniederlage nachhaltig geschwächt, seine hegemoniale Rolle in den deutschen Angelegenheiten war dahin. Das Zarenreich blieb auf Jahre hinaus mit sich selbst beschäftigt, mit dem Versuch, seinen Entwicklungsrückstand aufzuholen und durch innere Reformen aufs Niveau seiner europäischen Konkurrenten zu kommen. Aber diese Schwächung, die doch zu den Voraussetzungen der Reichsgründung gehörte, wurde in Deutschland kaum registriert. Ins gesellschaftliche Bewußtsein ging sie nicht ein. Auch ein schwaches Rußland weckte Angst. Neben der Russophobie wirkte der Superioritätsanspruch gegenüber der slawischen Welt ungemindert fort, ja er wurde nun mit neuem Machtgefühl aufgeladen und durch sozialdarwinistische und völkische Leitbegriffe radikalisiert. Was an konservativer Rußlandorientierung nachgeblieben war, verfiel im Lauf der Zeit.
[…] Nach meinem Eindruck sind wir Deutschen unmäßig stark auf uns selber fixiert – ob in neopatriotisch verklärter Pose oder in selbstquälerischer Absicht, das bleibt sich gleich. Auch die nun schon modische Frage nach der deutschen Identität oder die noch seltsamere Frage, wem die deutsche Geschichte denn nun wohl gehöre? – auch solche Reden zeigen das mit jedem Zungenschlag. Ich meine, unsere Identität ist kräftig genug, um derlei Nabelschau zu überwinden und um zu begreifen, daß wir nicht zu uns selber kommen werden, solange wir keine genaueren, keine vernünftigeren Begriffe von unseren Nachbarn haben – auch und gerade von unseren Nachbarn im Osten.
Quelle
Geyer, Dietrich: Ostpolitik und Geschichtsbewußtsein Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 34.1986, Heft 2 (April 1986), S. 147–159 Externer Link: http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1986_2_1_geyer.pdf, 13. Juli 2015.