Vom 18.–20. Juni fand in St.Petersburg das jährliche internationale Wirtschaftsforum statt. Im Vergleich zum vorigen Jahr, als viele ausländische Staatsgäste sowie Vorsitzende deutscher Konzerne wegen der kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ostukraine das Petersburger Forum boykottierten, konnten die Veranstalter 2015 einen Rekord feiern: mehr als 10.000 Teilnehmer aus 120 Ländern sowie 2.000 Journalisten. Angesichts dieser Zahlen erklärten russische Politiker und staatsnahe Medien, dass die Isolation Russlands nun überwunden sei. Von den europäischen Regierungschefs besuchte aber nur der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras das Forum, um mit Wladimir Putin vor allem über die neue Gas-Pipeline "Turkish Stream" zu beraten sowie nach neuen Quellen zur Begleichung der griechischen Schuldenlast zu suchen. Die Rede des russischen Präsidenten musste, wie bei solchen Anlässen üblich, zu einem Medienereignis des Forums werden. Sie lieferte, nicht ganz ungewohnt, eine scharfe Kritik an der US-Außenpolitik und bestätigte somit die Fortsetzung des politischen Kurses des Kremls. German Gref, Vorstandsvorsitzende der größten staatlichen Bank "Sberbank", und Ex-Finanzminister Alexej Kudrin, beide regelmäßige Teilnehmer des Forums, legten den Fokus auf aktuelle Wirtschaftsprobleme, Maßnahmen der Regierung zur Überwindung der Krise und die Notwendigkeit von Reformen in Russland. Kudrin zufolge könnte mit den Reformen bereits im Zuge der vorgezogenen Präsidentschaftswahl 2016 angefangen werden. Die Bilanz des "russischen Davos" und die Wirtschaftsperspektiven Russlands diskutieren Experten und Journalisten in den sozialen Netzwerken und Blogs. Zu Wort meldeten sich u. a. der Politologe Pawel Rschewskij, der Chef der Russischen Eisenbahn Wladimir Jakunin, der Ökonom und Wirtschaftsprüfer Prof. Igor Nikolajew, der Politologe Stanislaw Belkowskij, der Wirtschaftsexperte Stepan Sulashkin und der Journalist Oleg Kashin.
Rschewskij: "Das Forum hätte für Russland besser nicht laufen können"
"[…] Für unser Land hätte das Forum besser nicht laufen können. Russland hat sich als hervorragender Veranstalter einer so großen internationalen Veranstaltung gezeigt. Im Westen war man ja davon überzeugt, Russland sei isoliert und niemand würde nach St. Petersburg kommen.
Wollen wir uns aber nicht den Fakten zuwenden? Im Rahmen des Forums wurden 205 Memoranden, Abkommen und Verträge in einer Gesamthöhe von mindestens 293 Milliarden Rubel unterschrieben. Und wie viele Verträge sind noch hinter dem Vorhang des Geschäftsgeheimnisses verborgen? Hier noch einige Zahlen: Am Forum haben 10.000 Menschen aus 120 Ländern teilgenommen, darunter 200 ausländische und 1.500 Unternehmen aus Russland. Auf dem Gelände fanden 150 Veranstaltungen statt. Die Statistik ist beeindruckend und die Anzahl der ausländischen Partner widerlegt den Mythos von einer internationalen Isolierung Russlands völlig. […] Auf dem Forum erschienen recht viele Partner aus Asien, was auch den östlichen Vektor der Entwicklung Russlands bestätigt.
Wenn man schon über strategische Partnerschaft spricht, so kam man auf dem Forum nicht daran vorbei. Russland und Griechenland haben ihre einvernehmlichen Absichten bezüglich der "Turkish Stream"[-Pipeline] bekräftigt; es wurden neue Vereinbarungen zur Erweiterung von "Nord-Stream" getroffen; Russland und Saudi-Arabien haben partnerschaftliche Beziehungen im Bereich Atomenergie besiegelt. Auch diesmal blieb das Forum nicht ohne brisante politische Äußerungen. Das zeigt allein schon der Vorschlag von Kudrin, die Präsidentschaftswahl vorzuverlegen, der große Aufmerksamkeit in der Gesellschaft und den Medien hervorgerufen hat.
Das diesjährige Forum war von einem großen Interesse von Investoren an Russland gekennzeichnet. Die Veranstalter betonten, dass alle ausländischen Unternehmenschefs, die zum "russischen Davos" eingeladen waren, auch gekommen sind und an den Veranstaltungen des Forums teilgenommen haben. Abgesehen von dem wirtschaftlichen Aspekt hat das Petersburger Wirtschaftsforum noch ein weiteres wichtiges Ziel erreicht: Es hat gezeigt, dass Russland ein wichtiger Akteur bleibt, der an internationalen Prozessen beteiligt ist."
Pawel Rschewskij auf Externer Link: Echo Moskwy, 21.06.2015
Belkowskij: Kudrin wäre im System Putin hilflos
"Liebe Freunde und Mitfühlende, ich erlaube mir ein paar Worte zu den Motiven des Auftritts von A. L. Kudrin auf dem PMEF-2015 [Petersburger Wirtschaftsforum]. Ich hoffe, wir sind uns im Klaren, dass die "vorgezogene Präsidentschaftswahl zur Durchführung von Reformen", übersetzt aus dem "Kudrinischen", bedeutet: "Der Pakt Putins mit Medwedew ist möglichst schnell zu beenden und ich, Kudrin, zum Premierminister zu ernennen. Dann gehen die Reformen richtig los". Und Schluss. Eine Carte Blanche, also das Mandat für Reformen, hat W. W. Putin sowieso schon jetzt. Niemand hindert ihn. Außer er selbst. Als ein Mensch des zutiefst konservativen Psychotypus will er keine radikalen Reformen und hat Angst vor ihnen. Und keinerlei Wahlen, weder vorgezogene noch fristgemäße oder nach hinten verschobene, werden die psychischen Grundlagen des 62-jährigen Kerls ändern.
Stanislaw Belkowskij auf Externer Link: Facebook, 18.06.2015
Tschumakow: Glücksträume des Kremls
"Das Internationale Petersburger Wirtschaftsforum 2015 ist beendet. Die "viele Milliarden schweren" Verträge sind unterzeichnet. Der Bevölkerung Russlands und der Welt wird erzählt, wie gut die Wirtschaft die Krise bewältigt und wie schön man in Russland schon sehr bald leben wird. […]
Natürlich setzt der Kreml große Hoffnungen in solche öffentlichen Veranstaltungen zur Gewinnung ausländischer Investoren. Der Grund dafür liegt allein darin, dass der Staat keine anderen Instrumente zum Verkauf und zur Durchsetzung seiner Wirtschaftsinteressen hat. Unsere Bürokraten sind nicht in der Lage, auf dem Markt zu arbeiten. Dabei ist es unwichtig, ob sie im staatlichen oder privaten Sektor arbeiten; der Kern bleibt der gleiche. Kapitalbeschaffung ist aber nach wie vor äußerst wichtig! Zu behaupten, dass dieses Instrument zur Kommunikation mit den Investoren effektiv wäre, ist, wie ich das sehe, falsch! Man kann die sozial-wirtschaftliche Lage, die sich von Tag zu Tag verschlechtert, nicht kaschieren. Nicht kaschieren lässt sich auch die Verschärfung der politischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Deswegen ist es unmöglich, Bedingungen einer erlogenen Virtualität zu schaffen, in der ausländische Investoren losstürzen, um russisches Anlagevermögen aufzukaufen. Und hören Sie auf davon zu sprechen, dass die Preise für russische Kapitalanlagen sehr stark gesunken sind. Wenn das Risiko eines Verlustes der Anlagen besteht, sollte man in sie überhaupt nicht investieren! […]"
Iwan Tschumakow aufExterner Link: Echo Moskwy, 20.06.2015
Wladimir Jakunin: Ich bin mit den Ergebnissen des Forums sehr zufrieden
"Ganz frisch will ich meine Eindrücke vom Petersburger Forum teilen. Allgemein gesagt ist zu betonen, dass sich dieses Forum vom vorjährigen hinsichtlich der Zahl und der "Qualität" der Teilnehmer merklich unterscheidet. Der Beweis dafür ist die große Zahl an Unternehmenschefs, darunter jener ausländischer Firmen, die dort vertreten waren. Sie haben an allen Veranstaltungen des Forums aktiv teilgenommen und waren kontaktfreudig. Ich kann mich beispielsweise nicht erinnern, wann es jemals eine solche Zahl an Interessenten gab, die die Russische Bahn ansprechen wollten. Dabei betraf das nicht nur unsere traditionellen Branchenpartner aus dem Bereich der Produktion von Eisenbahntechnik, der Entwicklung der Infrastruktur usw., sondern auch Vertreter des Bankensektors und von Consulting-Firmen. Dazu kann ich nur sagen, dass dieser hohe Grad an wirtschaftlichem Engagement und auch des Interesses an Russland seitens der Ausländer die Haltung und die Stimmungen der Unternehmer in der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage widerspiegelt. Trotz der Sanktionen sind das Interesse und die Hoffnung auf eine Beteiligung an Projekten in Russland offensichtlich. Fast alle, mit denen ich gesprochen habe, sehen den Druck der USA auf die Politik der europäischen Länder, der wegen der Situation in der Ukraine ausgeübt wird, und gegen Russland gerichtet ist, kritisch.
Privaten Gesprächen während des Forums entnahm ich, dass die Geschäftswelt ein gewisses abgestimmtes Gespür dafür hat, dass das in den letzten Jahrzehnten dominierende sozio-ökonomische Globalisierungsparadigma und das entsprechende Finanzmodell bald überkommen sein werden, dass sich die Welt ändern wird, und dass die zukünftige Entwicklung auf einer Vielfalt sozio-ökonomischer Modelle basieren wird. […]"
Wladimir Jakunin auf Externer Link: Livejournal, 19.06.2015
Sulakschin: Der Präsident hätte lieber nicht auftreten sollen
[…] Das zentrale Ereignis war natürlich die Rede von Präsident Putin. In Wirklichkeit ist ihr fachlich-unternehmerischer sowie der politische Gehalt gleich Null. Die Rede mied die gravierendsten Herausforderungen für die Entwicklung des Landes, zu denen natürlich der Konflikt mit dem Westen gehört, der massive Sanktionsdruck, der Konflikt in der Ukraine, an dem Russland beteiligt ist, das Modell der Haltung des Staates zur Wirtschaftskrise, die Maßnahmen, die er trifft und in der Zukunft treffen wird. Der Auftritt war ein Versuch, die Lage möglichst rosig darzustellen, grundsätzlich keine Fehler oder Misserfolge der eigenen Tätigkeit zu bemerken oder einzugestehen, und dabei grundsätzlich auf einer Fortsetzung jener finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen zu bestehen, die die Regierung einsetzt. Aber abgesehen von dem politischen Teil ist es bemerkenswert, dass die unzulänglichen empirischen Grundlagen und Statistiken, die der Präsident verwendet hat, sowie das unangemessene Bild seiner Einschätzungen jegliches Vertrauen in die Politik der Staatsmacht untergraben. […]
Mangelhafte Informationen, fehlerhafte Vorstellungen von den Ursachen und Wunschdenken können weder bei Politikern, noch bei Investoren oder bei der Bevölkerung Vertrauen wecken.[…]"
Stepan Sulashkin auf Externer Link: Echo Moskwy, 26.06.2015
Nikolajew: Man kann Rosstat glauben
Während des Internationalen Petersburger Wirtschaftsforums hat Rosstat eine neue Zusammenfassung der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren für den Mai 2015 veröffentlicht (die Daten zur Industrie waren einige Tage früher erschienen). […]
Es gehört schon zur Tradition, über Rosstat zu schimpfen, insbesondere wegen seiner Daten zur Inflation. Nein, bitte nicht schimpfen! Nicht schimpfen, weil beispielsweise die -5,5 % für die Industrie im Mai 2015 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2014 nahe an der Wirklichkeit sind. Genauso habe ich keine Zweifel an den entsprechenden Angaben zum Bauwesen (-10,3 %), zu den Einzelhandelsumsätzen (-9,2 %), zum Umschlag in der Logistikbranche (-4,1 %), zum realen verfügbaren Geldeinkommen der Bevölkerung (-6,4 %), zu den realen Löhnen und Gehältern (-7,3 %) usw.
Schauen Sie sich doch die Daten zur Produktion wichtiger Waren im Mai 2015 an: Pkw (-37,9 %), Lkw (-18,3 %), Stahlbeton-Elemente und -Konstruktionen (-23 %) usw. Man wird sagen: Schon wieder geht es nur um das, was gerade sinkt, es gibt doch Wachstum in einzelnen Produktionszweigen. Das gibt es, ohne Zweifel. Wenn sich aber eine Tendenz offenbart, dann wird diese Tendenz mit den Daten konkretisiert, die sie ausmachen. Wenn von den 100 wichtigsten Produktarten der verarbeitenden Industrie, zu denen Rosstat Angaben veröffentlicht, bei 68 im Mai 2015 ein Produktionsrückgang registriert wird, ist es völlig normal und berechtigt, genau darüber zu sprechen. Geben Sie es doch zu.
Man kann ja bei der Suche nach wenigstens irgendetwas Positivem das im Mai 2015 erfolgte erhebliche Wachstum (über 25 %) in folgenden Produktionssektoren erwähnen: Käse und Käseprodukte (+27,7 %, darauf konnte ich ja wieder nicht verzichten), Nähgarn (+25,8 %), Juchtenlederwaren (27,1 %), synthetischer Kautschuk (25,8 %) usw. Immerhin sind durchaus "seriöse" Waren vertreten: Stahlwerktechnik (41,8 %, die wird übrigens in Tonnen gemessen), Diesellokomotiven für Fernstrecken (verdreifacht). Die Spezifik dieser "seriösen" Warengruppen besteht aber darin, dass sie stückweise bestellt werden: Heute Schmaus und morgen nichts im Haus. Deswegen soll man auch hier nicht allzu viele Hoffnungen hineinlegen. […] Übrigens haben wir vor einiger Zeit zwei Analysen zur Frage erstellt, ob man sich auf die Angaben von Rosstat verlassen kann. Bewertet wurden die Statistiken zur Inflation und zur Entwicklung des BIP. Fazit: Bei der Inflation beschönigt Rosstat zwar, aber relativ wenig (um ca. 2 Prozentpunkte), beim BIP aber lügt die Behörde nicht, man kann ihr glauben. Seitdem beziehe ich mich auf Rosstat-Statistiken (andere haben wir sowieso nicht).[…]
Igor Nikolajew auf Externer Link: Echo Moskwy, 23.06.2015
Kashin: Kognitive Dissonanz von Arkadij Dworkowitsch
"Während eines "Geschäfts-Frühstücks" auf dem Petersburger Wirtschaftsforum rief [der Stellvertretende Ministerpräsident] Arkadij Dworkowitsch die Russen dazu auf, mehr zu arbeiten und weniger Zeit für das Essen zu verschwenden. "Ich habe das allgemeine Gefühl, dass wir alle in diesem Land vor allem mehr und besser arbeiten und dies zum Vergnügen tun sollten, eventuell auf Kosten eines verkürzten Frühstücks."
Die Ernährungsberaterin Lidija Ionowa hat beim Radiosender "Goworit Moskwa" live erklärt, dass sich Dworkowitsch irrt, denn auf das Frühstück sollte man besonders gut achten."
Oleg Kashin auf Externer Link: Facebook, 19.06.2015