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Analyse: Der Ukraine-Krieg und die europäische Sicherheitsarchitektur | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Der Ukraine-Krieg und die europäische Sicherheitsarchitektur

Ulrich Kühn

/ 11 Minuten zu lesen

Trotz der aktuellen Schwierigkeiten zwischen Europäischer Union und Russland muss es zu erneuten Annäherungen kommen. Denn beide Seiten sind in vielerlei Hinsicht aufeinander angewiesen.

Das Kriegsschiff Wladiwostock in einer französischen Werft in Saint-Nazaire. Die Auslieferung an Russland wurde vorerst ausgesetzt. (© picture-alliance/AP)

Zusammenfassung

Russland ist eine Macht, die sich am "Status quo" orientiert und die Erhaltung desselben als Handlungsmaxime sieht. Dies mag, gerade angesichts der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim und der fortgesetzten Destabilisierung der Ost-Ukraine, zunächst absurd klingen. Dabei entspricht Russlands Vorgehen in der Ukraine genau dem Kurs, den Moskau seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer verfolgt hat: Wahrung des russischen Einflusses in den ehemaligen Sowjetrepubliken – dem "nahen Ausland" – und gleichzeitige Verhinderung der fortgesetzten NATO-Osterweiterung. Diese außen- und sicherheitspolitischen Prioritäten haben sich seither nicht geändert; die Strategien zur Durchsetzung der russischen Interessen hingegen schon. Vielen westlichen Sicherheitsexperten sind die Strategie-Wenden Russlands verborgen geblieben. Sie müssen nun Antworten auf die veränderte europäische Sicherheitslage finden. Vor dem Hintergrund der erneuten NATO-Russland-Konfrontation wird es dabei zunehmend schwieriger, die Instrumente kooperativer Sicherheitspolitik zu bewahren. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob es gemeinsam gelingt, die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu beleben.

Von den 1990er Jahren zum Ukraine-Krieg

Während der 1990er Jahre konzentrierten sich die russischen Versuche, die NATO-Osterweiterung zu verhindern, zunächst vor allem auf öffentlichen Widerspruch und hoffnungslose diplomatische Initiativen, wie etwa Gorbatschows Vision des "gemeinsamen europäischen Hauses". Gleichzeitig "erkaufte" sich der Westen, angeführt von den USA unter Bill Clinton, in dieser Phase – auch durch eine Reihe politisch-ökonomischer Maßnahmen – die stillschweigende Zustimmung des Kremls zur NATO-Osterweiterung. So erhielt Russland die Aufnahme in diverse multilaterale Foren wie die G7 (1998) und die Asiatisch-Pazifische Wirtschaftsgemeinschaft (1998), eine institutionell prominente Verankerung der NATO-Russland-Beziehungen in Form der "Gründungsakte" (1997), die Anpassung des wichtigsten Vertragswerks zur konventionellen Rüstungskontrolle in Europa (KSE, 1999) und Washingtons Unterstützung für einen Milliardenkredit des Internationalen Währungsfonds (1999). Obwohl Boris Jelzin noch 1997 öffentlich bekundete, dass die Osterweiterung ein "schwerer Fehler" sei, so akzeptierte Moskau doch letztlich den angebotenen Deal, um, so Jelzin, "die negativen Auswirkungen für Russland zu minimieren". Russland war schlicht zu schwach, um sich ernsthaft Gehör zu verschaffen. Mit Anbruch des neuen Jahrtausends änderte sich die russische Strategie. Zunächst begann die neue Regierung unter Wladimir Putin, die eigene Wirtschaft – und damit einhergehend auch den russischen Einfluss auf das "nahe Ausland" – zu konsolidieren. Gleichzeitig stellte der neue Präsident öffentlich klar, dass Russland eben dieses "nahe Ausland" als seine exklusive Einflusssphäre betrachte und damit "vitale nationale Interessen" verbinde. Davon unbeeindruckt trieb die NATO unter amerikanischer Führung zwei weitere Erweiterungsrunden (2004 und 2009) voran. Im Jahr 2007 änderte sich die russische Strategie dann erneut, als sich das Land mit neuem Selbstbewusstsein auf der internationalen Bühne zurückmeldete. Der erste Schritt war die faktische Aufkündigung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) durch Russland. Der KSE-Vertrag hatte im Zusammenhang mit dem Ende des Kalten Kriegs die Zahl und die Ausrüstung konventioneller Streitkräfte in Europa erheblich reduziert. Mit der Vertragssuspendierung im Jahr 2007 reagierte Russland auf die Bedingung der NATO-Staaten, eine aktualisierte Version des Abkommens nur dann zu ratifizieren, wenn Russland vorher seine Truppen aus den umstrittenen Gebieten Transnistrien, Abchasien und Südossetien abziehe – Gebiete, die Moskau allesamt zum "nahen Ausland" zählt. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz warf Wladimir Putin den USA auch deshalb vor, ihre "nationalen Grenzen in allen Bereichen überschritten" zu haben. Die Zeichen standen auf Sturm.

Als Washington unter George W. Bush dann 2008 auf den NATO-Beitritt der Ukraine und vor allem Georgiens drängte, führte eine unvorsichtige Provokation des von der US-Regierung unterstützten Präsidenten Micheil Saakaschwili zu einem fünftägigen Krieg mit Russland, der nicht nur die vollständige russischen Kontrolle über Abchasien und Südossetien bedeutete, sondern auch alle NATO-Beitrittsambitionen der georgischen Regierung begrub. Mit dem Krieg hatte Russland Tatsachen geschaffen und de facto die Tür für einen NATO-Beitritt Georgiens geschlossen. Tiflis sah sich nun auf absehbare Zeit mit zwei "eingefrorenen Konflikten" auf seinem Territorium konfrontiert.

Nur wenige Monate später präsentierte der damalige russische Präsident Medwedew den Entwurf eines Vertrags zur Neuordnung der europäischen Sicherheitsarchitektur. Das grundlegende Ziel der Russen war die vertragliche Verankerung eines russischen Vetorechts bezüglich künftiger NATO-Erweiterungen. So sah der Entwurf unter Artikel 2 vor, dass keine Vertragspartei in Aktivitäten involviert sein solle, welche die Sicherheit einer weiteren Vertragspartei signifikant beeinflusse. Stark verklausuliert bedeutete dies die Festschreibung des territorialen Status quo, da Moskau jederzeit eine weitere Osterweiterung der NATO mit Hinweis auf seine Sicherheitsinteressen hätte blockieren können. Wenig überraschend lehnten Washington und seine Alliierten diesen Vorschlag ab und delegierten die weiteren Konsultationen an die OSZE, wo die Initiative schließlich im Jahr 2010 ohne konkrete Ergebnisse versickerte.

2014 führten die Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew zum Sturz von Viktor Janukowytsch. Aus Sicht Moskaus bestand nun mittelfristig die Gefahr, dass die Ukraine ins "westliche Lager" wechseln könnte (inklusive EU- und NATO-Beitritt). Um dies zu verhindern, griff der Kreml auf dieselbe Strategie zurück, die bereits in Georgien zum Erfolg geführt hatte. Der einzige Unterschied war, dass Moskau auf Grund der militärischen Bedeutung des Hafens in Sewastopol diesmal keine abhängigen Satelliten schuf, sondern die Krim direkt annektierte und zu einem Teil von Russland erklärte. Zudem muss sich die Ukraine – ähnlich wie Georgien, jedoch auf deutlich höherem Gewaltniveau – seither mit einem anhaltenden Konflikt im Südosten des Landes befassen, den Russland je nach Bedarf jederzeit weiter eskalieren kann. Damit hat Moskau auf absehbare Zeit die Tür zur NATO auch für die Ukraine zugeschlagen.

Hintergrund der russischen Strategie-Wenden seit dem Zerfall der Sowjetunion war somit immer die Verhinderung der weiteren Ausdehnung der NATO nach Osten und damit der Erhalt des Status quo – zumindest so, wie Moskau ihn interpretiert. Das Ziel blieb das gleiche, die Strategien änderten sich.

Und wieder geht es um Macht und Einfluss

Stellen wir uns den Realitäten: Es geht hier um klassische Geopolitik im Stile des 19. Jahrhunderts. Die westlichen Sicherheitseliten diesseits und jenseits des Atlantiks scheinen mit dieser Erkenntnis gleichwohl ein Problem zu haben und finden keine überzeugenden Antworten auf die drängenden Fragen dieser "neuen/alten" Herausforderung.

Der prominente amerikanische Neorealist John Mearsheimer hat versucht, das russische Verhalten als Maßnahme zur Sicherstellung des "nationalen Überlebens" zu erklären (s. Mearsheimer, John J., in den Lesetipps). Laut Mearsheimer diene die Ukraine Russland demnach als "Pufferstaat mit enormer strategischer Bedeutung", woraus er schlussfolgert, dass Moskau die Ausweitung der NATO bis in die Ukraine als existenzielle Bedrohung für die russische Sicherheit – und damit das nationale Überleben – ansehen müsse. Obgleich diese neorealistische Sicht der Dinge dabei hilft, die grundlegende Logik des russischen Handelns zu erkennen, da sie den Wirkungsgrad der NATO-Erweiterung erkennt, liegt sie in einem entscheidenden Punkt daneben: Es geht hier schlicht nicht um das "nationale Überleben" Russlands.

Sowohl die USA als auch Russland haben sich im Rahmen des (zuletzt 2010 erneuerten) START-Vertrages ("Strategic Arms Reduction Treaty") sowohl bei der Anzahl nuklearer Sprengköpfe als auch bei deren Trägersystemen erneut auf paritätische Verhältnisse verständigt. Vor dem Hintergrund dieser nuklearen Ebenbürtigkeit ist das "nationale Überleben" beider Staaten im Falle eines militärischen Angriffs des Anderen im Grunde vollständig gesichert – zumindest solange beide davon ausgehen, rational zu handeln. Wenn Russland daher – wie etwa zuletzt in der Neufassung ihrer Militärdoktrin im Jahr 2014 – die NATO-Erweiterung öffentlich immer wieder als "Gefahr für ihre nationale Sicherheit" bezeichnet, ist eigentlich etwas anderes gemeint. Denn die NATO-Osterweiterung stellt wohl kaum eine existenzielle Gefahr für die nationale russische Sicherheit dar. Sie bedeutet vielmehr eine Gefahr für Russlands Macht- und Einflussanspruch.

Zunächst stellt die befürchtete Erweiterung der NATO in Richtung Ukraine für Putin und seinen Führungszirkel eine Gefahr für den Machtanspruch nach Innen dar, da sie als möglicher Vorbote eines Regimewechsels auch in Russland gesehen wird (Stichwort "farbige Revolutionen"). Außerdem verringert sie, in der Wahrnehmung des Kreml, die politische und militärische Fähigkeit zur Machtprojektion im "nahen Ausland". Darüber hinaus entwertet sie die eigenen Vorstellungen und Konzepte zur Neuordnung des postsowjetischen Raumes, in dem Moskau für sich selbst eine wirtschaftliche und kulturelle Führungsrolle vorgesehen hat. Schlussendlich reduziert sie Russlands Rolle als selbsternannter Beschützer aller Russen, auch der außerhalb des eigenen Territoriums, und beschädigt somit Russlands Selbstbild als Großmacht nachhaltig. Der befürchtete "Verlust" der Ukraine an den Westen ist somit auch angesichts ihres historisch und kulturell wichtigen Platzes im kollektiven russischen Gedächtnis machtpolitisch ein absolutes "No go" für Moskau.

Im Kreml weiß man natürlich, dass sich hier nicht die Frage des "nationalen Überlebens" stellt, aber mit teils alarmistischen Sicherheitsbedenken lässt sich im Westen nach wie vor gut Aufmerksamkeit erregen. Der Westen hingegen weiß diese sicherheitsfokussierte Rhetorik nicht richtig zu deuten – eben weil die NATO ja keine Gefahr für die Sicherheit Russlands darstellt – und lässt dadurch wiederum auch eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den hinter dieser Rhetorik stehenden machtpolitischen Prioritäten Russlands vermissen. Angela Merkels Wahrnehmung, dass Putin "in einer anderen Welt" lebe illustriert diese kognitive Dissonanz zwischen Russland und dem Westen auf geradezu symptomatische Weise.

Sollte Mearsheimer mit seiner Annahme Recht haben, dass Putins Denken und Handeln von neorealistischen Maximen geprägt ist, böte sich gerade diese Denkschule an, um die russische Sichtweise besser zu verstehen. Demnach hätte jede Runde der NATO-Erweiterung die Machtverteilung in Europa – den Status quo – nachhaltig zu Ungunsten Russlands verändert. Gemäß dieser Sicht wäre dann auch die NATO-Politik der "offenen Tür" als offensive Politik zur Veränderung des Status quo zu Ungunsten Moskaus zu deuten.

Viele westliche Sicherheitsexperten würden diese Sichtweise vermutlich rundheraus ablehnen, da sie die fortgesetzte NATO-Erweiterung weder als einen offensiv ausgerichteten Prozess, noch als eine Russland existenziell bedrohende Politik begreifen. Das Problem ist nur, dass Moskau diese Sichtweise eben nicht teilt. Folglich liegt Angela Merkel doch richtig: Die politischen Debatten in Moskau und den westlichen Hauptstädten werden heute tatsächlich in unterschiedlichen Welten geführt.

Auswirkungen auf die europäische Sicherheitslandschaft

Ein gewichtiger Aspekt der Putinschen Strategie zur Sicherung des Status quo ist ein schrittweiser Rückzug Russlands aus kooperativen Sicherheitsstrukturen. Seit ungefähr 2002 tritt Russland in der OSZE nicht nur als stetiger Kritiker der Organisation, sondern auch als offensichtlicher "Spoiler" auf. Als 2011 in der OSZE die Modernisierung des Wiener Dokuments über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen im militärischen Bereich verhandelt wurde, war es an Moskau, beispielsweise weitreichendere Maßnahmen zur Überwachung von Militärmanövern zu verhindern. Auf die faktische Aufkündigung des KSE-Vertrags im Jahr 2007 folgte im März 2015 das endgültige Ausscheiden der russischen Delegation aus dem KSE-Konsultationsmechanismus.

Seit 2008 verdächtigen die USA Moskau, an der Entwicklung einer verbotenen bodengestützten Mittelstreckenrakete zu arbeiten. 2014 machte Washington diese Vorwürfe dann öffentlich und bezichtigt seitdem die russische Seite, den Vertrag über das Verbot von nuklearen Mittelstreckensystemen (INF-Vertrag) zu unterlaufen. Mit dem russischen Einmarsch auf der Krim brach Moskau auch seine gegenüber der Ukraine eingegangenen Sicherheitsgarantien aus dem Budapester Memorandum von 1994. Damals hatte sich Kiew verpflichtet, seine knapp 2.000 Nuklearsprengköpfe nach Russland zu überführen. Im Gegenzug sicherte Moskau der Ukraine die volle territoriale Integrität zu. Parallel zu diesen bedenklichen Entwicklungen häufen sich verdeckte oder offene Drohungen aus Moskau, im Krisenfall die russischen Nuklearstreitkräfte einzusetzen.

Die Annexion der Krim und der darauf folgende Krieg in der Ukraine stehen somit sinnbildlich für den fast vollständigen Zusammenbruch kooperativer Sicherheitsstrukturen in Europa. Was in mühsamer diplomatischer Kleinstarbeit über viele Jahrzehnte errichtet wurde, erodiert seit nunmehr 15 Jahren zunehmend. Dabei ist der Krieg in der Ukraine bei Weitem nicht das alleinig auslösende Moment – noch ist der Westen unschuldig an dieser Entwicklung. Zu lange haben westliche Staatenlenker den Zeichen der Zeit nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt. Zu häufig bestimmten eigene Machtinteressen – wie im Falle der amerikanischen KSE-Politik – den Umgang mit den Instrumenten kooperativer Sicherheit.

Gleichwohl hat Moskau mit seinem Vorgehen in der Ukraine nicht nur diverse "rote Linien" überschritten. Viel schwerer wiegt die russische Entwertung der normativen Grundlagen kooperativer Sicherheit – festgelegt in den diversen Dokumenten der KSZE bzw. der heutigen OSZE. Prinzipien wie territoriale Integrität, staatliche Souveränität und der Nichteinsatz militärischer Gewalt galten über Jahrzehnte als Primärvektoren einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsordnung. Diese stehen nun offen zur Disposition.

Die konkreten Auswirkungen dieser Politik verheißen nichts Gutes für die kommenden Jahre. Ohne moderne und allgemein akzeptierte und eingehaltene Abkommen kooperativer Sicherheit wird es schwierig, dem militärischen Primat gegenseitiger Abschreckungsstrategien nicht erneut die Oberhand zu lassen. Dies gilt sowohl für sub-regionale Konflikte wie derzeit in der Ukraine, als auch für die weitere Konfrontation zwischen der NATO und Russland. Ohne den KSE-Vertrag ist dringend gebotene Zurückhaltung und Transparenz im konventionellen militärischen Bereich nicht mehr gewährleistet. Im Falle eines Auseinanderbrechens des INF-Vertrags droht Europa eine mögliche Re-Nuklearisierung. Erste Stimmen in den USA drängen bereits in diese Richtung. Europa stehen schwierige sicherheitspolitische Entscheidungen bevor.

Harte Entscheidungen stehen an

Eine Strategie, die ausschließlich auf das Bestrafen Russlands setzt, birgt mittelfristig erhebliche Risiken. Denn erstens ist eine konstruktive Zusammenarbeit mit Russland, sowohl für die Sicherheit Europas als auch die der USA, schlicht unentbehrlich. Dies zu negieren, hieße, die Realitäten zu verkennen. Und zweitens fehlt der jetzigen Strategie der Bestrafung ein zentrales Element: ein realistisches Ziel. Zwar fügen die verhängten Sanktionen der russischen Wirtschaft unzweifelhaft schweren Schaden zu, aber was soll damit letztlich erreicht werden? Etwa der Rückzug Russlands aus der Ukraine, inklusive der Krim? Beides dürfte auf diesem Weg kaum gelingen. Oder ist das Fernziel möglicherweise gar ein Regimewechsel in Moskau? Aber was kommt danach? Und wer kann vorhersagen, ob der nächste Kremlchef kooperativer sein wird – oder nicht vielmehr unberechenbarer?

Die Formulierung einer besseren Strategie für den Umgang mit Russlands Macht- und Sicherheitsinteressen wird jedenfalls einige bittere Einsichten und harte Entscheidungen erfordern. Das grundsätzliche Problem ist, dass es nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht gelang, gemeinsam mit Russland eine Sicherheitsarchitektur zu errichten, die gleichermaßen den westlichen wie auch den russischen Macht- und Sicherheitsinteressen entspricht. Die europäische Sicherheit braucht folglich einen Neustart. Aber wie kann ein solcher Neustart gelingen wenn beide Seiten noch immer zu wenig Verständnis für die jeweils andere Seite an den Tag legen? Und wie soll ein gemeinsamer Ansatz aussehen wenn Moskau sich zunehmend aus den bestehenden kooperativen Formaten zurückzieht?

Mittelfristig ist der derzeitige Zustand jedenfalls für keine der Seiten haltbar. Der Westen kann sich grundsätzlich entweder für eine vorsichtige Wiederannäherung an Russland, für eine kollektive Eindämmung Moskaus oder für eine möglichst geschickte Kombination aus beiden Strategien entscheiden.

Für eine gegenseitige Wiederannäherung gibt es gute Gründe. Für den Westen würde dies jedoch bedeuten, sich den russischen Machtansprüchen und der diskussionswürdigen russischen Selbstwahrnehmung als einer "exzeptionellen und singulären Weltmacht" stellen zu müssen. Praktisch hieße das beispielsweise, (selbst)kritisch die bisherige und zukünftige NATO-Politik der "offenen Tür" zu diskutieren, gemeinsam mit Russland über den Status und die Sicherheitsinteressen postsowjetischer Staaten wie der Ukraine, der Republik Moldau, Georgiens und Aserbaidschans nachzudenken, eine Politik, die ausschließlich auf die innere Transformation Russlands zielt, hintanzustellen und, nicht zuletzt, rüstungskontrollpolitische Antworten für das schwierige NATO-Russland-Verhältnis zu finden. Sich konstruktiv mit diesen Themen zu befassen, hieße keineswegs, sich die Sichtweise der derzeitigen russischen Eliten zu eigen zu machen oder russischen Interessen blind zu entsprechen.

Für Moskau wiederum würde es bedeuten, sein völkerrechtswidriges Vorgehen in den Ländern des "nahen Auslands" zu beenden und einen gesichtswahrenden Weg zurück in die Gemeinschaft europäischer Werte und der damit verbundenen Sicherheitsinstitutionen zu finden. Gerade vor dem Hintergrund der eigenen sozio-ökonomischen Schwäche und der vergleichsweise exorbitanten Stärke Chinas kann Russlands Zukunft nicht ausschließlich in Asien liegen. Noch weniger wird Russland einen nationalen Rückzug in die Politik pseudo-sowjetischer Autarkie durchstehen. Russlands Zukunft liegt in Europa. Es ist an den Herren des Kreml, dieser Einsicht politische Geltung zu verschaffen.

Lesetipps

Fussnoten

Ulrich Kühn ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und Koordinator der deutsch-russisch-amerikanischen Expertenkommission zu "Deep Nuclear Cuts".