Die Krim als besonderer Ort
Nachdem sich die Russländische Föderation im März 2014 die am nördlichen Schwarzmeerufer gelegene Krim einverleibt hat – es war die zweite Annexion der Halbinsel durch ein russisches Staatswesen nach 1783 –, wurde dieser Schritt von Völkerrechtlern und Osteuropaexperten zwar nicht einhellig, aber doch überwiegend als unrechtmäßig eingeschätzt und verurteilt. Viele Politiker, Medien und die Öffentlichkeit im Westen waren jedenfalls sehr über diesen Schritt Moskaus verwundert: Warum, so wurde gefragt, nimmt die Russische Föderation eine Ächtung durch die internationale Gemeinschaft für ein nur knapp 27.000 Quadratkilometer großes Gebiet in Kauf, auf dem nur etwas über zwei Millionen Menschen leben? Das Erstaunen im Westen war wohl nicht zuletzt auch deshalb so groß, als dass es sich bei der Krim um eine Weltgegend handelt, welche die meisten Europäer (und noch mehr US-Amerikaner) bis vor einem Jahr kaum auf der Landkarte gefunden hätten und über dessen Bewohner und Kultur selbst Geschichtsinteressierte bislang nur wenig zu sagen wissen. Das russische Vorgehen allein mit Machtpolitik erklären zu wollen, die letztlich darauf abzielt, die nach dem Zerbrechen der Sowjetunion verlorenen Gebiete in der einen oder anderen Form wieder unter den Einfluss Moskaus zu bringen, greift insbesondere im Fall der Krim zu kurz, denn sie ist keinesfalls "irgendein" Territorium aus der Erbmasse der UdSSR. Der Halbinsel kommt vielmehr aus einer ganzen Reihe von Gründen im kollektiven Bewusstsein der russischen Bevölkerung (und auch anderer ehemaliger Sowjetbürger und -bürgerinnen) eine enorme Bedeutung zu, ist die Krim doch für sie ein besonderer Ort, der außerordentlich hohes symbolisches Kapital birgt. Das soll im Folgenden vor dem Hintergrund der historischen Genese der russischen Herrschaft über die Halbinsel dargelegt werden. Einführend sei festgehalten, dass die Eroberung der Krim ursprünglich tatsächlich aus machtpolitischen Überlegungen erfolgt war, die Halbinsel aber alsbald als ein Ort wahrgenommen wurde, der nicht nur als historisch und kulturell auf das Engste mit dem russischen Kerngebiet verbunden, sondern geradezu als elementar russisch empfunden wurde. Dass dies nur mit Hilfe einiger eklatanter Umdeutungen historischer Fakten gelingen konnte, sei schon hier bemerkt.
Die Annexion von 1783
Die 1783 erfolgte Annexion der Krim durch das Zarenreich beendete das knapp ein Jahrzehnt dauerndes Experiment Katharinas II., über das muslimische Krim-Chanat eine indirekte Herrschaft auszuüben. Das seit dem 15. Jahrhundert unter osmanischer Oberhoheit stehende Gebiet hatte über mehrere Jahrhunderte die offene russische Südgrenze durch seine Reiterhorden und Sklavenzüge bedroht, war aber seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert technologisch gegenüber dem sich modernisierenden Russland ins Hintertreffen geraten. Die Annexion war ein kolonialer Akt, der im Kontext mit sehr viel weitreichenderen, letztlich aber unverwirklichten Plänen – nämlich dem Traum von einer Eroberung Istanbuls/Konstantinopels durch das Zarenreich – zu sehen ist. Ein besonderer Ort aus russischer Sicht war die Krim zum Zeitpunkt der Einverleibung definitiv noch nicht; vielmehr wurde von Zeitgenossen ihre geopolitische Bedeutung betont. Dies änderte sich allerdings schnell, erkannte doch schon Fürst Grigorij Potjomkin, der die Angliederung militärisch leitete, alsbald die landschaftliche Schönheit der mediterranen Südküste und träumte von einem wirtschaftlich lohnenden Erwerb für die Krone, wo der Weinanbau florieren und Seidenraupenplantagen den Wohlstand Russlands mehren sollte. Auch wenn sich diese hohen ökonomischen Erwartungen, vor allem auf dem Gebiet des Weinbaus, nur eingeschränkt erfüllen sollten, so verbreitete sich die Kunde von der schönen und klimatisch so bevorzugten Halbinsel recht schnell in ganz Europa. Die Krim wurde ein vielbereister Ort: Die russischen Zaren und bald auch viele andere Angehörige der Oberschicht verbrachten dort ihre Sommerfrische; seit den 1920er Jahren schickte die Sowjetunion ihre mit besonderen Ehren ausgezeichneten Pioniere in das bis heute existierende Jugendlager "Artek"; und seit den frühen sechziger Jahren verbrachten Millionen regenerationsbedürftiger "Werktätiger" ihren Urlaub auf der schönen Halbinsel. Die Krim wurde zum beliebtesten Urlaubsziel in der Sowjetunion – auch deshalb haben viele Russen heute noch eine so enge Bindung an diesen Ort. Schon im 19. Jahrhundert suchten zivilisationsmüde, politisch missliebige oder kranke mehr oder weniger berühmte Russen Erholung auf der Krim. Einer der bekanntesten war wohl Anton Tschechow, der in seinem oberhalb von Jalta gelegenen Anwesen vergeblich Heilung von seiner Tuberkulose suchte, dabei aber dem Touristenzentrum an der Südküste mit seiner Novelle "Die Dame mit dem Hündchen" ein literarisches Denkmal setzte. Noch präsenter dürfte nicht nur russischen Bildungsbürgern Alexander Puschkins Poem "Der Tränenbrunnen" sein. Der unbestrittene russische Nationaldichter, der in den 1820er Jahren während seiner Verbannung nur wenige Wochen auf der Krim weilte, ist wie viele weitere, hier ungenannte Schriftsteller und Maler dafür verantwortlich, dass die Krim im russischen kollektiven Bewusstsein als ein integraler Ort russischer Kultur gilt. Zugleich wurde bereits im 18. Jahrhundert stolz auf die antike Vergangenheit der Krim hingewiesen, immerhin gilt die Halbinsel ja als der Ort der klassischen Tauris, welche unter anderem durch die Oper Glucks oder Goethes "Iphigenie auf Tauris" den gebildeten europäischen Oberschichten ein Begriff war.
Russen und Krimtataren
In dem in vielen Varianten existierenden Narrativ von der russischen Krim wurden und werden nichtrussische bzw. nichtslawische Bevölkerungselemente, welche die Halbinsel seit Jahrtausenden prägten, ignoriert bzw. in eine mentale Distanz gerückt. Das bedeutet unter anderem, dass insbesondere die Krimtataren, die bis in das 19. Jahrhundert die Mehrheit der Krimbewohner ausmachten, entweder nicht thematisiert oder aber als gefährliche und illoyale Untertanen angesehen wurden und werden. Im Krimkrieg 1853–56 und auch im Zweiten Weltkrieg wurden die Krimtataren von vielen Russen als eine Art Fünfte Kolonne des militärischen Gegners angesehen – mit weitreichenden Konsequenzen: Während nach dem für das Zarenreich so unrühmlich ausgehenden Krimkrieg die Massenauswanderung der Tataren aus Russland in das Osmanische Reich zwar durch die Administration gefördert, nicht aber gewaltsam durchgesetzt wurde, kam es 1944 nach der Rückeroberung der Halbinsel durch die Rote Armee zu umfangreichen ethnischen Säuberungen. Bis heute belasten diese für Krimtataren traumatischen Deportationen nach Zentralasien das krimtatarisch-russische Verhältnis. Ein schon seit dem 18. Jahrhundert wiederholt, etwa von Fürst Potjomkin geäußerter "Traum", nämlich eine von seinem muslimischen Bevölkerungselement "befreite" und damit wahrhaftig russische Halbinsel, ging somit für einige Jahrzehnte in Erfüllung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion konnten dann aber viele Krimtataren wieder leichter in die alte Heimat zurückkehren, so dass ihr Bevölkerungsanteil wieder auf rund 13 Prozent anstieg.
Heldenstadt und Ort der Christianisierung?
Das problematische russisch-krimtatarische Verhältnis basiert nicht allein auf der religiösen Differenz, sondern vor allen Dingen auf der nicht mit historischen Fakten untermauerten Vorstellung, die Krimtataren hätten im Krimkrieg wie auch im Zweiten Weltkrieg mit den Osmanen bzw. mit der Deutschen Wehrmacht kollaboriert. Zwar kam es, wie in Kriegen allgemein üblich, partiell zur Unterstützung der Kriegsgegner durch Tataren, von einer massenhaften Kollaboration kann aber nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Im Zweiten Weltkrieg zeichneten sich Soldaten krimtatarischer Herkunft in der Roten Armee vielfach durch besondere Tapferkeit aus. Der Krimkrieg und der Zweite Weltkrieg sind zugleich der Grund dafür, dass die Halbinsel in der militärischen Erinnerungskultur Russlands eine so große Rolle spielt: Besonders die Stadt Sewastopol als Heimat der verehrten, tatsächlich aber militärisch immer nur mäßig erfolgreichen Schwarzmeerflotte, ist für Russen eine hochemotional besetzte "Heldenstadt", die 1854/55 den Belagerern 349 und 1941/42 immerhin über zweihundert Tage standgehalten hat. Mehrere tausend Denkmäler und Tafeln – so will es zumindest die Legende – erinnern in der Stadt an diese heldenhaften Verteidigungen, die zahlreichen Artefakte dürfte kaum jemand nachgezählt haben. In seiner Anfang Dezember 2014 gehaltenen Ansprache vor der Föderalen Versammlung sprach Präsident Putin die Annexion der Krim im März des gleichen Jahres an und rechtfertigte sie mit einem Argument, das bereits nach der ersten Annexion von 1783 häufig zur Legitimierung russischer Ansprüche auf die Krim angeführt worden war, nämlich mit ihrer religiösen Bedeutung für Russland. Konkret sagte Putin, dass die sakrale und zivilisatorische Bedeutung der Halbinsel für Russland mit der des Tempelberges für Juden und Muslime vergleichbar sei. "In Chersones", so Putin, "fand die Taufe des Großfürsten Wladimir statt, welche die Grundlage für die Christianisierung der Kiewer Rus war." Er bezog sich damit auf ein in der berühmten "Nestor-Chronik" erwähntes Ereignis, demzufolge eben dieser Wladimir im Jahr 988 unweit des heutigen Sewastopol das Christentum angenommen haben soll. Auch wenn die Anwesenheit des Großfürsten auf der Halbinsel im Rahmen eines Feldzugs im genannten Zeitraum wohl unstrittig ist, so bleiben hinsichtlich der Frage, ob seine Taufe wirklich auf der Krim stattgefunden hat, geschichtswissenschaftlich viele Fragen offen. Dies gilt auch für die in russischen Erzählungen über die Krim gern kolportierte Geschichte, auch habe der Apostel Andreas auf einer Wanderung vom Heiligen Land in das Gebiet des heutigen Russland auf der Krim geweilt! Insgesamt wird die Krim von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung Russlands also als ein russisches Gebiet wahrgenommen, das mit den zentralrussischen Gebieten unter anderem durch Kultur (siehe Puschkin) und russisches Heldentum (siehe Sewastopol) unauflöslich verbunden ist. Ihre Zugehörigkeit zu der seit 1991 unabhängigen Ukraine wurde deshalb niemals akzeptiert, und der noch Anfang 2014 bei vielen Russen wegen seiner autoritären Innenpolitik so unbeliebte Wladimir Putin weiß seine Bürgerinnen und Bürger zumindest in diesem Punkt hinter sich. Dass Russland sich mit der Annexion der Krim im März 2014 völkerrechtlich ins Unrecht gesetzt hat, bleibt gleichwohl eine Tatsache.
Lesetipps
Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich, Konstanz, 2007.
Kozelsky, Mara: Christianizing Crimea. Shaping Sacred Space in the Russian Empire and Beyond. DeKalb (Ill.), 2010.