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Russland, der Westen und die Ukraine. Eine Betrachtung aus Moskau | Russland-Analysen | bpb.de

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Russland, der Westen und die Ukraine. Eine Betrachtung aus Moskau

Sergey Markedonov

/ 12 Minuten zu lesen

Es ist die schwerste Beziehungskrise seit Ende des Kalten Krieges. Der Westen beschuldigt Russland, in der Ukraine das Völkerrecht gebrochen zu haben. Russland wiederum behauptet, der Westen habe schon früher auf dem Balkan oder im Mittleren Osten das Völkerrecht verletzt. Politiker und Journalisten sprechen immer häufiger von einem neuen Kalten Krieg. Doch der Vergleich hinkt.

Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte im Hafen von Sewastopol (Krim): "[D]ie geopolitischen Interessen Moskaus [sind] im Vergleich zur Sowjetzeit räumlich sehr viel enger begrenzt. Für das postsowjetische Russland hat das Gebiet der ehemaligen UdSSR Vorrang." (© picture-alliance/dpa)

Russland und der Westen: Neue Herausforderungen

Die politische Krise in der Ukraine, die durch den veränderten Status der Krim und den bewaffneten Konflikt im Donbas verschärft wird, ist zu einer äußerst ernsten und gefährlichen Herausforderung für die europäische Sicherheit geworden, der größten nach dem Zerfall Jugoslawiens und den ethnopolitischen Konflikten auf dem Balkan. Sie hat die heftigste Konfrontation zwischen Russland und dem Westen seit dem Ende des Kalten Krieges (markiert durch die Auflösung der Organisation des Warschauer Vertrages und dem Zerfall der Sowjetunion als einem der Pole einer zweigeteilten Welt) ausgelöst.

Differenzen zwischen Moskau einerseits und Washington und Brüssel andererseits hatte es schon früher gegeben. Markantestes Beispiel war der "Fünftagekrieg" im Südkaukasus, als die Versuche der georgischen Regierung, die Infrastruktur der von ihr nicht anerkannten Republik Südossetien zu zerschlagen und die Rolle Russlands in der Region zu minimieren, zu einem offenen Eingreifen der Streitkräfte Russlands führten. Die aktuelle Konfrontation erfolgt allerdings vor dem Hintergrund der Wahrnehmung, dass die Versuche des postsowjetischen Russland, sich unter Beibehaltung seiner "Sonderstellung" bei einer Reihe von Fragen (vor allem der Sicherheit seiner "näheren Nachbarschaft") in die westliche Welt zu integrieren, gescheitert sind.

Die Sanktionspolitik der USA und der Europäischen Union hat zu einer weiteren negativen Lageentwicklung beigetragen, wenn sie auch nicht der einzige Grund für das gedämpfte Wirtschaftswachstum und die Finanzkrise in der Russischen Föderation ist.

Vor diesem Hintergrund hat sich in Russland selbst eine "Abwehrhaltung" verfestigt, und jene Politiker und Publizisten, die gestern noch als Randerscheinungen betrachtet wurden, haben sich vor unseren Augen fast zu zentralen Sprechern der öffentlichen Meinung und zu Vertretern der Regierungsposition gewandelt. Vertreter offizieller Strukturen appellieren jetzt immer öfter nicht nur an den außenpolitischen Realismus mit seiner pathetischen Betonung der nationalen Interessen, der früher die Linie von Russlands Diplomatie ausgezeichnet hat; sie nutzen nun auch ein Arsenal romantischer Ansätze (Verweis auf die "Russische Welt" und die sakrale Bedeutung der Krim usw.). Die Differenzen mit dem Westen machen die Suche nach außenpolitischen Alternativen aktuell. Genau hierdurch lässt sich das verstärkte Engagement Moskaus in Richtung China, Indien, Türkei und Iran bei einer ganzen Reihe von Fragen erklären, von militärischer und technischer Zusammenarbeit und der Energiewirtschaft bis hin zu humanitären Problemen.

Wegen der tiefgreifenden Differenzen hat man jenen Themen nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, bei denen Russland und der Westen schon einen gewissen modus operandi gefunden hatten (Afghanistan, die Regulierung des Karabach-Konfliktes, das Vorgehen gegen islamistischen Terror). Die Entstehung des sogenannten "Islamischen Staates in Irak und Syrien" (ISIS) hat die ohnehin konfliktgeladene Lage in der Region in einem erheblichen Maße weiter destabilisiert. Dort ist ISIS sowohl für den Westen als auch für Russland zu einer Herausforderung geworden. Bereits jetzt führt ISIS einen Krieg gegen die USA und deren Verbündete. Gleichzeitig hat Abu Bakr al-Baghdadi, der Anführer dieser Terrororganisation, davon gesprochen, der Nordkaukasus müsse als Antwort auf die Moskauer Unterstützung für den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad destabilisiert werden. Doch selbst diese neue Bedrohung hat Washington und Moskau nicht gesprächsbereiter machen können.

Aus Sicht der USA und ihrer europäischen Verbündeten bedeutet das Vorgehen Moskaus eine Missachtung des Völkerrechts. Erklärungen, die Russland einen Verstoß gegen Bestimmungen des Budapester Memorandums (Sicherheitsgarantien aufgrund des Beitritts der Ukraine zum Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen, unterzeichnet am 5. Dezember 1994) vorhalten, sind in Statements von Vertretern US-amerikanischer und europäischer Diplomaten- und Expertenkreise zum Allgemeinplatz geworden. Die Führung Russlands geht ihrerseits davon aus, dass aufgrund der Ergebnisse der Volksabstimmung auf der Krim von einer legitimen "Rückkehr" der Halbinsel gesprochen werden kann. Der Bruch rechtlich bindender Abkommen wiederum wird innerhalb Russlands in der Regel damit erklärt, dass das kein Einzelfall sei; das werde insbesondere mit Blick auf die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien und im Nahen Osten deutlich, als äußere Einmischungen in Bürgerkriege und ethnopolitische Konflikte unter Umgehung der Vereinten Nationen erfolgten.

Konfrontation ohne Kalten Krieg

Politologen, Politiker und Journalisten verwenden zur Beschreibung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen immer häufiger die Worte "Kalter Krieg". Können wir von einer Rückkehr in die Zeiten der globalen Konfrontation sprechen oder wäre es voreilig, die Krim und den Donbas als Wendepunkt in der Geschichte der internationalen Beziehungen zu bezeichnen? Und wenn dem so wäre, wo liegt der Kern der derzeitigen Differenzen, die sich leider mit jedem Tag verschärfen?

Es fehlen heute einige grundsätzlich wichtige Merkmale, um die aktuelle Konfrontation als "Kalten Krieg" zu bezeichnen. Zum einen gibt es keine zweite Supermacht oder gar ein militärisches Bündnis, das sich um diese Supermacht und eine Ideologie bilden würde, die sich von den Haltungen und Werten der westlichen Welt unterschiede. Die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (OVKS) verfügt weder über die quantitativen noch über die Finanz- und Wirtschaftsparameter, um die Rolle einer "Organisation des Warschauer Vertrages im 21. Jahrhundert" einnehmen zu können. Und in der Russischen Föderation hat die Regierung – ungeachtet der scharfen Rhetorik – nicht vor, eine "Gesellschaft neuen Typs" zu schaffen und eine revolutionäre Ideologie in die ganze Welt zu tragen.

Gleichzeitig sind die geopolitischen Interessen Moskaus im Vergleich zur Sowjetzeit räumlich sehr viel enger begrenzt. Für das postsowjetische Russland hat das Gebiet der ehemaligen UdSSR Vorrang. Und die Wahrung der Sicherheit in diesem Teil der Welt wird nicht als Wiederherstellung des "Imperiums", nicht als Rechnung gegenüber der Geschichte oder als Trauma wegen des Zerfalls der Sowjetunion gesehen, sondern als Lösung aktueller Probleme. Tatsächlich ist die Festlandsgrenze zwischen Russland und Kasachstan die zweitlängste der Welt (sie ist sogar länger als die zwischen Mexiko und den USA). Im Falle einer kollabierenden Sicherheitslage in Afghanistan (und das ist mit dem Abzug der NATO dort mehr als wahrscheinlich) würde diese Grenze zu einer ernsthaften Bedrohung für Russland. Wenn wir uns nun der Krim zuwenden, so ist dort nach dem Zerfall der UdSSR fast 80 Prozent der Infrastruktur der russischen Schwarzmeerflotte konzentriert geblieben, einem der Schlüsselelemente für die Sicherheit der südlichen Landesteile. Viele ethnopolitische Konflikte im Südkaukasus sind unmittelbar mit Sicherheitsfragen im Nordkaukasus verbunden (der georgisch-ossetische Konflikt ist mit dem ossetisch-inguschischen verbunden, die Situation in Abchasien mit der Lage in Regionen mit beträchtlichem adygäischen Bevölkerungsanteil, die Lage in Tschetschenien und Dagestan mit dem Pankisi-Tal in Georgien). Selbst dort, wo Russland in die Lösung von Problemen involviert ist, die über die Grenzen der ehemaligen UdSSR hinausreichen (Naher Osten), versucht Moskau vielfach Sicherheitsfragen des postsowjetischen Raumes zu lösen, etwa in Bezug auf die Bedrohungen, die von radikalen Islamisten für den Nordkaukasus und das Wolgagebiet in Russland sowie für die Nachbarländer Georgien und Aserbaidschan ausgehen. Diese Wechselwirkungen werden bestehen bleiben, ganz gleich, wer den Posten des Präsidenten Russlands innehaben wird.

Unterschiedliche Wahrnehmungen

Somit liegt der Grund für das derzeitige Aufflammen der Konfrontation zwischen Moskau einerseits und Washington und Brüssel andererseits nicht in einem "zweiten Kalten Krieg" oder ideologischen Differenzen, sondern in einer Asymmetrie bei der Wahrnehmung der nationalen Prioritäten. Russland und der Westen haben unterschiedliche Bezugspunkte dafür, wodurch die Weltordnung und das Völkerrechte verletzt werden. Die Amerikaner und ihre Verbündeten bewerten das Vorgehen der Russischen Föderation als außerordentliche Verletzung der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen europäischen Grenzen. Für Moskau aber hat die Verletzung des Völkerrechts viel früher eingesetzt; die Ukraine-/Krimkrise wäre somit nur Teil eines weiter gefächerten Prozesses, der mit dem Zerfall der Organisation des Warschauer Vertrages, der UdSSR und Jugoslawiens sowie der Osterweiterung der NATO eingesetzt hat.

Die Geschichte mit der Ukraine ist nicht ein Streit darum "wer angefangen hat". Es ist die Geschichte eines fehlenden real funktionierenden Völkerrechts und eines fehlenden effektiven internationalen Schiedsverfahrens bei Streitigkeiten über die Beziehungen zwischen Zentrum und Region unter Krisenbedingungen. Erneut, wie zuvor auf dem Balkan oder in Transkaukasien, gab es bei den führenden globalen Akteuren keinen Konsens über klare Kriterien für eine Sezession oder aber eine Beibehaltung der territorialen Integrität.

Diese Ambivalenz hat ihre Wurzeln in jenen Jahren, als der Kalte Krieg feierlich für beendet erklärt wurde und für Europa und den postsowjetischen Raum praktisch ein einziges, lineares Projekt vorgeschlagen wurde, bei dem die NATO (in der bekanntlich die USA als wichtigstes Element für die europäische Sicherheit gelten) und die Europäische Union (der strategische Partner Washingtons) im Fokus standen. Interessanterweise gilt eines der zentralen NATO-Gebote aus der Welt des Kalten Krieges ("Russia out") auch in die Welt danach. Und das lineare Projekt zur Erweiterung nach und zur Angliederung von Eurasien wurde ohne Russland als gleichberechtigten Partner vorgebracht. De facto sollte Russland zu einem unter anderen postsowjetischen Staaten werden, ohne Sonderinteressen in den Weiten der ehemaligen UdSSR.

Nachbarschaftspolitik als Fortsetzung der innenpolitischen Agenda

Wenn das neue Russland nicht bereit war, die Last einer globalen Führungsrolle zu tragen (und es hierzu aus vielerlei Überlegungen – vor allem wirtschaftlicher und technologischer Art – heute auch nicht in der Lage ist), so ist seine "Nachbarschaftspolitik" in erheblichem Maße eine Fortsetzung der innenpolitischen Agenda. Diese Fortsetzung kommt auch in der Verbindung zwischen den Konflikten in Transkaukasien und dem Nordkaukasus, der Gewährleistung der Sicherheit in Zentralasien und der eurasischen Integration als Möglichkeit zur Weiterentwicklung des russischen polyethnischen Projektes sowie der Potentiale zur Stärkung der eigenen Industriebasis zum tragen. Als Rechtsnachfolger der UdSSR bei den Vereinten Nationen ist die Russische Föderation natürlich bestrebt, in dieser Organisation möglichst Nutznießer zu bleiben (ständiger Sitz im Sicherheitsrat), um die globale Dominanz einer Macht zu verhindern. Es geht hier aber weniger um immanenten Antiamerikanismus als um die Erkenntnis, dass eine Harmonisierung der Welt mit den Kräften nur einer Großmacht nicht zu erreichen ist.

Allerdings sind bislang keinerlei "Sondererwägungen Russlands" oder dessen Ansprüche auf eine gleichberechtigte Rolle außerhalb von Formaten, bei denen die "goldene Aktie" in Händen der NATO liegt, akzeptiert worden. Alle Veränderungen der Grenzen, die im Zuge dieses linearen progressistischen Projektes erfolgten (bei dem jedwede Erweiterung der Allianz als Erfolg der Demokratie und als ein weiterer Sieg über die "totalitäre Vergangenheit" wahrgenommen wird), sind begrüßt worden, etwa bei der Anerkennung der Unabhängigkeit der ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens und der autonomen Provinz Kosovo – ungeachtet der Konflikte, nicht geregelten Grenzstreitigkeiten und der Probleme der ethnischen Minderheiten. Grenzansprüche und -verletzungen durch andere Akteure (in erster Linie Russland) wurden jedoch abgeblockt. Wenn der Westen im August 2008 noch passiv blieb, weil Georgien für ihn nicht von erstrangigem strategischem Interesse war, so war bei der Ukraine der Punkt erreicht, wo Menge (der Unzufriedenheit mit der Politik Russlands im postsowjetischen Raum) in Qualität überging. Es war nicht vorstellbar, dass das der Bevölkerungszahl nach (selbst ohne die Krim) siebtgrößte und das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas Russland als Gewinn zufallen könnte. Ein solcher Trendwechsel bedeutete eine Herausforderung an die Ordnung, die de facto in Europa "nach Jalta" errichtet worden war; es ist eine Ironie des Schicksals, dass es wiederum die Krim ist, die die Aufmerksamkeit auf die Probleme der europäischen Sicherheit und der internationalen Ordnung lenkt.

"Die Eliten in Russland wollen auf fester Grundlage einen Staat schaffen, der in die globale Wirtschaft integriert werden kann, der aber gleichzeitig auch seine Innenpolitik vor äußerer Einwirkung schützen kann. Russland hat die Idee eines NATO-Zentrismus in der europäischen Ordnung, der sich auf die EU konzentriert, nie akzeptiert", konstatiert der bulgarische Politologe Iwan Krastew richtigerweise. Und hier gibt es längst nicht jene Kluft zwischen Boris Jelzin und Wladimir Putin, von der Beobachter in Russland wie auch im Westen gern schreiben. Zum Verständnis sei eine vergleichende Analyse zweier Reden empfohlen, der Rede Jelzins 1999 auf dem OSZE-Gipfel in Istanbul und Putins Rede 2007 auf der Münchener Sicherheitskonferenz.

Die oben aufgeführten Widersprüche werden die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nicht nur kurz-, sondern auch mittelfristig prägen.

Suche nach einem Ausweg aus der Sackgasse

Derzeit erscheint es kaum möglich, von wesentlichen Voraussetzungen für einen Durchbruch in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu sprechen. Die USA und ihre Verbündeten sehen, dass die Sanktionspolitik ihre Rolle bei der Schwächung der sozialen und wirtschaftlichen Position Russlands gespielt hat. Als Folge hiervon ist die Versuchung groß, wenn schon nicht den Druck fortzusetzen, so doch zumindest keine intensive Suche nach einem Ausweg aus der bestehenden Sackgasse zu unternehmen. Dabei werden rhetorisch eine "Wiederherstellung der ukrainischen territorialen Integrität" und eine "De-Okkupierung" (nicht nur der Gebiete im Südosten der Ukraine, sondern auch der Krim) als vorrangige Ziele betrachtet. Ein solcher Ansatz reduziert das Interesse Russlands am Verhandlungsprozess, der weniger als diplomatisches Format erscheint, denn als Plattform zur Präsentation ultimativer Forderungen. Durch sein Vorgehen in der zweiten Jahreshälfte 2014 hat der Kreml gezeigt, dass er im Donbas keine Wiederholung von Szenarien auf dem Balkan zulassen wird (analog zu den kroatischen Operationen "Oluja" (dt.: "Sturm") und "Bljesak" (dt.: "Blitz") gegen die nicht anerkannte "Republik Serbische Krajina", bei gleichzeitiger Blockierung des offiziellen Belgrad und dessen möglicher Intervention zum Schutz seiner Landsleute). Eine Wiederholung dieses Weges im aktuellen Kontext wäre für Russland nicht nur mit einem Imageverlust auf der internationalen Bühne verbunden, sondern auch mit innenpolitischen Komplikationen. Gleichwohl könnte das Verführende eines "schwachen Russland" den Westen zu einem härteren Vorgehen bewegen. Insbesondere, wenn die Separatisten im Donbas, die von den USA und den Staaten der EU ausnahmslos als "Marionetten" des Kreml wahrgenommen werden, bei der Lösung rein militärischer Probleme (Sicherung von Großstädten vor Artilleriebeschuss) anschließend neue politische Differenzen und Herausforderungen erzeugen würden. Ein versteckter Druck durch den Westen (in unterschiedlichen Formaten) könnte Moskau im Zusammenwirken mit den Finanzproblemen zu einer faktischen Anerkennung seiner Niederlage bringen.

In diesem Falle aber wären die USA und ihre Verbündeten auf sich allein gestellt und hätten es dann mit einem aktivierten Osten zu tun, und das vor dem Hintergrund, dass sich der Fokus der Weltpolitik derzeit aus Europa in Richtung der islamischen Welt und Chinas verschiebt. Dort würden sich die USA und die EU nicht ehemaligen Mitgliedern der Organisation des Warschauer Vertrages gegenüber sehen, die um einer Überwindung der sowjetischen Vergangenheit willen und in Erwartung zukünftiger Profite zu erheblichen Anstrengungen bereit sind. Auch hier würde ein "lineares Projekt" misslingen, was die mehr als ernüchternden Erfahrungen bei der Demokratisierung in Afghanistan und dem "Erweiterten Nahen Osten" deutlich belegen. Der Einfluss Russlands in Eurasien kann verringert und die Stimme Moskaus gedämpft werden. Doch stellt sich sehr wohl die Frage, wie produktiv das in einer sich wandelnden Welt für den Westen selber wäre. Umso mehr, als ein schwaches Russland weder Europa noch Asien Stabilität bringen, sondern im Gegenteil die Risiken und Bedrohungen für die Länder der EU und letztendlich auch für die USA, die ja intensiv in die Aufrechterhaltung der europäischen Sicherheit involviert sind, vervielfachen würde.

Somit ist nicht ausgeschlossen, dass diese "Hintergrundfaktoren" die USA und ihre Verbündeten dazu nötigen werden, an ihrer Position gegenüber Moskau Korrekturen vorzunehmen. Eine solche Entwicklung könnte auch durch innerukrainische Probleme (Verschleppung der Reformen, Zunahme populistischer und nationalistischer Stimmungen und in der Folge de facto und de jure eine Fragmentierung des Landes) befördert werden. Jedenfalls wird die mittelfristige Entwicklung in Vielem von einer nachhaltigen Stabilität Russlands abhängen. Wie sehr wird Moskau in der Lage sein, die Kosten der Krise auf ein Minimum zu reduzieren und die Aufgabe einer qualitativ besseren Steuerung innerhalb des Landes wie auch in der Außenpolitik zu lösen? Von den Antworten auf diese Frage wird die Wahl abhängen, die die USA und ihre Verbündeten in Bezug auf Russland treffen werden.

Viele Experten und Politiker sprechen heute von einer notwendigen Neugestaltung der Grundlagen für die europäische Sicherheit mit Hilfe eines "zweiten Helsinki", das die neuen Realitäten nach dem Zerfall der UdSSR, dem Ende des Kalten Krieges und der Osterweiterung von NATO und EU sowie die auf diesem Pfad entstehenden alternativen Zukunftsvorstellungen (Ansätze Russlands) berücksichtigt. Ohne eine Beendigung der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen und ohne eine erfolgreiche Suche nach Kompromissen hinsichtlich des postsowjetischen Raumes erscheint ein solcher Prozess allerdings kaum möglich. Zur Überwindung der bestehenden Barrieren ist es von größter Bedeutung, sich aus der "Gefangenschaft" der Ukrainekrise zu befreien und wieder einen vollwertigen diplomatischen Austausch aufzunehmen.

Übersetzung: Hartmut Schröder

Fussnoten

Sergey Markedonov ist promovierter Historiker und Dozent am Lehrstuhl für ausländische Regionalkunde und Außenpolitik der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (RGGU) in Moskau.