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Analyse: Die Russische Orthodoxe Kirche und das Konzept der "Russischen Welt"

Thomas Bremer

/ 7 Minuten zu lesen

Nicht nur im politischen Diskurs spielt das zivilisatorische Konzept einer "Russischen Welt" (russ.: "russkij mir") in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle; auch die Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) haben sich in ihren jüngeren Äußerungen häufig auf das Konzept einer "Russischen Welt" bezogen. Es gibt einige inhaltliche Konstanten, die immer wieder aufgeführt werden.

Die Christ-Erlöser-Kathedrale der orthodoxen Kirche Russlands in Moskau. (© picture-alliance, KUNZ / Augenklick)

Nicht nur im politischen Diskurs spielt das zivilisatorische Konzept einer "Russischen Welt" (russ.: "russkij mir") in den letzten Jahren eine immer wichtigere Rolle; auch die Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), die offiziell 2009 der Stiftung "Russische Welt" beigetreten ist, haben sich in ihren jüngeren Äußerungen häufig auf das Konzept einer von der westlichen Zivilisation unterschiedlichen und dieser überlegenen "Russischen Welt" bezogen. Dabei ist die inhaltliche Füllung des Konzepts von "Russkij mir" bei den Vertretern der ROK diffus. Es gibt jedoch einige inhaltliche Konstanten, die immer wieder aufgeführt werden. Die wichtigsten davon sind a) die historische Dimension, b) die Religion bzw. religiöse Herkunft, c) die Werte, d) die Sprache und e) der übernationale Charakter.

Historische Dimension

Die historische Dimension hat dabei eine doppelte Ausrichtung, sie ist sowohl rückwärts als auch vorwärts gerichtet. Die russische Welt wird als etwas wahrgenommen, was von den Vorfahren übernommen worden sei. Der Begriff der "Rus", also der Name für die vormoderne Herrschafts- bzw. Staatsform der Ostslawen, wird dabei als Bezeichnung für die Gemeinschaft der Russen, Ukrainer und Belarussen verwendet, "in der gesamten Zeit, als wir ein einheitliches Vaterland hatten, ungeachtet des herrschenden politischen Systems" (so Patriarch Kirill am 3. November 2009). Es wird also eine historische Gemeinsamkeit der Ostslawen unterstrichen, die auch noch für die Gegenwart und für die Zukunft Gewicht habe. Die Russische Welt gewährleiste den Zusammenhalt dieser Nationen auch in der Zukunft, ungeachtet aktueller politischer Grenzen. Sie ist damit so etwas wie eine unauflösliche Schicksalsgemeinschaft, aus der die dazugehörenden Nationen auch nicht durch politische Willensbildung austreten können: Die Zivilisation reicht tiefer als politische Projekte.

Religion, religiöse Herkunft, Werte

In Bezug auf die Rolle der Religion für die Russische Welt ist die Haltung der ROK ambivalent. Natürlich wird die Orthodoxie als die religiöse Grundlage der russischen Zivilisation gesehen. Oft wird – inzwischen auch in Reden des russischen Präsidenten – das "gemeinsame Taufbecken von Kiew" apostrophiert, also die Christianisierung der Rus zu Ende des 10. Jahrhunderts, aus der die orthodoxen Kirchen Russlands und seiner Nachbarstaaten hervorgegangen sind. Doch ist der religiöse Aspekt des Konzepts nicht exklusiv. Insbesondere dem Islam wird eine besondere Bedeutung zugemessen, sowohl als für Russland traditionelle Religion (gemäß der Präambel des Religionsgesetzes von 1997) als auch als Religion, in der gemeinsame Werte verteidigt werden. Das gilt vor allem für die Konstruktion eines Gegensatzes zu westeuropäischen Religionsgemeinschaften (meist mit Ausnahme der katholischen Kirche), denen es angeblich nicht mehr gelingt, ihre Gesellschaften zu prägen und die christlichen Traditionen zu erhalten. Echte oder angebliche Verbote religiöser Symbole in Westeuropa (Kruzifix-Urteile, Umbenennung christlicher Feiertage u. a.) lassen die Vertreter der ROK die Bedeutung von Religion und religiösen Symbolen im öffentlichen Raum betonen. Es geht also darum, dass Religion in Gesellschaften ein wichtiger und dominierender Faktor sein soll; dazu gehört ihre öffentliche Präsenz, aber auch die Gestaltung der Gesellschaften nach religiösen Prinzipien.

Diese Prinzipien werden im Diskurs der ROK zur Russischen Welt vor allem als (moralische) Werte beschrieben. Sie sind grundsätzlich überreligiös; so erklärte der Patriarch am 6. September 2014, diese Werte seien "in der Zivilisation, zu der wir gehören, die Werte des Evangeliums oder für diejenigen, die das Evangelium nicht anerkennen und zu anderen Religionen gehören, die Werte ihrer eigenen Religion, die sich auf moralischer Ebene in vieler Hinsicht mit der Botschaft des Evangeliums decken". Es gibt verschiedene konkrete Aufzählungen dieser Werte, etwa "Gottesergebenheit, Heimatliebe, Menschenliebe, Gerechtigkeit, zwischennationaler und interreligiöser Friede, Streben nach Wissen, Arbeitsliebe, Achtung gegenüber Älteren". Der Vorzug dieser Werte sei es, dass die Länder der Russischen Welt mit ihrer Hilfe einen würdigen Platz in der Menschheitsfamilie einnehmen könnten. Damit wird oft eine antiwestliche Dimension eingebracht: Die postulierten Werte seien im Westen in Vergessenheit geraten oder durch andere ersetzt worden. Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Differenz zwischen individuellen und kollektiven Werten: Während der Westen das Individuum und seine Freiheiten betone, vernachlässige er die Rechte von Gruppen wie Nationen oder Religionsgemeinschaften (oder etwa auch die der Familie); entsprechend wird dann Religionsfreiheit als Gruppenrecht gefordert, nicht primär als Individualrecht.

Sprache

Den Vorstellungen der ROK zufolge bedeutet das aber keineswegs eine Einheitlichkeit oder Einförmigkeit in der Russischen Welt. Vielmehr sollen in diesem Raum die verschiedenen Sprachen, Kulturen und religiösen Traditionen erhalten bleiben, so dass es – in den Worten des Patriarchen – "keine erstrangigen und zweitrangigen Völker geben wird". Die Russische Welt wird also als Raum einer Vielfalt dargestellt, die auf denselben zivilisatorischen Voraussetzungen beruht, aber keine Homogenität zur Folge hat. Der häufig verwendete Begriff von den "Ländern der Russischen Welt" impliziert, dass es in diesem Bereich unterschiedliche Staatsformen geben kann und soll.

Das zeigt sich auch beim nächsten Element, der Sprache. Es besteht kein Zweifel, dass die russische Sprache eine wichtige Rolle einnimmt. Ihr Erhalt und ihre Pflege werden von den Kirchenvertretern betont; das bedeutet jedoch nicht notwendig die Zurücksetzung anderer Sprachen. Den Kirchengemeinden der ROK im Ausland wird nahegelegt, Sprachunterricht zu ermöglichen, damit vor allem die jungen Menschen die Sprache ihrer Herkunft nicht verlernen. Doch unterstreicht der Patriarch, dass es ebenso denkbar sei, dort nach Bedarf Kurse in ukrainischer, belarussischer oder moldawischer Sprache anzubieten.

Die Sprache wird jedoch nicht nur als kulturelles Band zur (ehemaligen) Heimat verstanden, sondern ebenso als Bekenntnis zur Orthodoxie. In einer Ansprache macht Patriarch Kirill den jungen Leuten, die gerne mit einem ausländischen Akzent sprechen, den Vorwurf, damit "die russische Sprache, die russische Kultur, den orthodoxen Glauben abzulehnen". Das ist insofern interessant, als die Kirche in ihrem Innenbereich, nämlich im Gottesdienst, die russische Sprache ablehnt und die Zelebration nur auf Kirchenslawisch gestattet. In der Ukraine allerdings ist es den Gemeinden, die sich zur Gemeinschaft mit der ROK bekennen, gestattet, die ukrainische Sprache zu verwenden. Da die nicht-kanonischen orthodoxen Kirchen der Ukraine ihren Priestern das ermöglichen, war wohl der Druck auf die ROK zu groß. In Russland selber allerdings ist die Verwendung der modernen Schriftsprache nicht möglich.

Wie aber stellen die Vertreter der ROK die Bedeutung der Nation bzw. des politischen Raumes dar, der von der Russischen Welt gebildet wird? Zunächst ist zu sagen, dass die Russische Welt ausdrücklich als übernationales Projekt verstanden wird. Auch die ROK definiert sich selbst in ihrem Statut ausdrücklich als multinationale Kirche. Die Russische Welt ist auf die Rus bezogen, nicht auf Russland – damit ist sie offen für alle Menschen, die sich diesem kulturellen Modell zugehörig fühlen, unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit.

Übernationaler Charakter

Allerdings stellt sich die Frage, inwieweit die Angehörigen anderer Nationen überhaupt zur Russischen Welt gehören wollen. Für die Kirchenvertreter scheint das kein Problem zu sein; Metropolit Ilarion, inoffizieller Stellvertreter des Patriarchen, spricht von "Völkern, die bis vor kurzem sich als ein einheitliches Volk gefühlt haben und die bis in die Gegenwart einen einheitlichen religiös-kulturellen Raum darstellen". Aus der Sicht der Betroffenen lässt sich das als Vereinnahmung verstehen, die jedoch von der ROK nicht als solche wahrgenommen wird. Hinter der Aussage steht die Idee, dass moderne Staatsgrenzen die kulturellen Gemeinsamkeiten nicht aufheben. In der Regel werden übrigens mit den Ländern der Russischen Welt die Ukraine, Belarus und Moldova gemeint; manchmal werden aber noch andere wie etwa Kasachstan genannt.

Die Tatsache, dass die Russische Welt auf verschiedene Staaten verteilt ist, impliziert einen Integrationsprozess. Tatsächlich vergleichen die Kirchenvertreter zuweilen diesen Prozess mit dem, den die Europäische Union durchlaufen hat. Allerdings wird betont, dass wegen der gemeinsamen religiösen Grundlage die Integrationsprozesse der Russischen Welt erfolgreicher sein könnten als die der EU. Bemerkenswert ist hierbei, dass die ROK sich überaus intensiv bemüht, auf Verfahren und Prozesse innerhalb der EU Einfluss zu nehmen. Sie unterhält in Brüssel eine Repräsentanz, und wichtige Vertreter der Kirche versuchen sich regelmäßig mit den höchsten Repräsentanten der Union zu treffen und zu beraten.

Das politische Projekt und die Positionen der ROK

Es zeigt sich also, dass das Konzept der ROK zur Russischen Welt nicht konkret greifbar ist, sondern weithin im Vagen verbleibt. Zudem ist es oft in sich widersprüchlich. Dahinter steht also kein Masterplan, den die Kirche durchzusetzen versuchen würde, sondern eher das Bemühen, im Einklang mit politischen Vorgängen einen Platz für die kirchlich-religiöse Dimension zu bestimmen und zu besetzen. Die ROK hat in diesem Bereich nicht agiert, sondern reagiert.

Dass die Konzeption sich nicht mit einem bestimmten politischen Projekt verbinden lässt, ist daran zu sehen, dass sie als übernational dargestellt wird. Das ist der Grund für einen Teil der inhaltlichen Unschärfe des kirchlichen Denkens in diesem Bereich. Jedoch lässt sich von einer faktischen Übereinstimmung der Ziele zwischen dem politischen Projekt "Russische Welt" und den kirchlichen Vorstellungen sprechen.

Im kirchlichen Alltag spielt die Russische Welt keine zentrale Rolle; die wichtigen Repräsentanten der ROK treten allerdings auf Veranstaltungen wie dem "Weltweiten Russischen Volkskonzil" (russ.: "Wsemirnyj russkij narodnyj sobor") auf und erhalten so relativ weitreichende Publizität. Von einer Umsetzung solcher Konzeptionen in konkrete Politik ist allerdings kaum etwas zu merken: Wie sich die weltweit bestehenden Zentren "Russkij mir" weitgehend auf Sprachkurse für Nichtrussen und Bibliotheken für Auslandsrussen beschränken, so lassen sich auch in den Kirchengemeinden im Ausland keine besonderen Aktivitäten feststellen.

Allerdings bleibt festzuhalten, dass unterschiedliche politische Optionen innerhalb der ROK zu Spannungen führen, von denen auch Positionierungen wie die zur Russischen Welt betroffen sein können. Eine solche Vielfalt in den Positionen konnte man vor wenigen Jahren angesichts des Falles "Pussy Riot" feststellen; momentan betrifft es vor allem die Ukraine. Die dortige in Gemeinschaft mit der ROK stehende Kirche (die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats) steht vor der Spaltung: Der größere Teil der Gemeinden identifiziert sich mit der Ukraine und strebt mittelfristig die kirchliche Selbstständigkeit an. Die Folge sind relativ zurückhaltende Äußerungen der Kirchenleitung in dieser Frage; die Führer der ROK wissen, dass sie bei einer eindeutigen Positionierung einen großen Anteil ihrer Gläubigen verlieren würden. Damit aber ist auch das Projekt der Russischen Welt eigentlich gescheitert. Während man nun überlegen kann, ob das Projekt auf der politischen Ebene von der Eurasische Zollunion beerbt worden ist, bleibt auf ideeller Ebene lediglich die banale Feststellung, dass es eine gemeinsame Geschichte der ostslawischen Nationen gibt. Für die Gestaltung der Gegenwart hat die aber keine Bedeutung.

Fussnoten

Thomas Bremer lehrt Ökumenische Theologie, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.