Immigration nach Russland als gesellschaftliches Problem
Die widersprüchliche Migrationspolitik der russischen Regierung und die aufgeheizte Stimmung in der Bevölkerung haben 2013 zu vermehrten xenophoben Übergriffen auf Migranten aus dem Kaukasus und Zentralasien geführt (siehe beispielsweise die Unruhen in Birjuljowo im Oktober 2013). Diese Entwicklung wirft die Frage auf, welche Haltung die russische Zivilgesellschaft hierzu einnimmt. Gibt es zivilgesellschaftliche Initiativen, die dieser fremdenfeindlichen Stimmung entgegenwirken?
In der russischen Öffentlichkeit ist oft von einer Flut von Arbeitsmigranten aus den GUS-Staaten die Rede, doch in Wirklichkeit ist die Immigration nach Russland im internationalen Vergleich gering. Zudem zeigen Zahlen der Staatlichen Statistikbehörde "Rosstat", dass die russische Wirtschaft aufgrund der demographischen Entwicklung in zunehmendem Maße Arbeitskräfte aus dem Ausland benötigt (bis 2030 – so die Prognose – soll die russische arbeitsfähige Bevölkerung um 10,3 Millionen Menschen abnehmen). Trotzdem gibt es starke fremdenfeindliche Stimmungen, die sich gegen Immigranten aus Zentralasien und dem Kaukasus richten. Diese Ablehnung von Migranten hat zugenommen und schafft den Nährboden für Pogrome wie 2006 in Kondopoga, 2010 auf dem Moskauer Manegenplatz sowie 2013 in der Stadt Pugatschow und dem Moskauer Vorort Birjuljowo. Angst und Verachtung gegenüber Fremden ziehen sich durch alle Gesellschaftsschichten. Sie werden als Kriminelle und Illegale stigmatisiert, und nicht nur Nationalisten verwenden die Losung "Russland den Russen", um Rassismus zu schüren und die Stimmung gegen Migranten weiter anzuheizen.
Es gibt keine Migrationspolitik
Diese interethnischen Konflikte spiegeln sich auch im russischen Alltag wieder. Der durch den Föderalen Migrationsdienst praktizierte administrative und polizeiliche Umgang mit Migration ist nicht effektiv. Eine Stigmatisierung der Migranten als potenzielle Kriminelle und eventuelle Überlegungen zur Verschärfung des Migrationsgesetzes können die Probleme nicht lösen, die gerade auch auf kommunaler Ebene anfallen. Die nur situativen politischen Maßnahmen führen mitunter zu einer Verschärfung des Problems. Eine übergreifende Strategie existiert nicht, die Politik weiß auf die Migrationsfrage keine Antwort. Ein autoritäres, zentralisiertes System ist nicht im Stande, die regionalen Probleme dieses riesigen Landes zu lösen, deshalb liegt es vor allem an der Zivilgesellschaft, sich diesen Themen zu widmen.
Zivilgesellschaftliche Projekte: Aufklärungsarbeit
In Moskau und Sankt Petersburg gibt es verschiedene nichtstaatliche Projekte, die sich sowohl für mehr Toleranz, als auch für die Integration der Migranten einsetzen.
Einige von ihnen bestehen schon mehrere Jahre. Boris Romanow ist einer der Gründerväter eines zivilgesellschaftlichen Netzwerks zur Unterstützung von Menschen mit Migrationshintergrund in Sankt Petersburg. Er arbeitet mit den unterschiedlichsten NGOs zusammen, die zu Themen wie Toleranz, Antirassismus, Homophobie, Antiziganismus und Antisemitismus arbeiten. Finanziert durch das Goethe-Institut rief er 2012 "Respekt" ins Leben, ein Comic-Projekt internationaler Künstler, mit dessen Hilfe Schüler ihr Denken über Fremde reflektieren und selbst in Frage stellen können. Laut Romanow scheitern solche Projekte oft an der Bürokratie der Kommunen. Durch das neue NGO-Gesetz gebe es kaum noch Kontaktmöglichkeiten zu staatlichen Schulen, erläutert Romanow, so dass eine Zusammenarbeit höchstens über einzelne Lehrer, nicht jedoch über die Schuldirektion möglich sei. Dies widerspreche dem Konzept zivilgesellschaftlicher Arbeit, die vor allem jedermann offen stehen will. Durch das geschlossene staatliche Schulsystem komme es selten zu einer Kooperation mit interessierten Lehrern. Die Zusammenarbeit von Staat und Zivilgesellschaft ist unabdingbar, macht aber die Finanzierung der Projekte schwierig, da sie im Falle einer Unterstützung ausländischer Sponsoren unter das neue NGO-Gesetz fallen.
Im Zuge der neuen NGO-Gesetzgebung wurde das Antidiskriminierungszentrum "Memorial" in Sankt Petersburg geschlossen. Dessen ehemaliger Mitarbeiter Andrej Jakimow ist Anthropologe. Seine langjährige Arbeit mit ethnischen Minderheiten wie Sinti und Roma, Arbeitsmigranten und Staatenlosen macht ihn zu einem erfahrenen Koordinator der "Stiftung zur Unterstützung und Entwicklung von Bildungs- und Sozialprojekten" ("PSP-Fond") in Sankt Petersburg. Auch für ihn zählt die aktive Aufklärungsarbeit zu den wichtigsten Punkten seines zivilgesellschaftlichen Engagements. Die juristische und psychologische Betreuung von Migranten stehen neben der Sensibilisierung der russischen Bevölkerung im Zentrum seiner Arbeit. Seiner Erfahrung nach interessieren sich die OSZE und die UNO nur marginal für diese Themen, also müssen die Probleme der Arbeitsmigranten auf nationaler Ebene gelöst werden. Seine Kontakte zu verschiedenen Netzwerken in den Auswanderungsländern helfen den Migranten, sich schon vor der Einreise nach Russland auf den Aufenthalt vorzubereiten. In der Zusammenarbeit von Staat und Experten sieht Jakimow eine Möglichkeit, eine effektive Migrationspolitik zu entwickeln.
Für die Verbesserung der Migrationspolitik
Ähnlich denken auch Wjatscheslaw Postawnin und Natalja Wlasowa, die die Stiftung "Migrazija XXI wek" ("Migration im 21. Jahrhundert") gegründet haben. Sie selbst sind ehemalige Mitarbeiter des Föderalen Migrationsdienstes und kennen die staatliche Migrationspolitik von innen. Die Regierung unter Putin scheint keinerlei Lösungsansätze für die immer stärker zunehmende Xenophobie in Russland zu erarbeiten. In den fünf Jahren ihrer Existenz hat sich die Organisation in Moskau zu einem unabhängigen intellektuellen und wissenschaftlichen Zentrum entwickelt, das Vorschläge für die Verbesserung der staatlichen Migrationspolitik ausarbeitet. Diese Vorschläge werden oft von der Administration des Präsidenten berücksichtigt, jedoch nicht sofort und ohne Nennung der Urheberschaft. In Zusammenarbeit mit der Weltbank und dem Netzwerk "Mirpal" ("Migration and Remittance Peer-Assisted Learning") erstellt die Organisation Statistiken zu den Migrationsströmen aus den GUS Staaten, die oftmals stark von den offiziellen Zahlen des Föderalen Migrationsdienstes abweichen.
Flüchtlingsarbeit
Die von Swetlana Gannuschkina, einer wichtigen Menschenrechtlerin in Russland, 1990 mitbegründete Organisation "Grashdanskoje sodejstwije" ("Bürgerhilfe") beschäftigt sich nicht nur mit Arbeitsmigration, sondern zu vier Fünfteln mit Flüchtlingen. Es war die erste Organisation dieser Art in Moskau und wurde im Zusammenhang mit dem Konflikt um Berg-Karabach und dem Krieg in Tschetschenien gegründet, um den Flüchtlingen aus diesen Regionen zu helfen. Die Unterstützung der Arbeitsmigranten umfasst juristische Konsultation und die Lösung administrativer Fragen z. B. bei nicht ausgezahlten Gehältern, Deportationen, Einreiseverboten. Die Organisation stellt juristischen Beistand bei unbegründeten Klagen gegen Migranten, hilft bei Klagen gegen Arbeitgeber wegen nicht ausgezahlter Löhne, führt ein Projekt gegen Hate Crimes durch und veranstaltet Spendenaktionen auf ihrer Webseite. Besonders die ärztliche Versorgung ist wichtig, da der staatliche Notdienst Migranten oft seine Hilfe verwehrt. "Grashdanskoje sodejstwije" arbeitet eng mit dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM), und mit dem Netzwerk "Migrazija i prawo" ("Migration und Recht"), einem Programm des Menschenrechtszentrums "Memorial", zusammen. Obwohl in der offiziellen Rhetorik die Bedeutung der Migration für Russland unterstrichen wird (wie zum Beispiel in der "Konzeption der staatlichen Migrationspolitik 2025"), beobachtet man in der Praxis meist die stumme Hinnahme der Übergriffe auf Arbeitsmigranten. Nach dem Inkrafttreten des NGO-Gesetzes fand bei der Organisation eine Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft statt. Ob und, wenn ja, wie dieses Projekt weiterlaufen wird, ist bis heute unklar.
Arbeit mit Flüchtlingskindern
Im Rahmen der Organisation "Bürgerhilfe" gibt es zudem ein "Zentrum für Integration und Unterricht für Flüchtlingskinder", da das staatliche Programm, mit dem Kinder mit Migrationshintergrund Russisch lernen, nicht ausreichend ist.
Ähnlich wie ihre Kollegen aus Moskau arbeiten die Freiwilligen des zivilgesellschaftlichen Projekts "Deti Peterburga" ("Kinder von Petersburg") mit Kindern, dessen Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen nach Russland immigriert sind. Zwei Projektkoordinatoren der Organisation "[Wahl]Beobachter", Daniil Ljubarow und Irina Beljaewa, haben 2012 "Deti Peterburga" gegründet. Angefangen mit einem Angebot von Russisch-Grundkursen für Vorschüler mit Migrationshintergrund, hat sich dieses Programm mittlerweile so weit entwickelt, dass Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre an sechs verschiedenen Standorten in Sankt Petersburg an Russischkursen teilnehmen können. Bis 2014 hatte es noch nicht einmal feste Räumlichkeiten gegeben, die Mitarbeiter der "Deti Peterburga" organisierten sich ausschließlich über soziale Netzwerke. Der virtuelle Raum verbindet diese Organisation auch mit anderen zivilgesellschaftlichen Projekten. So zieht das Projekt nicht nur politische Aktivisten an, sondern vor allem Pädagogen, Linguisten und Studenten, die die Kurse vorbereiten und durchführen. Der Aufbau von kreativen Zirkeln gehört genauso zur Arbeit von "Deti Peterburga" wie die Koordination von Ausflügen in die Umgebung, Museen oder Theatern. Das Projekt ist abhängig von seinen Teilnehmern. Die fehlenden Sprachkenntnisse der Eltern führen oft zu großen Kommunikationsproblemen. Aber auch die wechselnden und meist äußerst schwierigen Arbeitszeiten der Eltern erschweren die Durchführung des Projekts. Die städtische Bürokratie versucht, den Elan der Mitarbeiter zu bremsen. Auch deshalb bleibt das Projekt nichtstaatlich.
Fazit
Misstrauen gegenüber der Regierung, soziale Probleme und Alltagsrassismus bewegen immer mehr Menschen dazu, sich eigenständig mit der negativen Entwicklung beim Umgang mit Migranten zu beschäftigen. Aus Interviews mit den Mitarbeitern der verschiedenen Organisation lässt sich schließen, dass eine russische Zivilgesellschaft entstanden ist, die die Migrationsfrage einerseits als Arbeit mit der Mehrheits-, also russischen Bevölkerung betrachtet, um diese zu sensibilisieren. Anderseits gibt es Initiativen, die vor allem konkrete Hilfe für Migranten leisten, um deren alltägliche Probleme zu minimieren.
Die Zivilgesellschaft bemüht sich Vorurteile abzubauen, die Migrationspolitik realistischer zu machen und Migranten wie Flüchtlingen konkrete Hilfestellung zu geben. Die Behörden sabotieren diese Arbeit. In den Großstädten wird der Zuzug von Migranten restriktiv gehandhabt. Arbeitgeber wissen um den oft schwierigen Status der Migranten und nutzen die Situation aus, um die Migranten weiter auszubeuten. Die Arbeit der Zivilgesellschaft zur Sensibilisierung der russischen Bevölkerung wird durch die offizielle Politik oft konterkariert.
Lesetipps
Judah, Ben: Russia’s Migration Crisis, in: Survival, 55.2013, Nr. 6, S. 123–131.
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Schenk, Caress: Controlling Immigration Manually: Lessons from Moscow (Russia), in: Europe-Asia Studies, 65.2013, Nr. 7, S. 1444–1465.
Spahn, Susanne: Die gelenkte Xenophobie. Migration und nationale Frage in Russland: Russland nur für Russen?, in: Osteuropa, 64.2014, Nr. 7, S. 55–67.
Tipaldou, Sofia, Katrin Uba: The Russian Radical Right Movement and Immigration Policy: Do They Just Make Noise or Have an Impact as Well?, in: Europe-Asia Studies, 66.2014, Nr. 7, S. 1080–1101.