Von der Sowjetunion nach Russland: Wahlen und Bürokratie
In der Sowjetunion hat es regelmäßig Veranstaltungen gegeben, die Wahlen genannt wurden, die aber – so die allgemeine Einschätzung heute – keine waren. 1989 begann eine neue Epoche der Wahlen in Russland, als der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR gewählt wurde und einige Wähler zum ersten Mal in ihrem Leben auf dem Stimmzettel nicht nur einen, sondern mehrere Namen erblickten. Die Zeit von 1989 bis 1993 war dann von verstärkter politischer Aktivität der Bevölkerung geprägt, die durch die tiefgreifenden Veränderungen in der Regierung des Landes geweckt wurde. Diese Aktivität schlug sich in der Praxis der Wahlen wie auch in der Wahlgesetzgebung nieder, die bis hin zum Jahr 1999 fortschrittliche Veränderungen erlebte. Es lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die Wahlgesetzgebung in Russland mit dem Föderalen Gesetz "Über die Grundgarantien der Bürger Russlands für die Wählerrechte und das Recht auf Teilnahme an einem Referendum" von 1997 europäische Wahlstandards erreichte.
Zur gleichen Zeit begann sich seit 1996 eine neue, dominierende politische Kraft herauszubilden – die Bürokratie. Im Unterschied zur sowjetischen Bürokratie, die offen ihre dominierende Rolle in Form der KPdSU erklärt hatte, drängte sich diese neue Kraft als Akteur in der Politik und bei Wahlen zwar nicht in den Vordergrund, war aber in Wirklichkeit nicht nur Organisatorin, sondern auch über Kandidaten und Parteien, die bei den Wahlen mit administrativen Ressourcen unterstützt wurden – Beteiligte der Prozesse dort. Die Widersprüche zwischen fortschrittlicher Wahlgesetzgebung und der rechtswidrigen Praxis administrativer Einmischung bei Wahlen, wurden durch eine intensive Gegenreform gelöst, die 2004 einsetzte, nachdem die Staatsduma praktisch der Administration unterstellt worden war.
Abstimmungsprozesse unter der Lupe
Der Verfall der Institution Wahlen wird vor allem durch eine Analyse der Wahlen, durch Informationen über die Vorgänge während der Wahlen und durch Gerichtsentscheide bestätigt. In diesem Beitrag sollen jedoch Belege anderer Art angeführt werden, nämlich die Entwicklung objektiver und offizieller quantitativer Daten zu den Wahlen. Anhand dieser soll nur eine der Stadien des Wahlprozesses dargestellt werden, nämlich die der Stimmabgabe und die Stimmenauszählung; gesetzeswidriges Vorgehen bei den Wahlen (Nichtregistrierung von Kandidaten, Einsatz administrativer Ressourcen während des Wahlkampfes und andere, quantitativ schwerer zu analysierender Maßnahmen) bleibt hier somit ausgeklammert. Die Phase der Stimmabgabe und Stimmenauszählung ist außerdem am transparentesten; auf sie konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Medien sowie der einheimischen und ausländischen Beobachter. Diese eindringliche Aufmerksamkeit hat zusammen mit den Massenprotesten Ende 2011 dazu geführt, dass die Organisatoren der Wahlen (Beachte: dieselben, die zuvor die Wahlen gefälscht hatten) beschlossen, die letzte Phase der Wahlen in höherem Maße ehrlich (dem Gesetz gemäß) zu gestalten. Das hat sich sofort auf die objektiven Daten ausgewirkt! Anders gesagt, die direkten Fälschungen Mitte der 2000er Jahre sind also hiermit von den Organisatoren nolens volens bestätigt worden.
Reden wir also von offiziellen Wahlstatistiken. Betrachtet werden soll hier das Verhalten zweier Werte aus der Wahlstatistik:
Die Abhängigkeit der Stimmergebnisse für den Amtsinhaber bzw. den Kandidaten oder die Partei, die von der Administration unterstützt wird, von der Wahlbeteiligung;
Die Verteilung der Wahlkommissionen nach Wahlbeteiligung.
Wahlbeteiligung und Abstimmungsergebnis
Unter Wahlbeteiligung wird hier das Verhältnis der Anzahl der Wahlberechtigten, die auf dem Gebiet einer Wahlkommission zur Wahl gegangen sind, und der Anzahl der Wahlberechtigten, die in dem Wählerverzeichnis dieser Wahlkommission eingetragen sind, verstanden. Angemerkt sei auch, dass als Wert für die Verteilung der Wahlkommissionen nach Wahlbeteiligung ein verwandter, für die Analyse günstigerer Wert betrachtet wird, nämlich die Verteilung des Wählerverzeichnisses in Abhängigkeit von der Wahlbeteiligung; das macht es möglich, sich eines zutiefst russländischen Artefaktes zu entledigen, nämlich den Verzerrungen, die sich aus dem unnatürlichen Wahlverhalten in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen ergeben, in denen Wahlberechtigte zeitweilig untergebracht sind.
Das erste Schaubild (Grafik 1) zeigt, dass sich die 1990er und 2000er Jahre bei dem Merkmal "Abhängigkeit der Stimmergebnisse für den Amtsinhaber bzw. den Kandidaten, der von der Administration unterstützt wird, von der Wahlbeteiligung" frappierend unterscheiden. Grafik 1 stellt die Ergebnisse aller Präsidentschaftswahlen dar, die in Russland stattgefunden haben. Die Punkte in dieser Grafik bezeichnen die Regionen Russlands (zwischen 89 Regionen 1991 und 83 im Jahr 2012). Es ist ersichtlich, dass in den 1990er Jahren die Stimmergebnisse für den Amtsinhaber bzw. den Kandidaten der Administration in jenen Regionen niedriger waren, in denen die Wahlbeteiligung höher war; in den 2000er Jahren hat sich dieses Verhältnis umgekehrt.
Betrachten wir nun, was mit der Wahlbeteiligung an sich geschah. Wenn wir diese in Intervalle von fünf Prozent teilen, für jedes Intervall die Anzahl der Wahlberechtigten berechnen, die bei jenen Wahlkommissionen verzeichnet sind, bei denen die Wahlbeteiligung in das jeweilige Intervall fällt (den linken Rand eingeschlossen, den rechten ausgenommen), und über alle Intervalle einen "geglätteten" Graph erstellen, dann erhalten wir für die Wahlen in den 1990er Jahren folgendes Bild: Wie erwartet ergibt sich das, was in der Statistik als Gaußsche oder Normalverteilung bezeichnet wird.
Betrachten wir nun die entsprechende Grafik für die 2000er Jahre (Grafik 3): Es fällt auf, dass die Wahlen von 2004, 2012 und insbesondere die Wahlen 2008 hier eine unerwartete (unnatürliche) Verteilung aufweisen.