Die veränderte Rolle des Rechts im Leben der Gesellschaft ist eine wichtige Tendenz der letzten Jahre. Dieser Wandel kommt in einer Ausweitung staatlicher Regulierung auf neue Tätigkeitsfelder und in einer Anwalt tätig ist, aus welchen Bereichen diese Personen zu diesem Beruf kommen und welchen Problemen sie sich gegenüber sehen. Wir haben den Versuch unternommen, diese Lücken zu schließen (s. die allgemeine Beschreibung der Studie).
Der Anwalt im Portrait
Das Durchschnittsalter unserer Respondenten betrug 40 Jahre und sie waren im Schnitt seit neun Jahren als Anwalt tätig (s. Tabellen 3 auf S. 9 und 4). 42 % der Befragten hatten vor Beginn der 2000er Jahre ihre juristische Ausbildung erhalten (bei den Mitgliedern des Juristenverbandes Russlands, russ. abgekürzt „AJuR“, waren es 46 %), ungefähr 30 % der Befragten haben ihr Jurastudium im Fernstudium absolviert. Der Anteil derjenigen, die ihre Ausbildung im Fernstudium erhielten, ist bei ehemaligen Mitarbeitern der Polizei- und Justizbehörden sowie des Gerichtssystems erheblich höher (35 % bzw. 45 %; s. Tabelle 6). 28 % der Respondenten sind unmittelbar nach dem Verlassen der Universität oder Hochschule Anwalt geworden, 20 % arbeiteten zunächst in einem kommerziellen Unternehmen. Unter den Anwälten, die Mitglied des Juristenverbandes „AJuR“ sind, haben 19 % zuvor im Gerichtswesen oder bei Polizei- und Justizbehörden gearbeitet, während bei denjenigen, die nicht Mitglied des AJuR sind, dieser Anteil 27,5 % betrug. Insgesamt, so die Ansicht der meisten Befragten (57 % der AJuR-Mitglieder und 73 % der Nichtmitglieder), haben neue Anwälte heutzutage sehr oft vor ihrem Berufseinstieg bereits Arbeitserfahrung in Polizei- und Justizbehörden gesammelt.
Bei der Beschreibung des Ausgangs der Strafverfahren ihrer Mandanten hoben die Befragten hervor, dass es ihnen oft gelingt, die Strafe für ihre Mandanten gegenüber den Anträgen der Staatsanwaltschaft abzumildern (über 60 % der Befragten) oder eine Bewährungsstrafe zu erreichen (rund 40 %). Einen umfassenden o, der teilweisen Freispruch zu erreichen, halten jedoch nur 8 % der Respondenten für möglich. Das Fehlen jedweder Ergebnisse für ihre Mandanten nannten über 20 % als häufige Erscheinung (s. Tabelle 9).
Auf die Frage, wie sehr ihre Dienste nachgefragt werden, sprachen die Befragten insgesamt von einer „Überproduktion“ an Anwälten (s. Tabelle 8). Dabei gaben Nichtmitglieder des AJuR im Vergleich zu Mitgliedern des Verbandes eine sehr viel skeptischer Einschätzung ab. Ganz ähnliche Unterschiede waren bei der Frage zu beobachten, welche Veränderungen es bei der Qualifikation der Anwälte in den vergangenen zehn Jahren gegeben hat (s. Tabelle 15). Bei Mitgliedern des AJuR lag die Bilanz von positiven und negativen Einschätzungen bei +21 % gegenüber –9 % bei Nichtmitgliedern des AJuR.
Normen der Berufsethik
Für ein effizient funktionierendes Rechtssystem ist ein einheitliches Wertesystem bei Juristen sehr wichtig; darauf haben u. a. Andrew Abbot 1983, Earl Johnson 1981 und Elizabeth Mertz 2007 hingewiesen. Daher haben wir den Teilnehmern der Studie eine Reihe von Fragen zu den Normen der Berufsethik gestellt, die sich auf die Ansätze u. a. von Overman/ Foss (1991), Tapp (1974) und die Arbeit von Parker/Evans (2007) stützten. Dabei konnten wir ihre Antworten mit Daten einer analogen Studie vergleichen, die 2012 unter Studenten juristischer Fakultäten und Hochschulen durchgeführt und 2013 von Anton Kazun veröffentlicht wurde (Wybor juristow meshdu wygodoj… in: Ekonomitscheskaja soziologija, 14.2013, Nr. 5).
Wie aus Tabelle 11 ersichtlich wird, lassen sich bei den Antworten zur Anwaltsethik erhebliche Unterschiede zwischen den Anwälten der verschiedenen Generationen feststellen. Anwälte, die ihre Ausbildung nach den 1990er Jahren erhalten haben, halten die Meinungen von Kollegen für weniger relevant und messen einer eigenen Verletzung der Berufsethik weniger Bedeutung bei. Die Unterschiede bei den Werten von berufstätigen Anwälten und Jurastudierenden sind noch erheblicher: Studenten stimmen eher der Ansicht zu, ein Anwalt solle vor allem an seinen persönlichen Nutzen denken, und halten wesentlich seltener die Meinung von Kollegen für einen wichtigen Faktor. Unserer Ansicht nach könnte dieser Umstand von einer „Degradierung“ der beruflichen Werte bei Juristen zeugen (die ihrerseits zum Teil auf die eindeutig übermäßige „Produktion“ von diplomierten Juristen im heutigen Russland zurückzuführen ist). Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse unserer Studie auch eine gewisse innere Heterogenität der Juristenschaft in Russland auf.
Wie haben die Respondenten um eine Einschätzung gebeten, wie sehr die Meinung zutrifft, dass einige Anwälte als Vermittler zwischen dem Justizsystem und ihren Mandanten auftreten, indem sie dabei helfen, einen bestimmten Ausgang des Verfahrens zu erreichen (s. Tabelle 12). 22 % derjenigen, die geantwortet haben, sind der Ansicht, dass das eine sehr verbreitete Praxis ist, und 60 % sagten, dass dies manchmal vorkommt. Gleichzeitig ist offensichtlich, dass Anwälte die mit solchen Praktiken arbeiten, wesentlich seltener bereit waren, an unserer Umfrage teilzunehmen. Daher könnte die reale Heterogenität der Juristen noch größer sein. Wir meinen, dass dieses Problem Gegenstand ernsthafter Diskussion unter den Vertretern des gesunden Teils der Juristen werden sollte.
Einschätzung des Zustandes und der Veränderungen im Juristenmilieu
Die Ereignisse der letzten Jahre haben gezeigt, dass die innerbehördlichen Statistiken kein objektives Bild zum Stand und den Praktiken der Rechtsanwendung liefern, während die existierenden Bewertungsdaten zur Effizienz der Arbeit der Innenbehörden (die unter der Bezeichnung „Knüppelsystem“ weite Bekanntheit erlangten) ernsthafte Deformierungen der Motivation ihrer Mitarbeiter verursachen können (eine eingehendere Analysen wurde in den Arbeiten von Panejach 2011 und Panejach/Titajew 2011 vorgelegt). Dabei fehlt es in Russland weiterhin an angemessen Mechanismen zur externen Bewertung der Polizei- und Justizbehörden. Vor diesem Hintergrund haben wir die Anwälte gebeten, das Maß einzuschätzen, in dem die gesetzlich verbrieften Rechte ihrer Mandanten gewahrt werden.
Bei dieser Frage nannten 26 % der Respondenten häufige Verletzungen durch Mitarbeiter der Staatsanwaltschaften, 50 % äußerten diesen Vorwurf in Bezug auf Ermittler und rund 60 % in Bezug auf Mitarbeiter der Polizei. Gleichzeitig förderte Umfrage erhebliche regionale Unterschiede zu Tage (s. Tabelle 17a). Die Wahrung der Rechte ihrer Mandanten wurde von Anwälten in den Gebieten Wolgograd, Wologda und Pensa merklich positiver eingeschätzt. Demgegenüber stechen Moskau und das Moskauer Gebiet (insbesondere bei Verstößen durch Ermittler) sowie die Regionen des Föderalbezirks Fernost negativ hervor. Fragen dieser Art erlauben es also, bestimmte „wunde Punkte“ zu identifizieren, an denen das Problem einer Verletzung der Mandantenrechte besonders akut ist. Überaus bezeichnend sind auch die Antworten zu den Gründen der Schuldspruchneigung bei Urteilen in Russland (der Anteil der Freisprüche beträgt hier wenige als 1 %). Wenn auch ein Teil der Respondenten (rund 38 %, s. Tabelle 18) diese Tendenz mit einer historisch gewachsenen Tradition oder mit mangelndem Einfluss der Anwälte beim Gerichtsprozess (29 %) erklärt, sieht die überwiegende Mehrheit (75 %) die Gründe darin, dass die Gerichte nicht über reale Unabhängigkeit verfügen (eine eingehender Analyse dieses Problems lieferten Panejach et al. 2010).
Gegenwärtige Rolle und neue Möglichkeiten des AJuR
Bei der Beschreibung der Rolle, die der Berufsverband bei der Entwicklung der Fachgemeinschaft spielt, hoben die Respondenten als wichtige Funktionen einer solchen Organisation die Kontrolle bei der Einhaltung Berufsethik, die Durchführung gesellschaftlicher Begutachtungen von Gesetzesvorhaben und die Vertretung der Interessen der Juristen gegenüber dem Staat an. Dabei ergibt sich aus den Antworten auf die Frage, in welche Tätigkeitsformen des AJuR die Respondenten selbst involviert sind, dass zwischen zwanzig und dreißig Prozent der AJuR-Mitglieder häufig an kostenloser juristischer Hilfe für die Bevölkerung teilnehmen sowie bei den Berufsfeiertagen, an Konferenzen und anderen Veranstaltungen mitwirken. Demgegenüber sind nur vier bzw. acht Prozent der Respondenten bei der Qualitätssteigerung in der juristischen Ausbildung bzw. bei Durchführung gesellschaftlicher Begutachtungen von Gesetzesvorlagen aktiv involviert.
Zu den Maßnahmen, die als notwendig genannt wurden, um das Ansehen des Anwaltsberufs zu erhöhen, gehörten vor allem erhöhte Anforderungen an Hochschulen, die Juristen ausbilden (auch erhöhte Anforderungen bei der Aufnahme in die Hochschule) sowie die Einführung zusätzlicher Anforderungen an Anwärter auf den Anwaltsstatus. Es ist zu unterstreichen, dass Mitglieder des AJuR bei diesen Fragen eine striktere Haltung einnehmen, was möglicherweise mit den Bemühungen zusammenhängt, die der Verband in dieser Richtung unternimmt.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ungeachtet eines offensichtlichen Interesses eines Teils der Anwälte an einem „kollektiven Handeln“ durch Berufsverbände, das reale Engagement der Respondenten im Rahmen eines dieser Verbänder, des AJuR, relativ gering bleibt. Unserer Ansicht nach ist das durch mangelnde Anreize zur Beteiligung im Verband zu erklären.
Die internationale Erfahrung bei der Entwicklung von Berufs- und Unternehmerverbänden belegt, dass für eine erfolgreiche Tätigkeit dieser Verbände „selektive Stimuli“ durch den Staat wichtig sind, indem etwa der Staat in deutlicher Form Vertreter der einzelnen Verbände in den Entscheidungsfindungsprozess im entsprechenden Bereich einbezieht. Diese „selektiven Stimuli“ entstehen für gewöhnlich, wenn die betreffenden Verbände den staatlichen Stellen die benötigten Dienste und Informationen bereitstellen können. Richard Doner und Ben Schneider haben in ihrer Arbeit von 2000 dargelegt, dass in einer Reihe von Entwicklungsländern ein solcher „Deal“ zwischen Staat und den führenden Unternehmerverbänden im Zusammenhang mit dem WTO-Beitritt dieser Länder erfolgte. Die nationalen Regierungen, die zur Stärkung ihre Verhandlungspositionen gegenüber der WTO Informationen über konkrete Branchen und Märkte benötigen, erweiterten die Möglichkeiten der Unternehmerverbände, an Entscheidungen über eine Regulierung der jeweiligen Märkte teilzuhaben. Analoge Effekte für die russischen Unternehmerverbände sind in den Arbeiten von Yakovlev/Goworun (2011) und Yakovlev et al. (2011) aufgezeigt worden.
Eine gewissermaßen parallele Situation ergibt sich in Russland jetzt durch die objektive Notwendigkeit zur Reform des Gerichtswesens und des Polizei- und Justizsystems. Reformen in diesem Bereich werden mit dem Fehlen belastbarer Informationen über die Praxis der Rechtsanwendung konfrontiert – auf Grund der erheblichen Verzerrungen, die für behördliche Statistiken kennzeichnend sind (durch die Effekte des „Knüppelsystems“). Die Vorschläge zur Entwicklung der Mechanismen gesellschaftlicher Kontrolle sind eine Reaktion auf dieses Problem. Die Umsetzung in der Praxis wird jedoch dadurch erschwert, dass zu einer angemessenen Bewertung der Gerichte sowie der Polizei- und Justizbehörden Fachkenntnisse und Kompetenzen vonnöten sind, über die der durchschnittliche Bürger jedoch meist nicht verfügen. Daher könnte eine jährliche Befragung von Anwälten in allen Regionen Russlands ein wirksames Instrument zur Bewertung des Systems der Rechtsanwendung werden.
Wir gehen davon aus, dass ein solches unabhängiges (externes) Instrument zur Bewertung der Rechtsanwendung sowohl von der juristischen Fachwelt als auch von gewissenhaften Vertretern aus Polizei und Justiz gebraucht werden wird, da es eine konzentrierte Aufmerksamkeit des Obersten Gerichts, der Leitung des Innenministeriums, des Strafverfolgungskomitees, der Staatsanwaltschaften auf jene Regionen (oder Gliederungen von Polizei und Justiz) ermöglicht, in denen pflichtwidrige Praktiken verbreitet sein könnten.