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Kommentar: Kein Konzert der Mächte über die Köpfe kleinerer Staaten hinweg

Karsten D. Voigt

/ 7 Minuten zu lesen

Eine stabile europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands bleibt das Ziel deutscher und europäischer Politik. Die Grundsätze der gegenwärtigen Ordnung, festgelegt in zahlreichen Vereinbarungen, wurden durch die russische Politik der letzten Monate in Frage gestellt.

Unter dem Motto "We are together" feiern Putin und tausende Teilnehmer den Anschluss der Krim an Russland. (© picture-alliance/dpa)

Für eine gesamteuropäische Friedensordnung

Eine europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands sollte weiterhin das Ziel bleiben. Moskaus Politik ist jedoch dafür verantwortlich, dass gegenwärtig Sicherheit vor Russland stärker gefragt ist, als Sicherheit mit Russland. Der Westen im Allgemeinen und die Bundesregierung im Besonderen hätten sich in den vergangenen Jahren mehr um eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Russland bemühen sollen. Dieses Versäumnis hatte Außenminister Steinmeier bei seinem Amtsantritt korrigieren wollen: In Anknüpfung an die von ihm entwickelte Modernisierungspartnerschaft plante er gleich zu Beginn seiner Amtszeit entsprechende Initiativen. Auch nach der Annexion der Krim bleibt das Streben nach Kooperation bestehen. Allerdings: Voraussetzung hierfür ist, dass Russland zur Achtung des Völkerrechts zurückkehrt und sich darüber hinaus wieder an den spezifischen Normen und Regeln orientiert, die in Europa seit dem Beginn der Entspannungspolitik vereinbart wurden. Diese Politik war erfolgreich: Sie hat über die Jahrzehnte hinweg zu einer in Europa einmaligen Vernetzung der wirtschaftlichen und politischen Interessen geführt.

Russland beschädigt die europäische Sicherheitsordnung

Die Verletzung der in zahlreichen bilateralen und multilateralen Vereinbarungen festgelegten Grundsätze durch Russland ist ein Angriff auf die Idee einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Russland untergräbt durch sein Verhalten die Konzepte und Argumente derjenigen, die in Europa ein Sicherheitssystem fördern wollen, das auf den Prinzipien gemeinsamer Sicherheit und denen des Völkerrechts basiert. Die russische Führung versucht ihren Kurswechsel als Reaktion auf die Politik der USA zu legitimieren. Ob die russische Führung von dieser Begründung tatsächlich überzeugt ist und ob nicht vielmehr neben außenpolitischen auch innenpolitische Ursachen zu den Änderungen der russischen Politik beigetragen haben, wird strittig bleiben. Eindeutig aber ist: Die Verletzung der in zahlreichen bilateralen und multilateralen Vereinbarungen festgelegten Grundsätze durch Russland stellt einen Angriff auf die Idee einer gesamteuropäischen Friedensordnung dar. Die russische Politik untergräbt die Argumente und Konzepte derjenigen, die in Europa bisher für eine kooperative Politik gegenüber Russland und eine enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen Russland und dem übrigen Europa eintraten. Bestärkt fühlen sich hingegen diejenigen in Europa und den USA, die schon immer auf einem Vorrang der Ziele und Instrumente klassischer Machtpolitik beharrten.

Zusammenarbeit als Voraussetzung für eine europäischen Friedensordnung

Die deutsche Politik hat in den letzten Monaten immer wieder Vorschläge für kooperative Krisenlösungen eingebracht: Verhandlungen an runden Tischen, eine aktive Rolle der OSZE, multilaterale Verhandlungen (wie die in Genf) und eine intensive Kommunikation mit der russischen Führung. Ob diese Strategie erfolgreich sein wird, hängt auch von den USA und den Mitgliedern von EU und NATO ab, natürlich auch von den Politikern in der Ukraine, vor allem aber von der russischen Führung. Wer eine stabile Friedensordnung in Europa will, muss die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands berücksichtigen. Gleichermaßen muss Russland die legitimen Sicherheitsinteressen seiner kleineren Nachbarn respektieren. Schritte in Richtung auf eine europäische Friedensordnung sind nur dann realistisch, wenn sie nicht nur den Interessen einiger Groß- und Mittelmächte, sondern auch denen der meisten kleineren Staaten entsprechen. Da die Erinnerung an Bedrohung und Dominanz insbesondere in kleineren Staaten lebendig ist, sind größere Staaten gut beraten, wenn sie mit den historischen Erinnerungen und Traumata ihrer Nachbarn konstruktiv umgehen. Der Dialog zwischen polnischen und russischen Historikern war ein erfreulicher Schritt in diese Richtung.

Die Interessen der ostmitteleuropäischen Nachbarn

Ein kooperatives Verhältnis zu Russland liegt im deutschen Interesse. Es trägt aber nur dann zu einer dauerhaften Stabilität in der Region bei, wenn Deutschland sich dabei um eine enge Abstimmung mit den ostmitteleuropäischen Staaten bemüht. Ansonsten würden die Staaten Ostmitteleuropas sich angesichts der Risiken eines deutsch-russischen Bilateralismus in Westeuropa oder den USA um Unterstützung bemühen. Deutschland war in der Gefahr, das Vertrauen von Regierungen verlieren, auf deren Unterstützung es innerhalb der EU und der NATO angewiesen ist. Ein deutsch-russischer Bilateralismus unter Missachtung der Interessen von Russlands westlichen und Deutschlands östlichen Nachbarn ist für die deutsche Politik keine Option. Fast alle Kritiker der gegenwärtigen Politik der Bundesregierung übersehen diesen Kontext. Diese Kritiker sind den Denkmustern Bismarcks und des Kalten Krieges verhaftet: Damals dominierte östlich der deutschen Grenzen der russische beziehungsweise sowjetische Faktor. Moralisch war es immer problematisch, aus Rücksicht auf Russland die Interessen und Empfindungen der kleineren ost- und ostmitteleuropäischen Staaten hintan zu stellen. Nach dem Ende des Kalten Krieges aber wäre eine solche Außenpolitik weder moralisch, noch realpolitisch akzeptabel. Russland bleibt für Deutschland weiterhin der wichtigste Partner östlich der Grenzen von EU und NATO. Aber seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Bedeutung der westlich von Russland gelegenen kleineren und mittelgroßen Staaten für die deutsche Außen-, Europa- und Wirtschaftspolitik erheblich zugenommen. Wenn Präsident Putin den Schutz russischer und russischsprachiger Minderheiten zum wichtigen Ziel seiner Außenpolitik erklärt und dabei die Anwendung militärischer Gewalt nicht ausschließt, dann sehen mehrere Nachbarstaaten Russlands in dieser Politik eine Bedrohung ihrer staatlichen Integrität. Alte Ängste und Erinnerungen werden wieder wach. Diese Sorge ist nicht Ergebnis westlicher Propaganda oder amerikanischen Drucks, sondern russischen Redens und Handelns.

Russlands Politikwechsel

Wer die Normen und Regeln kollektiver Sicherheit – etwa die der OSZE – verletzt, darf sich nicht darüber wundern, dass Institutionen kollektiver Verteidigung wie die NATO in den Augen vieler Nachbarn Russlands wieder an Bedeutung gewinnen. Wenn Russland im Widerspruch zu bilateralen und multilateralen Abkommen die territoriale Integrität der Ukraine missachtet und die Krim annektiert, dann wird keiner seiner Nachbarn russischen Vorschlägen für ein kollektives Sicherheitssystem in Europa – und hierauf zielten die Vorschläge Medwedews – vertrauen. Die USA und die EU haben zum Teil schwerwiegende Fehler im Umgang mit Russland gemacht. Aber die entscheidende Ursache für die gegenwärtige Krise liegt in den Veränderungen in der russischen Außen- und Europapolitik . Es ist die schwerste Krise in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges. Die Außenpolitik der russischen Regierung hat dazu geführt, dass für die meisten Nachbarn Russlands die Sicherheit vor Russland wieder aktuell geworden ist. Diese begegnen Russland mit Vorbehalten und Ängsten. Dass in den Reden russischer Regierungspolitiker seit längerem die gesellschaftlichen und kulturellen Unterschiede zu Westeuropa betont werden und dem gegenüber eine angeblich vom übrigen Europa abweichende Identität und Wertehierarchie Russlands hervorgehoben wird, vergrößert diese Sorgen. Russland hat sich stets gegen eine NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine gewandt. Die deutsche Politik hat diesen russischen Bedenken Rechnung getragen, als sie sich für Assoziationsverträge mit der EU, nicht aber für eine NATO-Mitgliedschaft dieser beiden Staaten eingesetzt hat. Seit längerem versucht Russland nun, auch die geplanten Assoziierungsverträge der EU mit früheren Sowjetrepubliken zu verhindern. Das ist Folge eines Politikwechsels: Für Moskau steht nicht mehr der Ausbau vertraglicher Beziehungen mit der EU, sondern ein eigenes Integrationsprojekt im Vordergrund, die Zollunion und die Eurasische Union,. Die gesellschaftspolitische und kulturelle Abgrenzung zu den in der EU dominierenden Werten führt dazu, dass in der Attraktivität der EU in Form von Assoziationsverträgen mit Georgien, Moldawien und der Ukraine keine Unterstützung eigener Reformbestrebungen, sondern eine Gefährdung geostrategischer Interessen Russlands und seines zunehmend konservativ und autoritär definierten Wertesystems gesehen wird: Die "Europäer" in Moskau haben an Einfluss verloren, die Ideologien der "Eurasier" dagegen an Resonanz gewonnen.

Die EU und das eurasische Integrationsprojekt

Die EU wendet sich nicht gegen eine enge Kooperation der Ukraine mit Russland, der Zollunion und der geplanten Eurasischen Union. Im Gegenteil. Nach Auffassung der EU lässt sich jedoch eine Vollmitgliedschaft in diesen eurasischen Integrationsprojekten mit den Bestimmungen der Assoziationsverträge nicht vereinbaren. Die deutsche Politik sollte sich, sobald die gegenwärtige Krise überwunden sein wird, erneut für ein kooperatives Verhältnis zwischen der EU, der Zollunion und der Eurasischen Union einsetzen. Hierzu gehört auch ein möglichst kooperatives Verhältnis zwischen Russland und den künftig mit der EU assoziierten Staaten Georgien, Moldawien und Ukraine. Die Regierungen dieser Staaten streben – unterstützt von einer Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung – eine möglichst enge Beziehung zur EU an. Viele ihrer Bürger sehen in einer Assoziierung mit der EU sogar nur einen Zwischenschritt zu einer Vollmitgliedschaft. Es ist nicht die EU, die gedrängt hat. Sie hat eher zu viel gezögert. Der Ukraine, Georgien oder Moldawien wegen der Einwände Russlands eine Assoziierung mit der EU zu verweigern, würde bedeuten, die Ziele, Interessen und Hoffnungen der Regierungen und Bevölkerungen dieser Staaten zu missachten.

Deutsche Russlandpolitik und östliche Nachbarn

Eine Missachtung grundlegender Interessen der kleineren Nachbarstaaten Russlands ist keine geeignete Grundlage für eine stabile Partnerschaft mit Russland. Deutschland wird innerhalb der EU und der NATO die Bereitschaft zur Kooperation mit Russland nur dann vergrößern können, wenn es gleichzeitig die kleineren Nachbarstaaten Russlands gegen Drohungen und Anschuldigungen in Schutz nimmt. Eine deutsche Russlandpolitik über die Köpfe der westlichen Nachbarn Russlands und der östlichen Nachbarn Deutschlands hinweg würde alte Ängste wiederbeleben und Ursache neuer Spannungen werden. Diese Einsicht gilt nicht nur für Ostmitteleuropa und Südosteuropa, sondern auch für Georgien, Moldawien und die Ukraine. Wenn Russland meint, zu einer Großmachtpolitik im Sinne des 19. Jahrhunderts zurückkehren zu müssen, dann wird es im 21. Jahrhundert in Europa einsam bleiben. Zumindest Deutschland wird sich an einem "Konzert der Mächte", bei denen größere Staaten über das Schicksal kleinerer oder auch mittelgroßer Staaten entscheiden, nicht beteiligen. Im Interesse Europas und im Interesse guter deutsch-russischer Beziehungen ist zu hoffen, dass Russland seine Politik künftig wieder an den in den letzten Jahrzehnten vereinbarten europäischen Normen und Regeln orientiert. Dann könnte es auch wieder realistisch werden, über Konzepte einer gemeinsamen Sicherheit, zunehmender wirtschaftlicher Verflechtung und politischer Zusammenarbeit zu verhandeln. In den nächsten Monaten entscheidet sich, ob die tiefe Krise in den Beziehungen zu Russland zeitlich und sachlich begrenzt werden kann, oder ob es zur Verfestigung eines negativen Trends kommt. Wäre Letzteres der Fall, dann dürften auch für gesichert gehaltene Errungenschaften und Gewissheiten der letzten Jahrzehnte erneut strittig werden.

Fussnoten

Karsten D. Voigt war von 1976 bis 1998 Mitglied des Bundestags, seit 1983 als außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, bis 1998 Vorsitzender der deutsch-russischen Parlamentariergruppe. Von 1999 bis 2010 war er Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit. Karten Voigt ist Mitglied des Präsidiums der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.