Alljährlich am 18. Mai begehen die Krimtataren den Jahrestag ihrer Deportation. Im Mai 1944 wurden auf Befehl Stalins mehr als 180.000 Menschen als "Kollaborateure" in Viehwaggons verladen und nach Zentralasien verschickt. Mehr als ein Drittel der Zivilisten überlebte den Abtransport nicht. Nach dem Tod Stalins wurden die Krimtataren zwar rehabilitiert, durften aber bis Ende der 1980er Jahre nicht, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Seit 23 Jahren wird der 18. Mai als großer Gedenktag mit Massenkundgebungen in Simferopol begangen. Die neue prorussische Regierung auf der Krim verkündete am 16. Mai, alle öffentliche Versammlungen seien bis zum 6. Juni verboten und sagte zum ersten Mal seit dem Zerfall der Sowjetunion die Gedenkveranstaltung der Krimtataren ab. Kurz zuvor wurde dem krimtatarischen Abgeordneten des ukrainischen Parlaments Mustafa Dschemiljew, der zu Sowjetzeiten wegen seines Kampfes für die Rechte der Krimtataren insgesamt 15 Jahre im Lager verbringen musste, die Einreise auf die Halbinsel verweigert. Aufgrund des Boykotts des Krimreferendums sowie wegen seiner kompromisslosen Haltung gegen den Beitritt zu Russland erhielt Dschemiljew für fünf Jahre Einreiseverbot nach Russland. Diese Entscheidung löste in der krimtatarischen Diaspora eine Protestwelle aus; die Krimtataren organisierten Anfang Mai eine Massendemonstration und blockierten dabei eine föderale Autobahn. Mehrere der Protestierenden wurden festgenommen. Gegen sie leitete die Staatsanwaltschaft strafrechtliche Verfahren ein. Um eine neue Massendemonstration zum 70. Jahrestag der Deportationen zu verhindern, wurden sämtliche Straßen und der Hauptplatz von Simferopol mit Polizeifahrzeugen und von russischen Sondereinsatzkräften der OMON abgeriegelt. Die russische Blogosphäre diskutiert daher über aktuelle Ereignisse auf der Krim und Geschichte der Deportation von Krimtataren.
"Der 46-jährige Krimtatare Musa Mamut hat sich mit Benzin übergossen und angezündet…". Aus der "Chronik der laufenden Ereignisse" 1968–1983
Die Journalistin Natella Boltjanskaja hat in ihrem Blog bei "Echo Moskwy" Texte zum Kampf der Krimtataren um das Rückkehrrecht und Interviews von Zeitzeugen veröffentlicht, die zu sowjetischer Zeit in der Samisdat-Zeitschrift "Chronik der laufenden Ereignisse" verbreitet wurden. "[…] Nr. 2 vom 30 Juni 1968: ‚Im Jahr 1944 wurde unser ganzes Volk verleumderisch des Vaterlandsverrats beschuldigt und gewaltsam aus der Krim ausgesiedelt. […] Im Laufe eines Tages, des 18. Mai, wurden rund 200.000 […] Frauen, Kinder und Invaliden ohne Vorwarnung durch NKWD-Truppen aus den Häusern vertrieben, auf Transportzüge verladen und unter Bewachung in Reservate abtransportiert […] Nach dem 20. Parteitag der KPdSU wurde von unserem Volk der Verbannungsstatus genommen, aber nicht die Anschuldigung wegen Vaterlandsverrats. Eine Rückkehr auf die Krim war jedoch weiterhin nicht erlaubt. Von 1957 bis 1967 haben wir an das ZK der KPdSU und das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR hunderttausende individuelle und kollektive Briefe mit der Forderung geschickt, das Unrecht zu beenden. Die Vertreter unseres Volkes in Moskau sind nach beharrlichen Anfragen von leitenden Vertretern aus Partei und Regierung empfangen worden. Jedes Mal hat man uns eine schnelle Lösung der krimtatarischen Frage versprochen, doch stattdessen folgten Arreste, Aussiedlungen, Entlassungen und Ausschlüsse aus der Partei. Am 5. September 1967 erging ein Erlass des Obersten Sowjets der UdSSR, der die Beschuldigung des Landesverrats von uns nahm. Doch indem man uns dort nicht als Krimtataren, sondern als ›Bürger tatarischer Nationalität, die früher auf der Krim gewohnt haben‹ bezeichnete, hat der Erlass unsere Vertreibung sowie unsere Liquidierung als Nation gesetzlich festgeschrieben […] Nach der Veröffentlichung des Erlasses sind mehrere Tausend Menschen auf die Krim gefahren, wurden aber erneut gewaltsam von dort ausgesiedelt. Die Protesterklärung, die unser Volk an das ZK der KPdSU geschickt hat, ist ohne Antwort geblieben. Ohne Antwort blieben auch Proteste von Vertretern der sowjetischen Öffentlichkeit. Das Regime antwortete uns lediglich mit Verfolgungen und Gerichtsverfahren. Seit 1959 sind über 200 Vertreter unseres Volkes zu bis zu sieben Jahre Haft verurteilt worden, obwohl sie stets im Rahmen der sowjetischen Verfassung agiert hatten […] Am 21 April 1968 sind in der Stadt Tschirtschik Krimtataren, die den Geburtstag Lenins begehen wollten, von Militär und Miliz auseinandergejagt worden; über 300 Personen wurden verhaftet. Im Mai sind 800 Vertreter unseres Volkes nach Moskau gekommen, um dem ZK der KPdSU einen Brief zu übergeben, in dem die Rückkehr des Volkes auf die Krim gefordert wurde. Am 16. und 17. Mai sind fast alle Vertreter festgenommen und unter Bewachung nach Taschkent abtransportiert worden. […] Täglich werden Dutzende Menschen in die lokalen KGB-Stellen vorgeladen und es wird durch Erpressung oder Drohungen versucht, sie zum Verzicht auf eine Rückkehr zu nötigen. […] Insgesamt sind nach dem Erlass zur politischen Rehabilitierung des krimtatarischen Volkes ca. zwölftausend Krimtataren, die versucht hatten, auf die Krim zurückzukehren, auf die eine oder andere Art – meist jedoch auf gewaltsame Weise – wieder zurück geschickt worden. […] Am 23. Juni 1978 hat sich der 46-jährige Krimtatare Musa Mamut mit Benzin übergossen und angezündet. Er, seine Frau Sekije Abdullajewa und ihre drei Kinder waren im April 1975 in ein kleines Haus auf der Krim gezogen, das sie erworben hatten. Die notarielle Beglaubigung des Kaufs sowie die polizeiliche Anmeldung wurden ihnen verweigert. Im Mai 1976 wurde Musa Mamut gemäß Paragraph 196 des Strafgesetzbuches der Ukrainischen SSR zu zwei Jahren Lager verurteilt, seine Frau zu zwei Jahren Freiheitsentzug auf Bewährung. Am 18. Juni 1977 wurde Mamut wegen guter Arbeit und mustergültiger Führung vorzeitig entlassen und kehrte nach Hause zurück. Es folgten erneute Vorladungen, Verwarnungen, Drohungen mit einem neuen Gerichtsverfahren und erneuter Aussiedlung. […] Am 20. Juni 1978 wurde ein neues Strafverfahren gegen Musa und seine Frau wegen Verstößen gegen die Pass- und Meldebestimmungen eingeleitet. Am 23. Juni 1978 hat sich Musa Mamut in Anwesenheit von Milizionären mit Benzin übergossen und angezündet. Nach einigen Angaben hat er sich mehrere Monate auf diese Aktion vorbereitet. Mamut erlitt Verbrennungen von 90 % der Hautoberfläche. Er wurde ins Krankenhaus nach Simferopol gebracht, wo er fünf Tage später verstarb. Die ganze Zeit war er bei vollem Bewusstsein und hat mehrmals erklärt, er habe sich aus Protest gegen die Deportation der Krimtataren aus ihrer Heimat angezündet." Die "Chronik der laufenden Ereignisse" ist u. a. auf der Internetseite von Memorial zu finden (Externer Link: http://www.memo.ru/history/DISS/chr/).
"Weswegen hat Stalin die Krimtataren deportiert?"
Der Blogger und russische Nationalpatriot Sergej Nikitskij befasst sich mit der Geschichte der Stalinschen Deportationen und fragt nach den Gründen für die Vertreibung der Krimtataren 1944: "[…] 20.000 der Krimtataren (jeder dritte im wehrfähigen Alter) haben eine Uniform des Dritten Reichs getragen, 10.000 haben in der Wehrmacht gedient und 10.000 als Polizisten der Besatzungsbehörden. Der einzige Fehler der Sowjetunion bestand darin, dass die aktive Zusammenarbeit eines bestimmten Teils der auf der Krim lebenden Tataren mit den deutschen Okkupanten unbegründeterweise der gesamten tatarischen Bevölkerung der Krim zugeschrieben wurde. Deportiert wurden alle ohne Ausnahme, einschließlich der Krimtataren, die in der Roten Armee gedient hatten. In einem NKWD-Telegramm an Stalin hieß es, dass insgesamt 183.155 Menschen ausgesiedelt wurden (abgesehen von den Militärangehörigen, die in kämpfenden Armeeeinheiten dienten und nach der Demobilisation 1945 in die Sondersiedlungen abtransportiert wurden). Nach offiziellen Angaben sind unterwegs 191 Menschen gestorben. Ich bitte Sie – es sind 70 Jahre vergangen. Warum bitten die Krimtataren immer noch Präferenzen für sich? Warum verlangen wir jetzt nicht von Deutschland Präferenzen für die vielen Millionen Kriegsopfer?"
"Festhalten und nicht hinlassen"
Der Abgeordnete der Gesetzgebenden Versammlung von St. Petersburg Boris Wischnewski (Jabloko) empört sich über die Anordnung der neuen Machthaber auf der Krim, mit der Kundgebungen der Krimtataren verboten werden: "[…] Sowohl der ehemalige ›Brigadier‹ mit dem Spitznamen Goblin, der installiert wurde, um die Krim zu regieren, wie auch der ehemalige Stellvertretende Befehlshaber der Schwarzmeerflotte, der installiert wurde, um Sewastopol zu regieren, sehen sich als Vertreter der russischen Staatsmacht und müssen theoretisch nach russischen Gesetzen agieren. Auf Grund der Verfassung der Russischen Föderation wie auch des föderalen Gesetzes über Kundgebungen, Versammlungen, Aufzüge und Demonstrationen ist es prinzipiell unzulässig, dass regionale Verwaltungen für einen irgendwie gearteten Zeitraum ein Verbot von Massenveranstaltungen verhängen. Solche Entscheidungen bedeuten eine Einschränkung der Bürgerrechte, die in Art. 31 der Verfassung der Russischen Föderation garantiert sind, und die gemäß Art. 56 der Verfassung nur im Falle eines Ausnahmezustandes eingeführt werden dürfen. Von einem Ausnahmezustand auf der Krim ist nichts bekannt. Folglich haben sowohl Aksjonow als auch Menjajlo einen äußerst schweren Verstoß gegen russische Gesetze begangen, der zu einer massenhaften Verletzung der von der Verfassung garantierten Rechte der Bürger geführt hat. Was nach russischer Gesetzgebung einen unmittelbaren Grund für eine Entlassung aus dem Amt darstellt. […]"
"Die Fünfte Kolonne auf der Krim": Eine Verschwörungstheorie
Der anonyme russischer Blogger ayzaler777 rechtfertigt den aktuellen politischen Kurs des Kreml auf der Krim und spricht von der Gefahr einer Radikalisierung der Krimtataren auf der Halbinsel: "[…] Am 21. April 2014 aber hat der Präsident der Russischen Föderation Wladimir Putin den Erlass ›Über Maßnahmen zur Rehabilitierung des armenischen, bulgarischen, griechischen, krimtatarischen und des deutschen Volkes sowie zur staatlichen Unterstützung bei ihrer Wiedergeburt und Entwicklung‹. Laut diesem Erlass werden schrittweise begründete Rechte der Krimtataren auf ihre ureigenen Länder sowie Quoten in der Regierung und Tatarisch als offizielle Sprache in der Republik garantiert werden. So sehen Repressionen und Diskriminierung aus. Hat jemand aus Kiew ähnliche Erlasse verabschiedet? Ich denke, das ist eine rhetorische Frage. Was fehlt also einem gewissen Teil der Krimtataren? Es gibt Autonomie, es gibt Rehabilitierung, Grund und Boden wurde zurückgegeben, die Sprache auch. Was braucht man noch? Geld? Die Finanzierung ist auch auf einem allerhöchsten Niveau. Und was ist es dann, das sie gehabt haben, als sie in der Ukraine waren, und das sie nun in Russland verloren hätten? Ein kleiner Teil immer und mit allem unzufriedener (oder gekaufter) Menschen ist die Lokomotive von Destabilisierung und Revolution. Die Organisation des ›Maidan auf der Krim‹ in Simferopol ist nur ein Teil der ›fünften Kolonne‹, die gegen Russland agiert. Dann wird es nur schlimmer werden: Vordringen des Wahhabismus und Stärkung radikaler Gruppierungen. Brandstiftung bei Moscheen und orthodoxen Kirchen sowie Entfernung der Mullahs (wie es in Tatarstan geschieht). Und verhüte es Gott, dass die Krim durch Egoismus und Gier eines kleineren Teils der nationalen Eliten zu einem zweiten Dagestan wird, wo täglich Anschläge verübt werden und in erster Linie Muslime unter den Attentaten zu leiden haben. Dies wird nicht sofort passieren, aber nach globalen Zeitschritten sehr bald. Damit das nicht geschieht, sollte man das Problem im Keim ersticken, damit es sich nicht weiter entwickelt und zum Anlass für eine Destabilisierung der Lage auf der Krim wird, die sich unsere ›Freunde‹ im Westen sehr wünschen, und die sie sponsorn."
Ausgewählt und zusammengefasst von Sergey Medvedev, Berlin (Die Blogs, auf die verwiesen wird, sind in russischer Sprache verfasst)