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Analyse: Die russische Herausforderung | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Die russische Herausforderung

Heinrich Vogel

/ 9 Minuten zu lesen

Dieser Artikel untersucht den Stand der deutsch-russischen Beziehungen nach den Regierungsgesprächen in Moskau sowie deren außenpolitisches Umfeld. Im Mittelpunkt stehen Überlegungen, wie eine Öffnung des russischen Modernisierungskonzepts ermöglicht werden kann.

Der russische Präsident Wladimir Putin und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel während der Deutsch-Russischen Regierungskonsultationen am 16.11.2012 im Forum des Grand Kremlin Palace in Moskau. (© picture-alliance/AP, Alexander Zemlianichenko)

Deutsch-russische Verstimmungen


Der Petersburger Dialog ist überstanden. Im Vorfeld hatte ein russischer Affront gegen den Koordinator für die deutsch-russische zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit für Aufregung gesorgt, eine Diskussion im Deutschen Bundestag zum Thema Rechtsstaatlichkeit in Russland am 19. Oktober 2012 ergab Übereinstimmung in der Feststellung beunruhigender Tendenzen. In der abschließenden Pressekonferenz der Regierungskonsultationen in Moskau am 16. Oktober fand die Kanzlerin dann, dem Auftrag des Deutschen Bundestages folgend, deutliche Worte gegen den repressiven Trend in der russischen Innenpolitik. Putin musste mit der absurden rhetorischen Frage, Merkel wolle doch wohl nicht mit ihrer Kritik an der Verurteilung der Mitglieder von Pussy Riot den Antisemitismus in Russland fördern, die Notbremse ziehen. Als positives Ergebnis wurde andererseits die Unterzeichnung eines 2,5 Milliarden Euro schweren Auftrags allein an Siemens für die Lieferung von Lokomotiven gefeiert. Ende gut, alles gut? Solange in zentralen Politikfeldern keine besseren Ergebnisse erzielt werden als "to agree not to agree", bleiben Zweifel am immer wieder beschworenen strategischen Charakter der deutsch-russischen Beziehungen. Politik und Öffentlichkeit in Deutschland sehen weiterhin Besorgnis erregende Defizite an Rechtsstaatlichkeit in Russland. Die russische Gesellschaft ihrerseits ist aufgewacht und fordert die Einlösung der wiederholten Versprechen Putins, ernsthafte Reformen durchzusetzen, aber ihre Emanzipationsversuche werden verleumdet und systematisch unterdrückt. Die deutsche Außenpolitik scheint hilflos gegenüber dem Kurs der russischen Führung, die die wachsende Unruhe in der eigenen Bevölkerung mit patriotisch-aggressiver Propaganda und Schuldzuweisungen an ein feindliches Ausland einzudämmen sucht. Der demonstrative Autismus der russischen Außenpolitik zwingt jetzt zu einer illusionsfreien Überprüfung jener Erklärungsmuster, die eine demokratisch legitimierte Transformation Russlands nur als eine Frage der Zeit ansehen.

Schwachstellen westlicher Politik


Im Rückblick auf zwanzig Jahre Transformation erweisen sich westliche Klagen über Defizite an Rechtsstaatlichkeit im heutigen Russland als in hohem Maße selbstgerecht, denn das Beratungskonzept des Westens war vom Zeitgeist des angelsächsischen Neoliberalismus geprägt, in dem die mühsame Institutionalisierung der Funktionen des Rechts weit hinter dem Mythos vom unfehlbaren Erfolgsrezept der "Market-Democracy" rangierte. Westliche Frustration über Stagnation und Rückfall der Politik in Russland fallen heute umso heftiger aus, je naiver die Erwartungen an den Zeitbedarf der angestrebten Transformation waren. Die russische Führung benutzt jetzt das Argument der zeitintensiven Komplexität des "Übergangs" zur Kaschierung innerer Blockaden sowie zur Rechtfertigung der Sabotage einer umfassenden Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Für Versagen und Ignoranz wird Verständnis eingefordert, gleichzeitig aber in aller Machtarroganz der Anspruch erhoben, das richtige Timing und Tempo notwendiger Reformen zu kennen. Angesichts solcher Intransigenz ist jedes mit der Formel vom "langen Atem" signalisierte Verständnis für die überlastete Führung in Moskau kontraproduktiv. Eine zielführende Strategie für den Übergang zu einem tragfähigen, d. h. demokratisch legitimierten politischen System kann nur in Russland selbst entwickelt werden. Die politischen Eliten des Landes sind jedoch durch die Sowjetzeit und die Goldgräberstimmung der 1990er Jahre geprägt. Das Ergebnis ist ein korrupter Petro-Staat, dessen autoritäre Strukturen nur dürftig mit demokratischen Ornamenten kaschiert sind. Die neue Oligarchie wird ihre Machtpositionen nicht freiwillig räumen, schon gar nicht für das Projekt eines funktionsfähigen Verfassungs- und Rechtsstaats. Damit ist die Verschärfung der innenpolitischen Konflikte in Russland programmiert. Diese bittere Realität muss ohne Weichzeichner zur Kenntnis genommen werden. Die westliche Diskussion über Entscheidungsabläufe, Clan-Strukturen und Partikularinteressen im "tiefen Staat Russlands" sowie mögliche Motive der Handelnden in Moskau verharren im Ungefähren der Spekulation über "den Kreml" und eine Blackbox, genannt "Putin". Die gängige Personalisierung der russischen Probleme von Stagnation und Regression verdeckt jedoch deren systemische Ursachen, im Nebeneffekt bedient sie sogar die byzantinischen Bedürfnisse der dort herrschenden Klasse. Die langfristige Stabilisierung der Beziehungen zu einem für Europa eminent wichtigen Land, dessen wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Untergrund in schwer berechenbare Bewegung geraten ist, fördert sie sicher nicht.

Die deutsche Haltung


Deutschlands Interesse am Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen dient als zentrales Argument für den Ruf nach Mäßigung der Kritik an politischen Fehlentwicklungen in Russland. Deutsche Wirtschaftsverbände beschränken ihre Problembeschreibungen mit Rücksicht auf das hochgradig politikabhängige Umfeld des Russlandgeschäfts auf Forderungen nach zügiger Umsetzung "der Modernisierung" und die Formulierung vager Hoffnungen ("das Entstehen eines russischen Mittelstands"). Gleichzeitig mahnen ihre Vertreter die Politik mit dem stereotypen Hinweis auf deutsche Arbeitsplätze und Exportchancen zu öffentlicher Zurückhaltung. Die Grenze zur peinlichen Anbiederung ist hier längst überschritten. Zweifellos sind die Wirtschaftsbeziehungen der wichtigste Stabilisator bei der Suche nach gemeinsamen Interessen und belastbaren politischen Beziehungen. Die weitere Entwicklung ihres objektiv vorhandenen Potenzials leidet jedoch unter den Unwägbarkeiten der russischen Innenpolitik und deren notorischem Mangel an Transparenz. Der russische Beitritt zur WTO ist als Fortschritt im Sinne der Öffnung zur Weltwirtschaft zu begrüßen. Dennoch bleiben langfristige Planungen deutscher Unternehmen mit erheblichen Risiken belastet, solange die strukturellen Rahmenbedingungen für ausländische Investitionen in Russland nicht dekontaminiert sind. Die Gefahr einer Infektion der deutschen und europäischen Wirtschaft mit den Praktiken des korrupt-kriminellen Hybrid aus Politik und Wirtschaft in Russland sollte keinesfalls unterschätzt werden. Durchsichtige russische Propagandaformeln genießen in der deutschen Diskussion eine völlig unangemessene Aufmerksamkeit. Dazu gehört vor allem die seit Jahren von russischen PR-Agenten lancierte Drohung mit Liebesentzug, d. h. einer möglichen Umorientierung der Außen- und Wirtschaftspolitik Moskaus nach Asien, weg von den widerspenstigen Partnern in Europa. Solche angeblich strategischen Überlegungen lösen erstaunlich nervöse Reaktionen bei Wirtschaftsvertretern und Anhängern einer geostrategischen Denkschule in Deutschland aus. Andererseits fühlt sich die deutsche Politik immer wieder verpflichtet, dem Vorwurf der Russophobie ausführlich und beflissen zu widersprechen. Dabei hat diese Anschuldigung keine andere Funktion als die der letzten Rückfallposition beim Abblocken kritischer Fragen nach der Substanz russischer Politik.

Zwangsvorstellungen in Russland und den USA


Moskaus Rolle im Krisenmanagement der Vereinten Nationen wie auch in regionalen Gremien der internationalen Gemeinschaft konzentriert sich auf dilatorisches Taktieren als Schutzpatron für autoritäre Regime. Das Motiv ist klar: Präzedenzfälle international sanktionierter Einmischung von außen sollen um jeden Preis vermieden werden, Waffengeschäfte mit Altkunden wie Assad-Syrien behalten Vorrang vor gemeinsamen diplomatischen Initiativen zur Kriseneindämmung mit westlichen Staaten. Die russische Führung sieht sich damit auf dem sicheren Weg zur Wiederherstellung früherer Großmacht. Dabei ist die fortgesetzte, auf Aspekte der Hard Power reduzierte Rivalität mit den USA der alleinige Erfolgsmaßstab in einer imaginierten Aufholjagd. Bei näherer Betrachtung erschließt sich eine absurde Symmetrie in der Programmatik russischer wie amerikanischer Außenpolitik: "Russlands Größe" bzw. "America‘s Greatness" haben identische Funktionen bei der patriotischen Mobilisierung. Feindbilder und Hegemonialstrategien des Kalten Krieges sind in diesem Zusammenhang unentbehrlich. Aktuelle Bestätigung für dieses Weltbild finden Konservative auf beiden Seiten in der Georgienkrise von 2008 (natürlich mit diametral unterschiedlichen Schuldzuweisungen), vor allem aber im anhaltenden Streit um die Stationierung amerikanischer Abfangraketen (BMD) in Ost-Mitteleuropa. Vorschläge für eine Überbrückung der Vertrauenslücke (engere Zusammenarbeit im Rahmen der NATO, ein Inspektionsregime, Weitergabe kritischer Daten, Kooperation bei der Lösung der technologischen Probleme dieses Waffensystems) werden als inopportun abgeblockt. In der herablassenden Perzeption durch amerikanische Konservative (Demokraten wie Republikaner) muss Europa wegen politischer Unfähigkeit und Selbstgefährdung durch Naivität vor sich selbst geschützt werden. Deutschland steht ohnehin unter Bewährungsaufsicht, weshalb jede Andeutung von Verständnis für russische Positionen oder gar eigenständige russlandpolitische Initiativen aus Berlin tiefes Misstrauen in Washington wecken (zur Not müssen auch Deutschlandphobien in Ostmitteleuropa als Instrument herhalten). Dieses Umfeld engt den Bewegungsspielraum deutscher Außenpolitik erheblich ein, und besonders die Russlandpolitik wird auf absehbare Zeit zum Balanceakt. Eine gründliche Bestandsaufnahme, die auch vor der Doktrin der traditionellen und deshalb bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber den USA nicht haltmacht, ist überfällig. Aussicht auf Realisierung hat der Versuch der Emanzipation von amerikanischer Interessenpolitik jedoch nur im Rahmen der GASP. Es wäre unpolitisch und mit hohen Opportunitätskosten belastet, hier auf einen spontanen Konsens mit den EU-Partnern über nicht-kosmetische Korrekturen – auch an den transatlantischen Beziehungen – zu warten. Mehr Selbstbewusstsein bei der Entwicklung deutscher Initiativen sollte angesichts der Erfahrungen und Leistungen deutscher Europapolitik nach 1989 als zulässig angesehen werden.

Optionen deutscher Russlandpolitik


Bis heute bleibt deutsche Russlandpolitik jedoch in einer zur Routine erstarrten Rhetorik gefangen, die möglichst wenig Aufsehen erregen will. Die beflissene Bestätigung der "Unentbehrlichkeit Russlands bei der Lösung internationaler Konflikte" hat sich verbraucht, und die Verurteilung von Verstößen gegen die mit dem Beitritt Russlands zur Charta des Europarats übernommenen Verpflichtungen wird im Kreml locker zu den Akten genommen. Natürlich müssen die Verhandlungen mit den russischen Machteliten zur Konkretisierung der Modernisierungspartnerschaft weiter geführt werden, und dies nicht nur im Rahmen von Routinegesprächen. Die Deblockierung anhaltender Versteifungen oder gar ein Paradigmenwechsel in der russischen Politik sind jedoch nur durch die Einbeziehung der aufgeklärten Öffentlichkeit in Russland zu erreichen. Darauf heute zu verzichten, würde Resignation gegenüber systematischem Bluff aus Moskau bedeuten und als Einladung zur Fortsetzung der anmaßenden Rhetorik und der Re-Ideologisierung der russischen Außenpolitik interpretiert. Grundsätzlich gilt, dass ideologische Kampagnen (z. B. das Bestehen auf Anerkennung europäischer Werte) kaum praktische, politische Wirkung erzielen. Andererseits wirken lyrische Formeln, wie "Russland in Europa einbinden" auf Dauer lähmend. Mehr Aussicht auf Erfolg hat eine Diskussion auf der Ebene pragmatischer Überlegungen: Nachfragen, wie denn die Zuversicht der russischen Führung, auf dem richtigen Weg zu sein, begründet sei und Hinweise auf den mit ihrer Politik verbundenen Verlust an internationalem Prestige und Vertrauen in die Vertragstreue einer russischen Retro-Großmacht können vom Kreml nicht ohne weiteres unter dem Tisch gehalten werden. Die politische Klasse und eine erweiterte Öffentlichkeit offen mit den Kosten der von der Putin-Administration und ihrer "Partei der Macht" betriebenen Politik zu konfrontieren, hieße den notorischen Vorwurf der "Einmischung in innere Verhältnisse" zu neutralisieren, sofern dies als Ausdruck des legitimen Eigeninteresses der europäischer Partner am Erfolg einer kooperativen Modernisierung formuliert wird. "Russland zu einer führenden Industrienation machen" – dieses hohe Ziel der Politik Putins ist nicht mit der Größe des Sozialprodukts, sondern durch dessen Struktur und Dynamik zu definieren. Hier kommen international vergleichbare Indikatoren zu Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft ins Spiel, mit denen sich auch mehrdimensionale Fragen zum Ranking Russlands beantworten lassen: Wie steht es um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Industrie, um die Leistungsfähigkeit von Forschung und Entwicklung, um das Investitionsklima, die soziale Mobilität, das Vertrauen der Bürger in die Funktionsfähigkeit der Institutionen des Staates usw.? Vergleichende, allgemein zugängliche Statistiken von UN, OECD und EU machen es leicht, Propagandaslogans zu entlarven und den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Kohäsion und politischer Stabilität zu veranschaulichen. In diesen Kategorien können und müssen die europäische und deutsche Außenpolitik argumentieren, wenn es um die Formulierung von Erwartungen an die russische Regierung geht. Wo die vitalen Interessen der EU betroffen sind, müssen andererseits politische, wirtschaftliche und rechtliche Vorkehrungen durchgesetzt bzw. beschleunigt werden, deren Realisierung durch EU-typische Abstimmungsprobleme und bürokratische Überlastung behindert oder durch Interessenkonflikte der in Russland engagierten Unternehmen kompliziert wird. Absoluten Vorrang verdienen hier das Energieprogramm 2020 und dessen Konzept der Entbündelung der Produktion und des Transports von Energie. Die Aufkündigung des nie ratifizierten Beitritts zur Energie-Charta der EU durch Russland und die kartellrechtlichen Ermittlungen der EU gegen Gazprom im Jahr 2012 können als Anhaltspunkte für die inakzeptablen Vorstellungen in Moskau von Kooperation in der Energiepolitik dienen. Die Gewährung der Visumsfreiheit für Bürger Russlands, die nach Deutschland einreisen wollen, spielte bei den Regierungsgesprächen in Moskau keine Rolle, obwohl sie seit jeher zu den zentralen Forderungen der russischen Seite, des Ostausschusses der Deutschen Wirtschaft, wie auch der politischen Stiftungen in Deutschland gehört. Grundsätzlich ist ein solcher Schritt positiv zu bewerten, auch wenn die erhofften positiven Effekte nur längerfristig eintreten können. In kurzer Frist müssen jedoch die Risiken einer Öffnung Europas gegenüber dem weithin rechtsfreien Milieu der russischen Wirtschaft beachtet werden. Schon im Vorfeld eines solchen Schritts müssen deshalb Kompetenz und Kapazitäten der deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden ausgebaut werden. Wünschenswert wäre andererseits ein großzügig dotiertes Programm, in dessen Rahmen sich Richter aller Ebenen aus Russland ein Bild von der Praxis der Rechtsprechung in Deutschland und Europa machen können. Es ist höchste Zeit, dem in der Kooperation mit Moskau vernachlässigten Aspekt der Rechtsstaatlichkeit ein höheres Maß an Aufmerksamkeit zu widmen. Schnelle Erfolge bei der Durchsetzung europäischer Standards in Russland sind freilich nicht zu erwarten. Die politische Glaubwürdigkeit erfordert deshalb auch in Zukunft ein gewisses Maß an Bereitschaft zum öffentlichen Konflikt mit den russischen Partnern. Die deutsche und europäische Politik sind alles andere als machtlos gegenüber den Zumutungen russischer Politik.

Fussnoten

(Professor Dr.) hat Sozialwissenschaften, Volkswirtschaft und Osteuropawissenschaften studiert. Derzeit ist er Associate Professor for European Security Studies an der Universität Amsterdam. Von 1976 bis 2000 war er Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln, danach bis 2006 Mitglied des Vorstands der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.