Am 12.06.2012 fand in Moskau der zweite »Marsch der Millionen« statt. Nach Angaben der Sicherheitskräfte hatte die von oppositionellen Organisationen veranstaltete Demonstration, die in Moskau vom Puschkin-Platz bis zum Sacharow-Prospekt verlief, 18.000 Teilnehmer, nach Angaben der Organisatoren waren es ca. 100.000. Auf der Abschlusskundgebung wurde ein »Manifest des freien Russlands« verabschiedet, das die Freilassung politischer Gefangener, reale politische Reformen, Zugang der Opposition zu den zentralen Fernsehsendern sowie vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen fordert. Mehrere Anführer der Oppositionsbewegung, darunter Ilja Jaschin, Aleksej Nawalnyj und Ksenja Sobtschak folgten einer Stunde vor Beginn der Demonstration den Vorladungen einer Untersuchungskommission, vor der sie bis kurz vor Ende der Demonstration als Zeugen der Ausschreitungen im Zuge der Demonstration am 6. Mai befragt wurden. Am Vortag hatte die Kommission Hausdurchsuchungen bei einem knappen Dutzend führender Oppositionsvertreter durchführen lassen. Im Kreml fand zeitgleich zur Demonstration eine feierliche Zeremonie im Rahmen des »Tags Russlands« statt. Präsident Wladimir Putin zeichnete dort mehrere Personen für ihre herausragenden Leistungen in Wissenschaft und Technologie, Literatur und Kunst sowie für gesellschaftliches Engagement aus. Indirekt ging er auf die Oppositionsveranstaltungen in mehreren russischen Städten ein und betonte den »Wert einer evolutionären, nachhaltigen Entwicklung. Nicht zulässig ist alles, was das Land schwächt, die Gesellschaft entzweit.«. Am 08.06.2012 hatte Präsident Putin ein verschärftes Gesetz zum Versammlungsrecht unterzeichnet, das direkt am Folgetag und damit vor dem zweiten »Marsch der Millionen« in Kraft getreten war. Nähere Informationen zu den Ereignissen im Umfeld der Demonstration finden sich in der Chronik am Ende der Ausgabe. Im Folgenden wird in Auszügen die Berichterstattung der großen russischen Tageszeitungen zu den Ereignissen widergegeben.
Staatlicher Fernsehsender »1. Kanal«, Abendnachrichten 12.06.2012, 21:00
Oppositionskundgebung in Moskau verlief ohne besondere Vorkommnisse
In Moskau fand eine weitere Oppositionsveranstaltung statt – unter dem Motto »Marsch der Millionen«. Die angemeldete Teilnehmerzahl lag bei 50.000, de facto nahmen, nach Angaben der Moskauer Abteilung des Innenministeriums, ca. 20.000 Menschen teil. Unter diesen waren Vertreter politischer Kräfte, jene, die soziale Forderungen aufstellten, und wieder andere, die sich einfach nur so anzogen, um die Aufmerksamkeit sofort auf sich zu lenken. […] Die Zusammensetzung der Teilnehmer war sehr bunt – von Aktivisten der Parteien »Jabloko«, »Gerechtes Russland« und der Kommunistischen Partei bis hin zu Anarchisten und Vertretern sexueller Minderheiten. Quelle: http://www.1tv.ru/news/polit/209313.
Iswestija (Moskau), 12.06.2012
Der »Marsch der Millionen« verlief ohne Überraschungen
Petr Kozlow Trotz der Erwartungen der Opposition kam es weder zur Anwendung des Versammlungsgesetz noch zu Provokationen und einem Anwachsen der Teilnehmerzahl am 12. Juni. Quelle: http://izvestia.ru/news/527277
Kommersant (Moskau), 12.06.2012
Marsch der moderaten Million
Grigorij Tumanow, Oleg Kaschin Gestern fand der zweite oppositionelle »Marsch der Millionen« in Moskau statt, der unterschiedlichen Angaben zufolge zwischen 18.000 und 40.000 Teilnehmer zusammenbrachte. Die Veranstaltung stellte sowohl die Organisatoren wie auch das Bürgermeisteramt der Hauptstadt zufrieden: trotz der Erwartungen eines radikal eingestellten Teils der Opposition und der Staatsmacht kam es, im Vergleich zur Protestaktion am 6. Mai, zu keinen Zusammenstößen mit der OMON [Spezialpolizei]. Einem Sprecher der Moskauer Regierung zufolge sorgten die jüngst verabschiedeten Änderungen im Gesetz »Über Versammlungen« für Ordnung. Quelle: http://kommersant.ru/doc/1957363
Rossijskaja Gaseta (Moskau), 13.06.2012
Vertrieben wurden weder die Wolken noch die Opposition
Konstantin Nowikov Schon gegen halb Eins war der Platz vor dem Kino »Puschkinskaja« praktisch mit »aufgebrachten« Städtern gefüllt. Die Organisatoren gingen konsequent und gleichzeitig sehr kreativ die Organisation des Marsches an. Die Linken – Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Trotzkisten – gingen auf der linken Boulevardseite. Die rechten, nationalistischen Bewegungen folgten dementsprechend auf der rechten Seite. In der Mitte gingen die »allgemeingesellschaftlichen Aktivisten«. […] Jede Protestveranstaltung der vergangenen sechs Monate zeichnete sich durch eine eigene Farbe aus. Anfangs dominierten die weißen Bändchen der »aufgebrachten Städter« und der »Wählerliga«. Zum damaligen Zeitpunkt war dies erklärbar: die Teilnehmer drückten ihre Unzufriedenheit mit den Ergebnissen der Dumawahlen aus. Am 6. Mai dominierte die Farbe Rot. Die Mehrheit der Teilnehmer des ersten »Marsches der Millionen« erschien mit roten Fahnen. Gestern wurde der sozialistische Protest erneut durch einen allgemeingesellschaftlichen Protest abgelöst. Fahnen gab es wenige, die übergroße Mehrheit kam ohne jegliche Symboliken. Anzumerken ist zudem, dass zum ersten Mal auch Studentenorganisationen an der Protestveranstaltung teilnahmen. Bisher trat die Studentenschaft nur im Rahmen der einen oder anderen politischen Partei oder Bewegung auf. Gestern kam sie in selbständigen Kolonnen. Quelle: http://rg.ru/2012/06/12/marsh-site.html
Komsomolskaja Prawda (Moskau), 12.06.2012
»Wir werden nicht nass, wir verzeihen nicht!«
Aleksandr Grischin Der Umzug der Bewegung der »Weißen Bändchen« wurde von den Organisatoren als Schlussakkord vor der großen Sommerpause geplant. Folglich musste der Akkord für die Veranstalter gewaltig und kraftvoll ausfallen, statt schwächlich und erloschen. Die Frage der Fragen drehte sich um die erwartete Teilnehmerzahl – beeinflussen die Gesetzänderung [mit verschärften Strafen bei Verstößen gegen das Versammlungsrecht] sowie die am Vortag erfolgten Hausdurchsuchungen bei den Anführern der Opposition die Teilnehmerzahl. […] Die Demonstration zeigte, dass es keine grundlegende Veränderung der Teilnehmerzahl gab. Es kamen wohl etwas weniger Teilnehmer als am 6. Mai zusammen, ca. 20.000 konnten die Organisatoren aber gewinnen. Dies bestätigt ein weiteres Mal die These der Existenz eines stabilen und aktiven Kerns Protestbereiter, der bleiben wird, was auch immer unternommen wird. Quelle: http://www.kp.ru/daily/25897/2856403/
Nowaja Gaseta (Moskau), 12.06.2012
Moskau. Nur ein Idiot mag denken, dass sich unsere Stadt einschüchtern lässt
Aleksej Polikowskij Es kommen jene Leute, die man durch die Verabschiedung des drakonischen Versammlungsgesetzes abschrecken wollte. Es kommen zehntausende Menschen, die man durch die Festnahmen von Aktivisten und die Vorladungen von Nawalnij und Udalzow vor das Untersuchungskomitee abschrecken wollte. Nur ein Idiot mag denken, dass sich Moskau hierdurch einschüchtern lässt. Nur der Taube und Blinde, ohne Gespür für die Zeit, die die Uhr der Geschichte zeigt, mag denken, dass sich das Schmelzen des Gletschers aufhalten lässt, die Transformation des Volkes in eine Gesellschaft und die Bereitschaft der Menschen, auf die Straße zu gehen. Quelle: http://www.novayagazeta.ru/politics/53034.html
Wedomosti (Moskau), 13.06.2012
In Putins Schneckenhaus
Andrej Kolesnikow Es besteht eine, in der öffentlichen Meinung klar formulierte, Nachfrage nach einem Dialog der Staatsmacht mit der Protestbewegung. Die erste Person im Staat verweigert sich diesem Dialog. Ein anderes Thema ist, ob die Opposition zu einer adäquaten Diskussion fähig wäre. Dem verworrenen Manifest nach zu urteilen, das die Opposition zum 12. Juni vorbereitet hatte, noch nicht: das Ausmaß des Realitätssinns spiegelt sich in der Überzeugung wider, ein freiwilliger Rücktritt Putins sei möglich. Für die Nachfrage der Gesellschaft steht also niemand bereit. Der »nationale Führer« zieht es vor, mit dem Genossen Cholmanskich [dem neuen Bevollmächtigten Vertreter des Präsidenten im Föderalbezirk Ural] und einer Fotografie Gandhis vor weißer Wand in Dialog zu treten. Putins Schneckenhaus schließt sich. Pro-forma bleiben Einrichtungen wie die »Agentur für Strategische Initiativen (ASI)« und die »Offene Regierung« erhalten. Die Opposition ist jedoch gezwungen, mit der OMON [Spezialpolizei] und den Untersuchungsbehörden in Dialog zu treten. Quelle: http://www.vedomosti.ru/opinion/news/1843111/rakovina_putina Zusammengestellt und übersetzt von Christoph Laug