Zusammenfassung:
Im System der kompetitiven Autokratie benötigt die herrschende Elitengruppe realen Rückhalt in der Bevölkerung, da sie sich nur so gegen konkurrierende Elitengruppen durchsetzen kann. Infolgedessen belohnte das Zentrum regionale Eliten Wahlerfolge für Putin und die Partei "Einiges Russland" mit erhöhten Transferzahlungen. Darauf reagierte die regionale Elite, indem sie die gewünschten Wahlergebnisse künstlich herbeiführte. Eine logische Antwort auf ein falsches Signal. Denn die Wahlfälschungen führten zu einer Abhängigkeit der föderalen von den regionalen Eliten und einer Gefährdung der realen Machtbasis.
Tschurow vs. Gauß
Auf der ersten Moskauer Demonstration gegen die Fälschung der Wahlen am 10. Dezember 2011 fielen zahlreiche Plakate auf, die sich an den Vorsitzenden der Zentralen Wahlkommission, Wladimir Tschurow, mit dem Appell wandten: »Hexenmeister, gib uns den Gauß zurück«. Diese Plakate bezogen sich auf Internetpublikationen von Sergej Schpilkin und seinem Kollegen aus Troizk, einem Vorort von Moskau. Diese hatten die offiziellen Zahlen der zentralen Wahlkommission zur Stimmverteilung der zur Wahl angetretenen Parteien in allen Wahlbezirken analysiert. Ihre Analyse zeigte, dass die Wahllokale sich nach den abgegebenen Stimmen bei allen Oppositionsparteien "normal" verteilten (d. h. dem Gauß’schen Gesetz der Normalverteilung entsprachen) – mit einem Maximum um den Mittelwert und ungefähr gleichen Anteilen an Wahllokalen, die von diesem Mittelwert in beide Richtungen abwichen. Dagegen erinnerte die Verteilungskurve bei der Partei "Einiges Russland" an eine Art Säge, mit einer starken Abweichung nach rechts und "Zähnen" um die runden Zahlen – 60 %, 65 %, 70 % usw. (für ausführlichere Informationen vgl. die Literaturhinweise). Außer zu Plakaten auf der Demonstration führten diese Veröffentlichungen zu einem Expertenseminar, das vom Internetportal Polit.ru organisiert wurde, um im Kreise von Spezialisten nüchtern zu klären, ob die Berechnungen richtig sind und wie das Ausmaß der Wahlfälschungen allgemein einzuschätzen sei. Die wesentlichen Ergebnisse der Diskussion: Manipulationen zum Vorteil der "Parteien der Macht" haben bei allen Wahlen seit 1996 stattgefunden, zu massiveren Fälschungen kam es jedoch nicht erst im vergangenen Jahr, sondern schon bei den Wahlen 2007–2008. Als Teilnehmer dieses Seminars kam mir schon damals die Frage, warum die herrschende föderale Elite dies nötig hatte. Dabei bezog sich diese Frage nicht auf 2011, sondern auf 2007.
Realer Rückhalt in kompetitiven Autokratien
An dieser Stelle lohnt sich ein kurzer Abstecher in die Theorie. Autoritäre Regime können auf Wahlfälschungen zurückgreifen, um sich gegenüber externen Akteuren einen Anschein von Legitimität zu geben. In der Realität stützen sie sich aber auf Armee und Polizeiapparat. So war es im Irak und in Libyen, so ist es weiterhin in Nordkorea, Belarus und auf Kuba. Das politische System in Russland zählt heute jedoch sichtlich zu einem anderen, "hybriden" Typ – der sogenannten »kompetitiven Autokratie«. Diese ist keine echte Demokratie, es finden aber Wahlen statt und es besteht eine Konkurrenz zwischen den Elitengruppen. Dies bedeutet, dass die herrschende Gruppe für ihren eigenen Machterhalt darauf angewiesen ist, einen massiven Rückhalt in der Wählerschaft auf sich zu vereinen und diese Unterstützung den anderen Elitengruppen zu demonstrieren. Ein massiver Rückhalt entsteht dann, wenn die herrschende Gruppe fähig ist, die zentralen Forderungen der Wähler aufzunehmen und zu befriedigen. In Russland ermöglichte es eben jener massenhafte Rückhalt (der sich durch eine hohe Zustimmung zu Wladimir Putin äußert und anfangs durch den Anstieg des Lebensstandards im Gefolge des wirtschaftlichen Wachstums nach der Krise von 1998 befördert wurde) der neuen föderalen Elite, in den 2000er Jahren das Organisationsmodell von Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern. Dies allein dem wirtschaftlichen Wachstum zuzuschreiben, wäre falsch. Die Staatsmacht reagierte auf die Nachfrage der Wähler. Sie schaffte Ordnung, drängte kriminelle Elemente aus Wirtschaft und Politik, erhöhte die Renten und Gehälter in staatlichen Einrichtungen sowie die Finanzierung des Bildungs- und Gesundheitssystems bei gleichzeitiger Beibehaltung der makroökonomischen Stabilität. Im Gegenzug stärkte Anfang der 2000er die Unterstützung der Wähler die Position der föderalen Elite gegenüber den Gouverneuren und Oligarchen. In diesem Zusammenhang war es vollkommen natürlich, dass bedeutende Mittel des Regierungsprogramms zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise 2008 nicht in die Realwirtschaft, sondern in den sozialen Bereich flossen. Dadurch hielten sich die Zustimmungswerte für Wladimir Putin und Dmitrij Medwedew im Herbst 2009 praktisch auf dem gleichen Niveau wie im Juni 2008. Das persönliche Rating einer Führungsperson oder die Stimmen, die die Regierungspartei in nachfolgenden Wahlen auf sich vereint, können aber nur dann ein effektives Druckmittel gegenüber anderen Elitengruppen sein, wenn die Unterstützung nicht erfunden, sondern real ist. Die Wahlen können durch Beschränkungen der Aktivität von Oppositionsparteien oder durch den Druck der Massenmedien auf die Wähler begleitet werden, für die Aufrechterhaltung der Kontrolle über die konkurrierenden Elitengruppen ist jedoch wichtig, dass die Wähler für die Regierungspartei stimmen und die Zustimmung zu deren Führungsperson real ist! Wladimir Putin konnte Ende 2004 nur deshalb die Direktwahl der Gouverneure abschaffen und die regionale Elite endgültig in seine »Vertikale der Macht« einbinden, weil bei den Wahlen 2003–2004 eine überwältigende Mehrheit tatsächlich für ihn und "Einiges Russland" gestimmt hatte.
»Ergebnisorientierte Finanzplanung«
Warum jedoch wurde im Jahr 2007, auf dem Höhepunkt des wirtschaftlichen Booms, diese reale Zustimmung durch Stimmfälschung und manipulierte Wahlprotokolle der territorialen Wahlkommissionen "gepanscht"? Meine Antwort mag paradox erscheinen, ich gehe aber davon aus, das dies ein Fehler war oder, genauer gesagt, ein falsches Signal. Hierbei geht es darum, dass die Mitte der 2000er errichtete "Vertikale der Macht" gesteuert werden musste. Eine schwierige Aufgabe, die irgendwie gelöst werden musste. Die Tätigkeit der föderalen Behörden wurde anhand des sogenannten Systems der ergebnisorientierten Finanzplanung geplant und bewertet. Für die Regionen wurde in der Kreml-Administration ein System ausgearbeitet und im Jahr 2005 durch einen speziellen Erlass des Präsidenten in Kraft gesetzt, das aus ca. 300 Bewertungskriterien bestand. Es stellte sich aber sehr bald heraus, dass man zwar die Gouverneure für die Nichteinhaltung irgendeines der Kriterien bestrafen konnte, dass man sie mit diesen Kriterien in der Praxis aber nicht steuern konnte. Aus diesem Grund wurden meiner Meinung nach die Wahlergebnisse der Regierungspartei in Gestalt von "Einiges Russland" zum zentralen Bewertungskriterium für die Tätigkeit der regionalen Führungen ausgewählt. Eine indirekte Bestätigung dieser These ergibt eine Analyse der Verteilungspolitik der föderalen Transferzahlungen in die Regionen in den 2000er Jahren, die aktuell an der Higher School of Economics gemeinsam mit Kollegen von der Columbia University (USA) durchgeführt wird. Diese Analyse hat gezeigt, dass der Umfang der Transferzahlung je Einwohner positiv mit dem regionalen Wahlergebnis für "Einiges Russland" bei den Wahlen im Jahr 2003 korreliert (siehe Tabelle 1). Ich nehme an, dass die Führungspersonen, die solch eine Entscheidung getroffen haben (und dies war offensichtlich kein Zufall) von folgender einfacher Logik ausgingen: Wenn die Menschen für "Einiges Russland" stimmen, bedeutet das, dass sie mit ihrem Leben zufrieden sind und die regionale Obrigkeit demzufolge gut arbeitet. Indem der Kreml die Transferzahlungen im Jahr 2007 in Abhängigkeit der Wahlergebnisse von 2003 verteilte, signalisierte er den Gouverneuren: Je besser eure Wähler stimmen, desto mehr Geld bekommt ihr aus dem Föderalhaushalt. (Übrigens: Die Ergebnisse der Dumawahlen 2007 wirkten sich tatsächlich positiv auf die Transferzahlungen 2008 aus – siehe Tabelle 2.)
Eigenlogik der "Vertikale der Macht"
Bei dieser einfachen logischen Konstruktion wurde jedoch ein wichtiger Faktor vernachlässigt. Im Kontext der "Vertikale der Macht" bildete sich ein riesiger bürokratischer Apparat heraus, der seine eigenen Interessen verfolgt und auf seine eigene Weise rational handelt. So kann die Reaktion darauf, dass die Wahl von "Einiges Russland" zum zentralen Bewertungskriterium der Regionalmacht wird, in zweierlei Weise ausfallen. Einerseits könnten der Gouverneur und sein Team sich ernsthaft den Problemen der Wähler widmen, was Zeit und Kraft kostet. Andererseits ermöglicht das Fehlen einer politischen Konkurrenz und einer externen Kontrolle der Aktivitäten der regionalen und lokalen Entscheidungsträger, auf das Signal aus dem Zentrum anders zu reagieren: nämlich einen geeigneten Vorsitzenden der Wahlkommission zu "installieren" und sich die notwendige Zahl an Stimmen durch Fälschung der Stimmabgabe oder Manipulation der Wahlprotokolle anzueignen. Es ist offensichtlich, dass die zweite Handlungsoption für die Gouverneure viel einfacher und günstiger war. Und so kam es schon bei den Parlamentswahlen 2007 (sowie bei den Präsidentschaftswahlen 2008) zu massiven Fälschungen der Wahlergebnisse. Diese lösten aber keine Massenproteste aus, da die Mehrheit der Wähler damals tatsächlich für die "Partei der Macht" gestimmt hatte. 2011 entwickelten sich die Ereignisse nach demselben Szenario – mit dem Einwurf zusätzlicher gefälschter Stimmzettel für "Einiges Russland" durch die regionalen Eliten. Doch angesichts der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation, der Zunahme sozialer Unsicherheit und der Ineffizienz der Partei "Einiges Russland", kam es zu massenhaften Protesten in Moskau und anderen Großstädten.
Kurskorrektur
Für das System der Staatsverwaltung ist meiner Ansicht nach jedoch wichtig, dass eine derartige Praxis unausweichlich zu einer Wiederherstellung der Abhängigkeit des föderalen Zentrums von den regionalen Eliten führt – wie dies in den 1990er Jahren der Fall war, als die "administrativen Ressourcen" der Gouverneure in Wahlphasen effektiv gegen föderale Transferzahlungen und Subventionen "eingetauscht" wurden. Brauchten Putin und seine Umgebung in den Jahren 2007–2008 sowie heute, im Jahr 2011, solch ein Ergebnis, nach all den Anstrengungen, die für die Installation loyaler Gouverneure aufgewendet wurden? Meiner Meinung nach nicht. Es handelt sich hierbei um einen Fehler der Polittechnologen des Kremls – ein Fehler, den die Staatsmacht offensichtlich schon eingesehen hat. Insbesondere die strenge Betonung einer Verbesserung des Investitionsklimas in den vergangenen Monaten weist auf einen Prioritätenwechsel bei der Bewertung der Regionalführungen hin. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Regierung und die Präsidialadministration in der neuen Legislaturperiode die Gouverneure nach der Geschwindigkeit der Investitionsanwerbung sowie dem Anstieg des Bruttoregionalproduktes bewerten – und sich somit an ein Modell annähern, das in China schon seit 30 Jahren praktiziert wird. Ähnliche Maßnahmen für föderale Behörden (mit Blick auf einfache Indikatoren der Studie Doing Business, die von der Weltbank durchgeführt wird) wurden im Februar von Wladimir Putin in seiner Rede vor dem russischen Unternehmerverband RSPP vorgeschlagen.
Reale Unterstützung des neuen/alten Präsidenten
Vor diesem Hintergrund kann man davon ausgehen, dass die Staatsführung bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 von sich aus bemüht ist, massive Manipulationen zu vermeiden. Dies ist für die Staatsmacht weniger wegen des Sieges über die Opposition bedeutsam (deren Anführer weder klare Programme noch ausreichende Unterstützung in der Bevölkerung haben), als vielmehr für die Wiederherstellung der Steuerungsfähigkeit des von Putin geschaffenen Systems der "Machtvertikale". Die vorläufigen Wahlergebnisse bestätigen diese These vollauf (siehe Tabelle 3). Offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission zufolge stimmten in Moskau 47 % der Wahlberechtigten für Wladimir Putin. Eine alternative Bewertung des Projekts "SMS-Digitale Wahlkommission" der Wählervereinigung "Golos – Stimme" (deren Einstellung gegenüber Wladimir Putin alles in allem als oppositionell angesehen wird) gibt einen Stimmenanteil von 45 % für Putin an – dabei erfassen die Berechnungen der unabhängigen Wahlbeobachter ungefähr 25 % aller Moskauer Wahlberechtigten. Bei den Angaben für Russland insgesamt sind die Unterschiede dagegen viel größer – nach offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission stimmten 64 % der Wahlberechtigten für Putin, der "SMS-Digitalen Wahlkommission" zufolge 51 %. Die Abdeckung des Abstimmungsprozesses durch unabhängige Wahlbeobachter war hier jedoch bedeutend geringer – es gab Beobachter für weniger als eine Million der fast 67 Millionen Wahlberechtigten außerhalb Moskaus. Zudem kann angenommen werden, dass unabhängige Wahlbeobachter häufiger in Wahllokalen jener Regionen und Siedlungen aktiv waren, in denen oppositionelle Einstellungen stärker waren. Die Abweichung lässt sich folglich unter anderem durch die Verzerrung der Auswahl der Wahllokale erklären, die im Rahmen des Projekts "SMS-Digitale Wahlkommission" beobachtet wurden. Anders gesagt, unter Berücksichtigung der angeführten Daten sollte auf keinen Fall der Schluss gezogen werden, dass bei den Präsidentschaftswahlen im März 2012 massive Fälschungen der Wahlergebnisse stattgefunden haben – wie dies im Dezember 2011 bei den Dumawahlen oder bei den Wahlen 2007–2008 der Fall war. Dieses Ergebnis stimmt mit der Logik der vorherigen Überlegungen überein: um die Kontrolle über die Eliten wiederherzustellen, musste Wladimir Putin als Präsident nachweisen, dass er über eine reale, massenhafte Unterstützung seitens der Wähler verfügt. Die Tatsache einer solchen Unterstützung lässt jedoch die Frage offen, wie Wladimir Putin und seine Administration in Zukunft handeln werden. Ob die Proteste der vergangenen Monate die Interaktionsmechanismen zwischen dem Staat auf der einen und Wirtschaft und Gesellschaft auf der anderen Seite geändert haben oder der Wahlsieg Putins als Argument zur Bewahrung der »Machtvertikale« und Unterdrückung der Opposition dienen wird, wird in den kommenden Monaten deutlich werden. Übersetzung: Christoph Laug
Dieser Artikel basiert auf Forschungsergebnissen des International Center for the Study of Institutions and Development, das im Rahmen des Programms zur Grundlagenforschung der Higher School of Economics unterstützt wird.
Lesetipp:
Sergej Schpilkin: Statisika issledovala wybory (Die Statistik hat die Wahl untersucht), vom 10. Dezember 2011, unter: http://www.gazeta.ru/science/2011/12/10_a_3922390.shtml.
O tschjom moshet skasat elektoralnaja statistika (Was kann die Wahlstatistik aussagen), Expertenseminar von Polit.ru am 20. Dezember 2011 unter: http://www.gazeta.ru/science/2011/12/10_a_3922390.shtml.