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Analyse: Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag? | Russland-Analysen | bpb.de

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Analyse: Kündigen die Bürger den Gesellschaftsvertrag?

Hans-Henning Schröder

/ 7 Minuten zu lesen

Mit den Moskauer Massendemonstrationen bricht die Bevölkerung mit ihrer jahrelangen Grundhaltung einer „resignativen“ Akzeptanz. Damit ist die politische Führung mit einer neuen Lage konfrontiert. Das politische Arrangement ist nicht tragbar. Nun muss ein neues organisiert werden, um eine Putin-Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen zustandezubringen.

Größte Demonstrationen seit dem Ende der Sowjetunion: Demonstranten protestieren gegen den vermeintlichen Wahlbetrug bei den Duma-Wahlen in Russland, Dezember 2012. (© AP)

Bolotnaja Ploschtschad

Am 10. Dezember 2011, sechs Tage nach den Dumawahlen versammelten sich mehrere 10.000 Bürger auf dem Bolotnaja-Ploschtschad, einem Platz nahe dem Zentrum Moskaus. Zu der Kundgebung war im Internet aufgerufen worden, die städtischen Behörden hatten sie erlaubt. Die Polizei gab die Zahl der Teilnehmer mit 25.000 an, die Organisatoren kamen auf 100–120.000. Eine konservative Schätzung von 40.000 Teilnehmern dürfte am ehesten der Wirklichkeit entsprechen. Diese Versammlung übertraf an Zahl jede Kundgebung gegen die politische Führung, die in Moskau seit 1993 stattgefunden hatte. Damals, im Oktober 1993 war eine Masse von Unterstützern des Obersten Sowjets den Gartenring hinaufgezogen, hatte gewaltsam die Polizeiketten gesprengt, die auf Anweisung Jelzins das Gebäude des damaligen Parlaments einschlossen, und das Parlament befreit. Die folgenden Unruhen veranlassten die Streitkräfte zum Eingreifen. Die "Erschießung des russischen Parlaments" im Oktober 1993 beendete das Patt zwischen dem Präsidenten und dem Obersten Sowjet und führte zu der Verfassung von 1993, mit einem übermächtigen Präsidenten und einem schwachen Parlament, die bis heute gilt.Die Kundgebung am 10. Dezember 2011 war friedlich. Sowohl Demonstranten wie Staatsmacht scheuten den Einsatz von Gewalt. Doch sie war unzweifelhaft gegen das System Putin gerichtet – die Herrschaft eines Elitenkartells aus hohen Beamten, regionalen Machthabern und Hochfinanz, das durch die Person Putin personifiziert wird und die Partei "Einiges Russland" als politische Infrastruktur nutzt. Parolen wie "Russland ohne Putin" und "Gebt die ehrlichen Wahlen zurück" wurden von einer Menschenmenge skandiert, die sich aus Vertretern aller Gruppierungen von ganz links bis ganz recht zusammensetzte, und die einen Ausschnitt aus der heterogenen urbanen Mittelschicht darstellte, die sich in den letzten Jahren formiert hat.

Fälscher an der Arbeit

Der Zorn der Menge richtete sich gegen die Dumawahlen, die die dominante Partei "Einiges Russland" zwar geschwächt, ihr aber doch knapp die absolute Mehrheit in der Duma verschafft hatten [vgl. S. 12 u. 13]. 2011 hat die Administration das "Menü der Manipulation" (Schedler) voll ausgeschöpft. Sie hatte bereits im Vorfeld mögliche Wahlalternativen eingeschränkt, indem sie oppositionelle Gruppen nicht als Partei registrierte, sie hatte die freie Meinungsbildung beschnitten, indem sie Putin und Medwedew samt "Einiges Russland" in den elektronischen Medien nahezu eine Monopolstellung einräumte, sie hatte Druck auf Wähler ausgeübt und schließlich vielerorts ganz schamlos Abstimmungsergebnisse gefälscht. Vieles davon war in Russland an sich nicht ungewöhnlich. Beginnend mit der Wahl Jelzins zum Präsidenten im Jahre 1996 setzte die Führung ein breites Instrumentarium ein, um die Wähler zu manipulieren. In den Republiken des Nordkaukasus und an der Mittelwolga waren Wahlbeteiligungen von 90 % und mehr mit den entsprechenden Stimmanteilen für die hegemoniale Partei nicht ungewöhnlich [vgl. S. 15 u. 16; vgl. Russlandanalyse 152/2007].Ein Novum waren allerdings die Manipulationen in Moskau selbst. Das amtliche Endergebnis zeigt eine Reihe von Anomalien – u. a. eine erstaunlich hohe Wahlbeteiligung in einigen Moskauer Territorialwahlkreisen und starke Unterschiede zwischen den Wahlkreisen [vgl. S. 14]. Vergleicht man das Ergebnis der Dumawahlen von 2011 mit dem von 2007, so erkennt man eine ganze Reihe von Ungereimtheiten. Die plausibelste Erklärung dafür ist die Annahme, dass in einem Teil der Wahlbezirke direkt gefälscht worden ist. Diese Hypothese wird durch zahlreiche Zeugen bestätigt, die von Manipulationen mit Wahlscheinen berichten, von Mehrfachabstimmungen per "Karussell", wofür Studenten von Wahllokal zu Wahllokal gefahren wurden, von "wbros" (ballot stuffing), bei dem die Wahlkommission nach Abschluss des Wahlgangs die Stimmzettel von Nichtwählern selbst ausfüllte und in die Urne warf. Zugleich wurden die Webseiten kritischer Medien durch Ddos-Attacken (Distributed Denial of Service – Überlastung eines Servers durch eine Flut von Anfragen) lahmgelegt und die NGO GOLOS, die versuchte eine unabhängige Wahlbeobachtung zu organisieren, wurde durch die Staatsanwaltschaft unter Druck gesetzt.Es war dieses zynische Vorgehen der Obrigkeit in Moskau und anderen Städten, das das Fass zum Überlaufen brachte. Hatte die Bevölkerung die Manipulationen an der Peripherie des Landes in den vergangenen Jahren kritiklos hingenommen, so reagierte sie auf die Fälschungsaktionen in den urbanen Zentren mit überraschender Verve. Seit 18 Jahren war die Grundhaltung der Gesellschaft eine "resignative Akzeptanz" gewesen, nun kam es zu einem Politisierungsschub. Die latente Unzufriedenheit, die sich seit Beginn des Jahres 2011 in den Meinungsumfragen und dem Sinken der Ratings von Putin und Medwedew niedergeschlagen hatte, brach in einer Massenaktion hervor. Die Bevölkerung kündigte jenes Einvernehmen mit der Führung auf, das man ironisch als Putins Gesellschaftsvertrag bezeichnet: die Eliten lassen etwas von den Energieeinnahmen in die Bevölkerung hinuntersickern, dafür mischt sich diese nicht in Politik ein.

Die Reaktion der "Macht"

Mit der Kündigung des Gesellschaftsvertrags ergibt sich für "die Macht" – die Obrigkeit und das sie stützende Elitenkartell – eine neue Lage. Das politische Arrangement, auf dem das System seit 1999 basiert, trägt nicht mehr. Nun muss in aller Eile ein neues gezimmert werden, zudem eines, das es Putin ermöglicht, bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012 wiedergewählt zu werden.In den ersten Tagen hatte es den Vertretern "der Macht" allerdings die Sprache verschlagen. Weder von Präsident Dmitrij Medwedew noch von Ministerpräsident Wladimir Putin war in den ersten Tagen nach dem 10. Dezember etwas Überzeugendes in Bezug auf die neue Situation zu hören. Die Regierungszeitung "Rossijskaja gaseta" berichtete zwar über die Massendemonstration, enthielt sich aber der politischen Analyse.In der Woche nach dem Wahlsonntag hatten Präsident und Ministerpräsident noch nach dem alten Drehbuch das Wahlergebnis gepriesen und die Wahl für fair und frei erklärt. Die Kritik der Beobachtermission der OSZE hatte Medwedew etwas herablassend zurückgewiesen. Gegen die ersten Demonstrationen war die Polizei gewaltsam vorgegangen und hatte viele Teilnehmer festgenommen, die dann mit Arrest bestraft wurden – wie etwa der bekannte Blogger Alexej Nawalnyj. Bei einem Treffen mit Regionalvertretern der Partei, ging Ministerpräsident Putin immerhin auf die von Nawalnyj geprägte Formel, "Einiges Russland" sei die Partei der Gauner und Diebe, ein. Er erklärte am 6. Dezember: "Man sagt, dass die Partei der Macht eine Partei sei, die mit Diebstahl und Korruption verbunden ist. […] Das ist ein Klischee, das sich nicht auf eine konkrete politische Kraft bezieht, das ist das Klischee, das der Macht anhaftet, aber es ist wichtig, inwieweit die heutige Macht gegen diese negativen Erscheinungen ankämpft." Und er fügte immerhin hinzu: "Ich glaube, dass jede Partei, jede politische Kraft der Erneuerung bedarf, der ständigen Erneuerung und dass ein Instrument, ein Ort wie die Allrussische Nationale Front dabei hilft, dieses Problem zu lösen." Angesichts der Verachtung, die "Einiges Russland" weithin entgegengebracht wurde, und der Empörung über die kaum verdeckte Wahlfälschung, war dies eine wenig befriedigende Aussage. Offenbar hatte der Ministerpräsident zwei Tage nach den Wahlen den Ernst der Situation noch nicht erkannt.Wladislaw Surkow, seines Zeichens Erster Stellvertretender Leiter der Präsidialadministration und master mind hinter Parteien, Duma und Dumawahlen, hatte offenbar eine klarere Vorstellung davon, was sich gerade ereignete. In einem seiner seltenen Interviews erklärte er am 5. Dezember einerseits: "…die staatlichen Institutionen sind fest und stabil. Versuche, die Situation zum Wanken zu bringen und sie negativ und mit provokativem Ziel zu interpretieren, sind zum Fehlschlag verurteilt. Alles ist unter Kontrolle." Andererseits machte er deutlich, dass eine Restrukturierung des politischen Systems notwendig sei. Es gelte, eine liberale Massenpartei zu schaffen, und man müsse das politische System öffnen – geschlossene Systeme würden eher zu Instabilität neigen als offene – das sei der "zweite Hauptsatz der Thermodynamik".Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass sich zwei namhafte Personen zu Wort meldeten, die dem liberalen Lager zugerechnet werden: der Tycoon Michail Prochorow und der Exfinanzminister Alexej Kudrin. Prochorow war im Frühsommer mit dem Versuch gescheitert, die Partei "Rechte Sache" neu aufzustellen. Dieses – offenbar aus der Umgebung des Präsidenten angeregte – Projekt wurde auch durch einen Eingriff "der Macht" zum Scheitern gebracht. In seinem Blog erklärte Prochorow am Tag nach den Wahlen: "Es ist offensichtlich, dass die Legitimität der Macht insgesamt abgenommen hat. Und wenn sich nichts ändert, bricht die ganze Konstruktion zusammen." Nach den Massenkundgebungen am 10. Dezember kündigte er seine Kandidatur für das Präsidentenamt an. Alexej Kudrin äußerte sich in einem langen Interview mit der Tageszeitung "Wedomosti". Er kritisierte die Manipulationen bei den Wahlen und forderte Konsequenzen für die Verantwortlichen. Er machte auch deutlich, dass er sich die Mitarbeit in einer liberalen Partei vorstellen könne. Damit waren zwei wirtschaftsliberal orientierte Führungsfiguren hervorgetreten, die über genug politische und materielle Ressourcen verfügen, um die von Surkow angedachte liberale Partei kurzfristig aufzubauen.Während sich im demokratienahen Spektrum eine Alternative abzeichnet, ernannte Ministerpräsident Putin den 75-jährigen Stanislaw Goworuchin zum Leiter seines Wahlkampfstabs. Der bekannte, erzkonservative Filmregisseur genießt in weiten Teilen der Bevölkerung hohes Ansehen, da er als nicht korrumpierbar gilt. Offenbar geht es Putins Umgebung darum, eine Person herauszustellen, die das rechte Wählerspektrum anspricht, aber nicht mit Korruption und Gaunereien in Verbindung gebracht werden kann. Das lässt darauf schließen, dass der Präsidentschaftswahlkampf auf nationalpatriotische Parolen setzen und die Bevölkerungsteile rechts der Mitte ansprechen will. Ein "liberaler" Kandidat wie Prochorow könnte dann die eher bürgerlich-urbanen Protestwähler binden. Damit wären Ansätze für ein neues Politarrangement geschaffen, das nach den Präsidentenwahlen am 4. März 2012 weiter ausgebaut werden könnte.

Fussnoten

Hans-Henning Schröder lehrt am Osteuropa-Institut der Freien Universität in Berlin "Regionale Politikanalyse mit Schwerpunkt Osteuropa".